Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Kul­tur­ent­wi­cke­lung mit schwär­zes­tem Schnauz­bart, ro­tes­tem Rock, leuch­tends­tem Fe­der­busch, gel­bes­ter Wes­te, wei­ßes­ten Bein­klei­dern und – in Stie­feln, wie er sie ge­tra­gen hat­te und sie für die sei­ni­gen hal­ten konn­te, wenn er sich nicht an die sei­ner Vor­gän­ger hät­te er­in­nern müs­sen.

      »Gu­ten Abend, Kol­le­ge!«

      Er fuhr auf die un­ver­mu­te­te, höf­li­che, ja ach­tungs­vol­le An­re­de ein we­nig in sich zu­sam­men; aber schon ver­sam­mel­ten sie sich alle um ihn in der Blau­en Stu­be sei­nes Va­ter­hau­ses zu Al­ters­hau­sen – – die Pup­pen, die jetzt am Reich wa­ren und es fest­zu­hal­ten glaub­ten.

      Er hat­te sich über den Empfang nicht zu be­kla­gen; Kom­pli­men­te hat­te er zu er­wi­dern nach al­len Sei­ten hin und Bli­cke und Grü­ße, die wirk­lich vom Her­zen zu kom­men schie­nen; bis es plötz­lich aus dem un­ters­ten Ge­zweig der Tan­ne, hin­ter dem Noah­kas­ten her, kreisch­te: »Er hält sich ja gar nicht mehr auf den Bei­nen, der Alte. Darf ich Ih­nen mei­nen Arm bie­ten, Herr Ge­heim­rat?«

      Es war die Rute, die selbst­ver­ständ­lich beim Fes­te nicht feh­len durf­te und jetzt mit ei­nem in al­len sie­ben Far­ben des Pris­mas spie­len­den Ban­de um die Tail­le her­wa­ckel­te, die alte, scheuß­li­che, un­frucht­ba­re Me­gä­re, und grins­te: »Vom An­fang der Af­fen­ko­mö­die war­te ich auf Sie, Herr! Sind Sie end­lich da, um mir zu hel­fen, dem Ge­sin­del zu sa­gen, was es wert ist? Kri­tik, Kri­tik, Al­ter­s­kri­tik! Sa­gen Sie, zei­gen Sie durch und an sich sel­ber der jun­gen Nar­ren­welt, wor­auf alle ihre Herr­lich­keit hin­aus­läuft. Kom­men Sie, Ge­rip­pe – wurm­sti­chi­ger Klotz, las­sen Sie sich be­se­hen – von al­len Sei­ten, von dem To­ren­volk auf sei­ne ver­gäng­li­che Far­ben­pracht hin be­se­hen. Be­ge­hen, fei­ern Sie jetzt die wirk­lich schöns­te Stun­de Ihres Da­seins, ma­chen Sie es der Kra­pü­le von heu­te deut­lich, was Sie Ih­rer Zeit wert ge­we­sen sind: ich stel­le mich Ih­nen mit al­len mei­nen Rei­sern und Kräf­ten zur Ver­fü­gung, Herr Pro­fes­sor! Ver­wen­den Sie mich, wie und wo es Ih­nen be­liebt, Herr Dok­tor; es wird mich freu­en, da­durch in Er­fah­rung zu brin­gen, wie viel Gift und Gal­le sie durch Ihre sie­ben­zig Jah­re in sich hin­ein­ge­schluckt ha­ben. Se­hen Sie doch auch, wie ich nur Ihret­we­gen für die­se Nacht Toi­let­te ge­macht habe!«

      Ge­hei­mer Rat Pro­fes­sor Dr. Feyer­abend war’s, der als Nuss­knacker vom vo­ri­gen Jah­re doch für einen Au­gen­blick im­stan­de war, den rech­ten Arm von der ver­blass­ten gel­ben Hose los­zu­brin­gen und den re­gen­bo­gen­far­bi­gen Schlei­fen­zip­fel, der ihm un­ter die ab­ge­blät­ter­te Nase hin­ge­hal­ten wur­de, da­mit von sich weg­zu­schla­gen, und zwar mit ei­nem Kraft­wort aus der Wal­chen Won­ne­bur­gen: »Via, put­ta­nac­cia! und – ihr, Kin­der, jun­ges Volk, da ich noch da­bei­bin, so gönnt mir eure Ge­sell­schaft und nehmt mit mei­ner vor­lieb. Er­tragt noch für ein Vier­tel­stünd­chen den Al­ten mit sei­nen Ab­ge­braucht­hei­ten, Gril­len und Schrul­len. Gönnt mir mich noch einen Au­gen­blick un­ter euch!«

      Ein all­ge­mei­nes »Ah!« und lie­bens­wür­di­ges Zu­drän­gen ging durch die Ver­samm­lung in der Blau­en Stu­be. Ja, sie gönn­ten ihm sich un­ter sich – nein, sie wa­ren so­gar so lie­bens­wür­dig, sich ihm zu gön­nen – alle, alle, der gan­ze Weih­nacht­s­tisch: Bür­ger­li­ches Volk, Kriegs- und Hofleu­te, schö­ne und schöns­te Da­men in al­len Ko­stü­men der Pup­pen­stu­be und die gan­ze Me­na­ge­rie, wie sie Va­ter Noah mit in die Ar­che nahm, – alle, alle lie­bens­wür­dig, zärt­lich, im­mer zärt­li­cher, im­mer lie­bens­wür­di­ger.

      Was woll­te die Rute in dem glän­zen­den, duf­ten­den, leuch­ten­den Ge­drän­ge edels­ten Pup­pen­tums, das ihn um­gab, um­rausch­te, um­flüs­ter­te, ihn, den Nuss­knacker vom vo­ri­gen Jahr?

      »Hin­ter den Spie­gel, Po­panz!«, und mit ei­nem schril­len, zir­pen­den Schrei, wie ein Ha­des­geist aus der Odys­see, ent­schwirr­te die Bes­tie – »Kri­kri­kri­kri­ki-tiii­ik.« Sie ver­zog sich nach dem Wort aus dem Vol­ke, die Schön­ge­gür­te­te, und wur­de nicht mehr ge­se­hen bis auf einen Zip­fel des sie­ben­far­bi­gen Ban­des, der hin­ter dem Spie­gel­rah­men in der Blau­en Stu­be her­vor­hing, aus der Welt vor sech­zig Jah­ren stamm­te und – nur an müt­ter­li­che Lie­be und Sor­gen er­in­ner­te.

      Wie kam das jun­ge, süße, lo­cki­ge Kind in rosa Flor, das die Au­gen nicht nur nie­der­schla­gen, son­dern sie auch auf­ma­chen konn­te, him­mel­weit und him­mel­blau, an sei­ne Sei­te? Wie kam der Blu­men­strauß in das Knopf­loch sei­ner schä­bi­gen Husa­ren­ja­cke?

      »Ihr Lie­ben, Lie­ben, las­set mir Luft, ihr Lie­ben!« stam­mel­te Ge­heim­rat Feyer­abend. »Ihre Hand, Nach­fol­ger im Reich des Nüs­se­knackens! Lieb­chen, jun­ges Le­ben, las­sen Sie mir auch die Ih­ri­ge und mit bei­den die Ge­wiss­heit, dass die Welt nicht un­ter­geht, trotz des Kehr­be­sens, der mor­gen mei­ner war­tet!«…

      Ein Laut all­ge­mei­ner ent­rüs­te­ter Miss­bil­li­gung durch un­se­res Herr­gotts gan­ze Nürn­ber­ger-Tand-Schöp­fung – eine höf­li­che Ab­wei­sung des me­lan­cho­li­schen Worts, die so­gar aus dem Her­zen kam; denn selbst Püpp­chen eben aus der Schach­tel hat­te ein Ge­fühl, dass ihre Sa­che mit ver­han­delt wer­de, und flüs­ter­te dem Al­ten zu:

      »O nein, nein, nein! O bit­te, sa­gen Sie doch so was nicht! Bit­te, bit­te, Ex­zel­lenz!«

      Ein jun­ger Of­fi­zier, eben­falls neu aus der Schach­tel, der ihr zu­lä­chel­te, brach­te sie aber so­fort von dem be­trüb­li­chen The­ma ab und auf das im­mer Wich­tigs­te. Sie nahm sei­nen Arm, und auch alle üb­ri­gen hat­ten sich bald an dem Hel­den vom vo­ri­gen Jahr satt ge­se­hen. Zu­letzt hat­te er es ei­gent­lich nur noch mit sei­nem ju­gend­fri­schen, frischla­ckier­ten Er­satz­mann zu tun und – gott­lob! – er konn­te ihn an­lä­cheln mit herz­li­chem Wohl­wol­len und den bes­ten Wün­schen. Üb­ri­gens ist’s manch­mal gar nicht un­an­ge­nehm, ei­ner »Neu­welt« als Ge­s­penst zu er­schei­nen, wenn es nur »ganz in Stahl« ge­schieht, und der ver­brauch­te Nuss­knacker in der Blau­en Stu­be sei­nes Va­ter­hau­ses hat­te so eine Art von Ge­fühl da­von, als ob das au­gen­blick­lich der Fall sein kön­ne.

      Es war ja aber auch in der Blau­en Stu­be, und er war dar­in nicht die wis­sen­schaft­li­che Grö­ße sei­nes sie­ben­zigs­ten Ge­burts­ta­ges, son­dern nur der Nuss­knacker vom vo­ri­gen Jahr­gangs dem des jet­zi­gen ge­gen­über. Und, er wuss­te nicht, wie’s zu­ging, als Holz, wurm­sti­chi­ges Holz und Lack, bun­ten, aber ab­blät­tern­den, ver­blass­ten Lack fühl­te er sich noch, je­doch sei­ne Glied­ma­ßen hat­te er sämt­lich wie­der zu frei­er Ver­fü­gung. Er konn­te sei­nem Nach­fol­ger die Hand auf die Schul­ter le­gen und ihn freund­lich auf den Glanz der frisch fun­keln­den Epau­let­ten klop­fen:

      »Über­win­den Sie Ihr Miss­be­ha­gen über mei­ne Ge­gen­wart bei Ihrem Fes­te, lie­ber Kol­le­ge! Ich habe Ihren au­gen­blick­li­chen see­li­schen Misch­masch von Tri­umph und Kat­zen­jam­mer eben­falls in mei­nen Da­seins­no­ti­zen. Ich gehe und Sie kom­men – wir wer­den nicht alle! Ich habe mei­ne Freu­de an Ih­nen, Kol­le­ge, also las­sen Sie auch mir mei­ne so ver­gäng­lich ge­we­se­nen Ge­nug­tu­un­gen! Sie ma­chen ein Ge­sicht, als ob Sie glaub­ten, ich scher­ze bos­haft; aber wirk­lich, es wür­de mir eine post­hu­me größ­te Ge­nug­tu­ung sein, wenn es Ih­nen ge­lin­gen wür­de, alle durch mich ge­täusch­ten Er­war­tun­gen


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