Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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      Die Pf­licht rief uns schon seit ge­rau­mer Zeit, wir hör­ten nur nicht dar­auf; jetzt aber fol­gen wir ih­rem Rufe und – ver­fü­gen uns in das Lamm zu­rück. Es ist aber auch die al­ler­höchs­te Zeit, denn von neu­em ge­winnt die Hoch­zeits­ge­sell­schaft aus dem Och­sen den Nei­dern aus dem Lamm Schritt für Schritt die Dorf­gas­se ab und dringt mäch­tig vor ge­gen das Lamm.

      Wäh­rend in ge­schil­der­ter Wei­se Freund Pechle sei­nem Ver­gnü­gen nach­ge­gan­gen war, hat­te sein Freund, der Baron Fer­di­nand von Ripp­gen, das Sei­ni­ge ge­tan und aus­ge­hal­ten, und das war ge­ra­de kein Ver­gnü­gen ge­we­sen. Wenn Herr Chri­stoph Pech­lin nur den Kopf in die Tür des Da­men­zim­mers im Lamm ge­steckt hat­te, so hat­te der Baron der drin­gen­den und grau­si­gen Not­wen­dig­keit um ein Be­deu­ten­des wei­ter nach­ge­ben müs­sen und war ein­ge­tre­ten. Ein­ge­tre­ten? Es lie­ße sich wahr­lich über den Aus­druck rech­ten! Hat­te er sich in das Ge­mach hin­ein­ge­scho­ben? Auch die­ses nicht; – er war ganz ein­fach hin­ein­ge­scho­ben wor­den, und zwar von ei­ner Macht, der noch nie ir­gend­je­mand in sei­nem Le­ben einen zu ei­nem rühm­li­chen Re­sul­tat füh­ren­den Wi­der­stand ent­ge­gen­ge­setzt hat.

      Und alle drei Da­men hat­ten ihn bei sei­nem Er­schei­nen so­fort ins Auge ge­fasst, und eine jeg­li­che hat­te einen an­de­ren Ton von sich ge­ge­ben! Ei­nen Schrei der Be­frie­di­gung hat­te Miss Vir­gi­ny hö­ren las­sen; Miss Chri­sta­bel Ed­dish hat­te mit ei­nem gluck­sen­den Laut sich zu ei­nem neu­en Krampf­an­fall in den Ar­men ih­rer treu­en Die­ne­rin zu­recht ge­legt; aber die gnä­di­ge Frau al­lein hat­te auf der Stel­le den rech­ten Ton ge­trof­fen und zwar in je­der Hin­sicht.

      Trotz Not, Angst und Schwä­chean­wand­lun­gen hat­te sie, die gnä­di­ge Frau, die Äu­ße­run­gen tiefs­ter see­li­scher Em­pö­rung in der künst­le­rischs­ten Wei­se ge­trof­fen. Ein Blick – ein ein­zi­ger Blick auf den Gat­ten, und sie stand eben­so auf dem rich­ti­gen und er­höh­ten Stand­punk­te wie drun­ten in der Dorf­gas­se Pechle, der Ex­stift­ler, zwi­schen dem Lamm und dem Och­sen. Der Baron hat­te die Tür noch nicht hin­ter sich zu­ge­zo­gen, als sein Weib be­reits den fes­tes­ten Fuß ihm ge­gen­über ge­fasst hat­te und ihn von der Höhe ih­rer Le­bens­an­schau­ung und vor al­len Din­gen von ih­rer An­schau­ung der ge­gen­wär­ti­gen Stun­de aus für al­les – al­les – al­les ver­ant­wort­lich mach­te, was ihr und ih­rer blas­sen Freun­din – Miss Vir­gi­ny gar nicht ein­mal mit in die Rech­nung ge­zo­gen – bis jetzt in Ho­hen­stau­fen be­geg­net war, und al­les – al­les, was ihr fer­ner­hin noch da­selbst pas­sie­ren konn­te!

      Es war fa­bel­haft, aber umso wah­rer: der Baron Fer­di­nand von Ripp­gen fühl­te sich bei dem ers­ten Blick sei­ner Gat­tin und dem ers­ten Blick auf sie durch und durch als Sün­der, und beug­te sein Haupt un­ter die Scha­le des Zor­nes, die über ihn aus­ge­gos­sen wur­de. Schau­dernd fühl­te er sich hin­ein in die wi­der­wär­ti­ge, die gräss­li­che Lage der Da­men und fass­te na­tür­lich sei­ne Schuld in ih­rer gan­zen ent­setz­li­chen, un­ver­zeih­li­chen Grö­ße. Schon ohne dass man ihn dar­auf auf­merk­sam mach­te, wuss­te er sich so­fort in sei­ner gan­zen Scheuß­lich­keit zu er­ken­nen, und dass man ihn doch noch auf die­sel­be auf­merk­sam mach­te, konn­te nur als eine un­ver­dien­te Güte von sei­ten der Da­men gel­ten.

      Was konn­te man von ei­nem sol­chen Man­ne er­war­ten? Wo wa­ren die Sei­ten an ihm, an die sich ein ed­les Weib und eine be­ben­de, hilfs­be­dürf­ti­ge Jung­frau leh­nen konn­ten, ohne be­fürch­ten zu müs­sen, mit ihm um­zu­fal­len?

      Es war gräss­lich und umso gräss­li­cher, je wil­der das Ge­schrei und der Schlacht­lärm drau­ßen vor den Fens­tern an­schwol­len, je mehr sich das Ge­tüm­mel dem Lamm nä­her­te, je dunk­ler die Nacht und je le­ben­di­ger die Fan­ta­sie wur­de.

      »So hilf doch! Tue et­was! Ret­te uns oder ver­schaff uns doch we­nigs­tens ein Ge­mach, wo wir nichts von die­sen Wil-den, die­sen Bar-ba-ren se­hen!« schrie die Baro­nin. »Wir ver­lan­gen gar nicht, dass du dich wei­ter um uns küm­merst; aber die­ses Brül­len und To­ben hal­te ich nicht län­ger aus und Chri­sta­bel auch nicht. Nennst du dich wirk­lich einen Mann, so zei­ge dich ein ein­zi­ges Mal als ein sol­cher und lass an­span­nen.«

      »Yes! Yes! An­span­nen! Ab­fah­ren!« wim­mer­te Miss Chri­sta­bel.

      »Lass an­span­nen und lass uns ab­fah­ren; ei­ner­lei wo­hin! wo­hin in die Nacht!… Fer­di­nand, ich be­feh­le dir, die Pfer­de kom­men zu las­sen. Es soll mir jetzt gleich­gül­tig sein, wo­hin du uns führst; aber fort will ich – will ich! Fort, nur fort aus die­ser Höl­le, die­sem Ab­grun­de von Bru­ta­li­tät!«

      »Ja, ja, Liebs­te, Bes­te, Gute – gern, gern – so­gleich auf der Stel­le! Ganz wie du be­fiehlst, mein Kind; aber – aber –«

      »Was aber? So steh doch nicht so dumm da! Mach fort; oder willst du auch in die­sem Mo­ment noch mit den üb­ri­gen un­ter ei­ner De­cke spie­len? Hörst du, du sollst an­span­nen las­sen; wir wol­len auf der Stel­le nach Stutt­gart zu­rück­fah­ren.«

      »Ge­wiss, Liebs­te, wol­len wir das; aber – Lu­cie, ihr habt ja sel­ber eu­ern Wa­gen nach Göp­pin­gen zu­rück­ge­schickt. Wo­her in al­ler Welt soll ich in jet­zi­ger Stun­de und un­ter die­sen Um­stän­den ein Ge­fährt – ein Fuhr­werk neh­men?«

      »Das ist dei­ne Sa­che. Du trägst die Schuld, dass wir uns hier be­fin­den, und du wirst au­gen­blick­lich da­für Sor­ge tra­gen, dass wir von hier weg­kom­men.«

      »Aber Lu­cie?! liebs­te Lu­cie?!«

      »Du stehst im­mer noch da? O Gott, Chri­sta­bel siehst du – siehst du ihn? O Chri­sta­bel, sieh ihn dir an!«

      Miss Chri­sta­bel Ed­dish war wirk­lich im­stan­de, sich den Baron Fer­di­nand von Ripp­gen noch ein­mal an­zu­se­hen. Dann aber schloss sie so­gleich von neu­em die Au­gen, fiel ih­rer Vir­gi­ny wo­mög­lich noch schwe­rer auf und in die Arme und hauch­te im Sin­ken:

      »Shocking! shocking!«

      »Das ist es! Schok­king ist es!« schrie die em­pör­te Gat­tin fun­ken­sprü­hend, »O, dass er eine Ah­nung da­von hät­te, wie ich über ihn den­ke! Ei­nen Wa­gen! Ei­nen Wa­gen – hörst du? Auf der Stel­le einen Wa­gen –«

      Es wir­bel­ten al­ler­lei fan­tas­ti­sche Fuhr­ge­le­gen­hei­ten durch das zer­rüt­te­te Ge­hirn des rat­lo­sen Frei­herrn. Er dach­te so­gar an die Mur­mel­tie­re, die sich zur Ern­te­zeit auf den Rücken le­gen, eine La­dung Win­ter­vor­rat zwi­schen die Pfo­ten neh­men und sich am Schwan­ze nach Hau­se zie­hen las­sen, und er hat­te Lust, die­se geist­rei­chen Tie­re zu be­nei­den. Er dach­te an einen Schub­kar­ren! Wenn Pechle schob, und er, des hei­li­gen rö­mi­schen Rei­ches vor­einst un­mit­tel­ba­rer Frei­herr sich vor­spann­te? Nein, nein, auch das war nur eine schö­ne Vor­stel­lung! Er dach­te an gar nichts mehr, das heißt, er such­te von neu­em durch Ver­nunft­grün­de zu wir­ken.

      »Mein teu­res Herz«, rief er, bei­de zit­tern­de Hän­de er­he­bend, »ich bit­te, ich be­schwö­re dich, zu über­le­gen! Glaubst du wirk­lich, dass ein Ein­ge­bo­re­ner die­ses Or­tes un­ter dem Ein­druck der au­gen­blick­lich herr­schen­den Stim­mung, sich her­bei­las­sen wer­de, ein Fuhr­werk, und sei es selbst nur einen Lei­ter­wa­gen zu be­span­nen und kühl und ru­hig nach Göp­pin­gen


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