Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Haus am besten aufgehoben ist, aber anderswo, und wo sie es noch so gut mit ihm meinen, nur Heimweh, Angst und Elend leidet. Ach, Herr Geheim – Fritz, es ist ja was ganz anderes, aber doch war es so grade mit ihm oder doch was Ähnliches. Da sie ihn nicht anders machen und ihm helfen konnten, war es das einzige und beste, dass sie ihn da ließen, wo er zu Hause war, und bei mir. Da kommt er!«…
Ja, da kam es: durch den Hochwald, die Berglehne herunter, mit seinem Korbe am Arm – das unbeholfene greise Kind! Glückselig stolperte es her mit seiner Beute, von Baum zu Baum, von Stein zu Stein im Geröll, so rasch, dass Fritz Feyerabend fast erschreckt aufsprang und Minchen Ahrens wenigstens mahnte:
»Vorsichtig, Ludchen! nicht auf die Nase fallen, Junge!«
Aber er kam glücklich mit ungebrochenen siebenzigjährigen Gliedmaßen an beim Maienborn, dem Kinderbrunnen, und stutzte, wie er den »fremden Herrn vom Bahnhof und der vorigen Nacht« bei seiner Pflegerin sitzend fand, natürlich mit ähnlich flämisch-verdrießlichem Gesicht wie Geheimrat Feyerabend vor sechzig Jahren, wenn er aus der Schule nach Hause kam und statt des: »Alles steht auf dem Tisch« einen feinen Besuch vorfand, dem er vielleicht gar noch schön tun sollte.
Er konnte es wieder zeigen, Geheimrat Dr. Friedrich Feyerabend, dass er nicht nur durch der Walchen Wonnneburgen, sondern auch durch der Erde Krankenstuben, Spitäler und Lazarette geschritten war, und er zeigte es.
»Guten Morgen, Ludchen. Zeig mal deinen Korb. Donnerwetter, Junge, hast du aber das Holz ausgeräubert! Minchen, guck doch mal. Da braucht heute nach ihm kein anderer zu kommen und zu suchen! Meinst du nicht, Mädchen?«
»O Herr Geheimer –«
Er legte den Arm um sie und drückte sie sanft auf ihren Platz auf der Steinbank nieder. Neben ihr sitzend behielt er ihre Hand in der seinigen. Zum Strumpfstricken kam sie an diesem Morgen nicht mehr.
»Kennst du mich gar nicht mehr, Ludchen? ’s ist freilich ein bisschen lange her, seit wir zusammen beim Rektor Schuster in die Schule gingen; aber besinne dich nur: Kennst du Fritze Feyerabend nicht mehr, Ludchen? Na nun! nicht wahr? Jawohl, dein Freund Fritze Feyerabend bin ich! Mit den Karnickeln ließ dir deine Mutter mehr Freiheit als meine mir; aber einen richtigen Papierdrachen kriegtest du nicht zurecht wie ich, und steigen lassen konnte ich ihn auch besser als du. Na, so setze doch deinen Korb hin und sitze auch her zu Minchen und mir!«
Fürs erste wich er nur scheu ein paar Schritte zurück und drückte seinen Schwammkorb fester an sich. »Der Herre von gestern!« murmelte er.
»Der Herre vom Bahnhof und – von gestern Nacht – Minchen!« Das letzte Wort kam heraus, wie wenn ein Kind in Angst und Ratlosigkeit nach seiner Mutter ruft.
»Ja, Ludchen – Ludwig«, schluchzte Minchen Ahrens und fasste seinen Arm, »komm, sitze hin, du brauchst dich nicht zu fürchten: es ist der Herr von gestern und – von – von lange, lange vorher – o Gott!«
Nun war es eine Weile so still, dass sie den Brunnen unter sich jetzt bei Tage so laut hörten, wie er sich sonst dem Ohr wohl nur in der stillsten Nacht vernehmen ließ. Und dann war es Ludchen Bock, der die Unterhaltung aufnahm.
Mit einem scheuen Blick auf den fremden Herrn vom Bahnhof und Mordmanns Brunnen und mit dem Fingerknöchel im Augenwinkel schnuckte er:
»Ich habe es ihr ja schon gesagt, dass ich nichts dafür konnte, und ihr feste versprochen, dass ich es nicht wieder tun will. Deshalb brauchte doch keiner, ich weiß nicht wer, nicht wie damals zu kommen und mich mitnehmen wollen, da sie mir doch noch mal es vergeben hat!«
»Die vorige Nacht meint er und die schlechten Menschen, seine Verführer, Herr Geheim – Fritz, und dann, dass sie ihn zu seinem Besten von mir wegnehmen und in einer Anstalt haben unterbringen wollen. Das verwindet er bis zu seinem Tode nicht.«
»Habe ich jemals gepetzt? Beim Rektor Schuster oder sonstwo, Ludchen?« rief Geheimrat Feyerabend. »Hast du nur ein einzigmal durch mich die Prügel gekriegt, die du richtig verdient hattest, vom Rektor, von deiner Mutter, von deinem Vater und manchmal von ganz Altershausen?«
Noch ein kurzes, ängstliches Anstieren des Fremdlings, dann – ein breites, verständnisvolles Grinsen, das sich über das bartlose, kinderhafte Greisengesicht legte –
»Ne, Herre Fritze!« … … … … … … … …
Nun wurde nach und nach alles, was bis jetzt doch nur Schemen, Schatten, Gespenst, »Spukeding«, oder wie man es sonst nennen wollte, gewesen war, das, was so plötzlich wie da aus dem Maienborn unter ihnen aufgestiegen und aus fernster Vergangenheit wieder da war, greifbare Wirklichkeit. Mehr und mehr fingen sie, das alte Mädchen und das alte Kind, an, an den Wirklichen Geheimen Medizinalrat Professor Dr. Fritz Feyerabend zu glauben und ihn nicht nur für möglich, sondern sogar für gewiss zu nehmen. Aber nun trat etwas Absonderliches, aber doch Natürliches ein: je mehr Geheimrat Feyerabend sich in die Wirklichkeit und Greifbarkeit Altershausens von heute zu finden und zu vertiefen hatte, desto mehr musste er sich selber zum Schatten, zum Gespenst werden, und – er wurde es! So feierte er seinen siebzigsten Geburtstag zum anderen Mal: freilich ein ander Ding als neulich an der Jubiläumsfesttafel, wo man noch dabei war im schönen Wetter, im Sonnenschein der Tageslebendigkeit!…
Immer näher rückten sie sich trotz allem. Das Kind spielte um die beiden Verständigen und Vernünftigen her, und Minchen Ahrens gab von sich und Ludchen Bock und den letzten sechzig Jahren Bescheid, wie es sich so machte in Hin- und Widerrede, am Maienborn, auf dem Heimwege zur Stadt und unter ihrem lieben Dach.
Wenn ein Buch möglich wäre: »Mutter Deutschland und ihre Leute«, dürfte wohl auch von ihr ein wenig darin die Rede sein müssen.
XII.
»O Gott, was werden die Leute dazu sagen?«
»Die lassen wir ganz beiseite Minchen. Deren, die aus unserer Zeit sind, werden wohl nur noch wenige dasein, und die besuche ich auch vielleicht noch, wenn es sich tun lässt; doch jetzt bin ich nur bei dir und Ludchen Bock zu Besuch.«
»So sitze doch ruhig bei deinen Schwämmen, Junge! Sortiere sie hübsch auseinander, dass ich nachher nicht die Mühe damit habe. Was hast du denn, Ludchen?«
»Das ist Fritze Feyerabend nicht, Mädchen! Das ist der Herre vom Bahnhofe und von Mordmanns Brunnen. Fritze ist nur so alt wie du und ich, Minchen; und der da ist viel älter. Guck nur mal!«
»Geh hin und hol mir noch ein paar Tannzapfen zum Feueranmachen, Ludchen«, sagte die greise Kinderwärterin in das scheue, leise Geflüster hinein, und widerwillig, doch gehorsam gehorchte das Kind, immer über die Schulter und um die Baumstämme herum den Fremden so lange als