Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.ist bald nach des alten Schusters erstem betrübten Aufmerken schon das Necken und Herken und Foppen angegangen für ihn hier in Altershausen, ja, von damals an bis heute über sein siebenzigstes Jahr weg. Ach Fritz, ich meine doch, du hättest ihm nicht so mitgespielt wie alle ihr anderen! – Beim Rektor Schuster hat’s sich gezeigt, dass er nicht mehr mitgekonnt hat, und was er bis dahin gelernt hat, das hat er manchmal noch gewusst, aber nicht immer, und nach und nach immer weniger, als was die Wissenschaft anbetrifft. Neues zulernen hat er gar nicht gekonnt, und wenn ein Mensch Kummer darum gehabt hat und sein möglichstes getan hat, es zu ändern, so ist’s der gute alte Rektor Schuster gewesen! – Wir sind alle gewachsen mit den Jahren und er auch: mit dem Verständnis ist er nicht mehr gewachsen. Er hätte bald der Unterste nicht bloß auf der ersten Bank, sondern auch in der ganzen Schule sein müssen; aber der Rektor hat ihn auf seinem Platze sitzenlassen. Er ist keinen Morgen in die Schule gekommen, der gute alte Mann, ohne dass er seinem vordem Besten die Hand auf den Kopf legte und seinen kummervoll dazu schüttelte. Du hast es vielleicht gar nicht gehört, Fritz, dass er leider bald verstorben ist, euer alter Lehrer; und der andere, der nach ihm gekommen ist, den haben sie von euch hergeschickt, und er hat nichts von Ludchen Bock und seinem Unglück gewusst, als was ihm erzählt worden ist, und hat das richtige Mitleiden mit ihm nicht haben können, wie sein richtiger erster alter Lehrer. – Konfirmiert hat man ihn seinerzeit auch mit seinen Zeitkameraden, und die sind dann alle ihres Weges weitergegangen, jeder zu einem Geschäft, in die Lehre, aufs Feld oder wohl auch zu was Höherem. Mit meinem armen Jungen hat man das eine wie das andere wohl auch versucht, auch noch mit Strenge; aber wie heute hat er sich damals gegen alles gewehrt, wie er es nur noch konnte, mit Kinderweinen. Das haben eben, die es am besten mit ihm meinten, aber die Schlimmsten auch, nicht aushalten können, dass die Tränen ihm, dem großen unmündigen Kinde, so lose saßen… das Lachen aber gottlob auch nicht! Und weißt du, Fritz, das beides ist’s gewesen, was mich zu ihm gebracht hat für unser ganzes Leben, sein Weinen und sein Lachen! Ausdrücken kann ich es dir nicht, und ich weiß nicht, ob du mich verstehst; aber gewesen ist es so. Ich habe es an mir gehabt wie er mit dem Weinen und dem Lachen auf Erden, und mit ihm habe ich besonders mit weinen müssen, wenn er weinte, und mit lachen, wenn er lachte. Ich… habe aber nicht wie die anderen lachen können, wenn es weinte – es, das große ausgewachsene Kind… mein Kind, Fritz, mit dem ich heute noch lache und weine wie vor sechzig Jahren, Fritz.« –
XIV.
»Siehst du, wie ich es gesagt habe, er hat seine Uhr im Magen, und sie geht ganz genau und richtig«, sagte lächelnd Minchen Ahrens. »Da kommt er den Berg herunter und will nach Haus zum Essen.«
Geheimrat Feyerabend hob das Haupt, wie es aus einem Traume emporgerufen. Es kostete ihm einige Mühe, sich wieder zu überzeugen, dass er wirklich noch in dem gegenwärtigen Tage, in dem schönen Wetter, in der schönen Sonne von heute mit vorhanden sei. Das alte Weibchen an seiner Seite hatte ihn zu tief in eine Welt, in der auch er mal mitgespielt hatte, mit den anderen und mit ihr gegenwärtig gewesen war, hinuntergezogen! Und – es behielt den Zauberstab in seiner Hand, vertraulichst, zutraulichst, ohne die geringste Scheu und jeglichen Respekt vor den Lehr- und Hörsälen der Erdenwelt und am allerwenigsten vor den Wonneburgen der Walchen. –
Sie sahen die schwerfällige, wackelige Gestalt ihren Weg die Berglehne hinab zu sich herunter nehmen.
»Nicht fallen, Junge!« rief Minchen, und der Geheimrat sah seitwärts auf das verrunzelte Profil neben ihm, und wie aus weiter Ferne, von Lesbos her, kam es wie Zitherklang und verhaltenes Schluchzen:
»O süße Mutter,
Ich kann nicht weben;
Denn Herz und Finger
Vor Liebe beben –«
und mit dem Finger im Munde stand Ludchen Bock mit seinem Korb voll Tannzapfen am Arm, und Minchen Ahrens meinte, zu Fritz Feyerabend gewendet:
»Ja, siehst du, selbst seine Scheu vor dem fremden Mann, sein Respekt vor dir hält dagegen nicht stand, dass es Mittag wird und es Zeit ist, nach Hause zu gehen und an die Suppe zu denken. Nun weißt du was? Bis an die Stadt gehst du mit uns, das fällt keinem auf, und nachher gehst du nach dem Keller zu deinem Mittagessen, zu unserm kann ich dich mit dem besten Willen nicht einladen, auch – seinetwegen. Und wenn du dein Schläfchen gemacht hast, dann trinke Kaffee bei mir in unserm Garten. Du kennst ihn gewiss wieder. Es hat sich wenig drin verändert, seit du zum letztenmal da im Apfelbaum gesessen hast. Den freilich habe ich vor zwanzig Jahren schon abhauen lassen müssen; er war geborsten und zu lebensgefährlich für die Nachbarschaft, ich meine die Jungen, die nach dir über die Zäune gekommen sind, und für – ihn auch.«
»Du erzählst dann aber weiter.«
»Wenn du noch von ihm hören willst.«
»Von dir und ihm!«
Sie wickelte ihr Strickzeug zusammen und erhob sich von der Bank am Maienbronnen.
»Es haben so viele Doktors an ihm Anteil genommen: schade, dass du nicht früher gekommen bist! Vielleicht hättest du bessern Rat als die anderen gewusst. Jetzt ist es zu spät; – o Gott, wenn er mir heute, heute, jetzt aufwachte mit seinem gesunden Verstande!« … .
Sie wanderten nun den Weg, den der seltsame heutige Gast von Altershausen vorhin allein zum Maienborn heraufgekommen war, zusammen zurück. Das »Kind« bald vor, bald hinter den beiden »Erwachsenen«, doch immer auf der Seite des »Mannes vom Bahnhof und Mordmanns Brunnen«. Es schien sich zwingen zu wollen, keine Angst mehr vor diesem Fremden zu haben. Wer konnte wissen, was ihm doch vielleicht aufstieg in der verdunkelten Seele aus fernen, vergangenen, lichten Tagen?
Und sie studierten sich auf diesem Wege vom Maienborn herunter, beide einander, der Lebens- und Seelenklare und der Blöde. Der große Psychiater aber den armen Freund wahrlich nicht mehr auf seine Leibes- und Seelenheilkunst hin: das Heimweh nach der Jugend – nach dem Leben hatte den Greis nach Altershausen getrieben, und er musste es nur herausbringen, was Ludchen Bock dazu zu sagen hatte!
Auf dem Wege zur Stadt war das nicht zu erledigen; aber im Ratskeller, an der Wirtstafel schon wurde er sich klar darob. Selbst in Altershausen trat er da über die Schwelle der Traumwelt, in der er die letzten zwei Stunden durch am Maienborn gesessen hatte, in sein gewohntes Dabeisein an seinem Lebenstage zurück. Der Wirt vom Keller fragte höflich den »Herrn Doktor«, ob er einen interessanten Morgenspaziergang gemacht und wie er hiesige Gegend gefunden habe. Fritz Feyerabend bejahte das erstere und über das zweite konnte er sich auch nur lobend aussprechen. Ludchen Bock war bei der Beantwortung beider Fragen sehr beteiligt.
Geheimrat Dr. Friedrich