Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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deu­te­te für sie an, dass sie vie­le au­ßer­bri­ti­sche Län­der und Men­schen ge­se­hen und die­sel­ben zu schät­zen ge­lernt hat­te, die üb­ri­gen ver­stei­ner­te es voll­stän­dig und den Freund Pechle am meis­ten.

      Seit Jahr­hun­der­ten exis­tier­te weit ver­zweigt durch das Land Schwa­ben die Fa­mi­lie Pech­lin. Sie hat­te im Krieg und Frie­den al­les er­lebt, was eine Fa­mi­lie ir­gend er­le­ben kann. Sie hat­te grö­ße­ren und klei­ne­ren Dy­nas­ten, den Gra­fen, den Her­zö­gen und den Kö­ni­gen von Würt­tem­berg auf alle mög­li­che Wei­se ge­dient. Sie hat­te auf Rats­her­ren­bän­ken frei­er Reichs­städ­te ge­ses­sen und vor den­sel­ben als Auf­rüh­rer ge­stan­den. Sie hat­te die Kan­zel, das Ka­the­der und den äu­ße­ren und in­ne­ren Feind ge­schla­gen. Wie das Wort, so hat­te sie die Fe­der und das Schwert ge­führt; aber noch nie hat­te ein Pechle – das ge­tan!

      Was?

      Ei­ner Dame die Hand ge­küsst!…

      Die Jahr­hun­der­te aber hat­ten in stil­ler und in lau­ter Wirk­sam­keit an die­sem großen Mo­men­te ge­ar­bei­tet, und nun war er vor­han­den. Noch einen kür­zes­ten Au­gen­blick stand Chri­stoph Pech­lin da – »blitz­dumm«; dann aber durch­zuck­te, eben­falls blitz­ar­tig, ihn die gan­ze Grö­ße der ge­gen­wär­ti­gen Mi­nu­te; er fühl­te sich, so­zu­sa­gen, als das letz­te sub­li­mier­tes­te Glied ei­ner che­mi­schen Rei­he, und wie ei­nem Er­trin­ken­den sein gan­zes vo­ri­ges Da­sein, so ging ihm noch dazu eine gan­ze auf den Fall ein­schla­gen­de Li­te­ra­tur durch den Sinn: er fass­te sich, sah sehr klug aus und fühl­te sich dem großen Mo­ment bis in die äu­ßers­te Ein­zel­heit hin­ein ge­wach­sen. Er nahm die Hand auf. Mit ei­nem Grin­sen, das jed­we­der Be­schrei­bung spot­tet, er­hob er die zar­ten, lan­gen, wei­ßen Fin­ger der ho­hen Jung­frau an sei­nen bär­ti­gen Mund, – er neig­te sich vor – er spitz­te die­sen Mund, wie Petz sei­ne Schnau­ze spitzt, wenn er eben im Be­griff ist, sie in die Spal­te ei­nes Ho­nig­bau­mes zu schie­ben, und rasch wie aus Ver­gan­gen­heit Zu­kunft wird und um­ge­kehrt, war auch hier die un­ge­heue­re Ge­gen­wart ver­flo­gen, war das, wor­an so vie­le ver­gan­ge­ne Jahr­hun­der­te ge­ar­bei­tet hat­ten, eben­falls Ver­gan­gen­heit ge­wor­den – – der Ers­te aus der Fa­mi­lie der Pech­lins hat­te ei­nem Wei­be die Hand ge­küsst!

      Eine Son­ne hät­te ei­gent­lich nicht ge­nügt, die große Tat­sa­che in das rech­te Licht zu stel­len, und doch be­leuch­te­ten nur die trü­be Öl­lam­pe der Wirts­stu­be zum Lamm und die qual­men­de Talg­ker­ze, wel­che der Baron Fer­di­nand von sei­nem Tanz­saa­le in schwan­ken­der Hand mit her­un­ter­ge­bracht hat­te, die er­staun­li­che Sze­ne. Und sie soll­ten noch Er­schüt­tern­de­res be­schei­nen! In die­sem Au­gen­blick, als Chri­stoph Pech­lin die Hand der eng­li­schen Jung­frau zu sei­nen Lip­pen er­hob, öff­ne­te sich wie­der­um die Tür: Sir Hugh Slid­de­ry er­schi­en auf der Schwel­le.

      Pechle stand dem Ein­tre­ten­den den Rücken zu­keh­rend; aber Miss Chri­sta­bel sah ihm, dem Baro­net, ins Ge­sicht. Ja, sie sah ihn – sie sah ihm ins Ge­sicht, und wie der Ka­pi­tän auf der Tür­schwel­le zu Stein wur­de, so ver­wan­del­te sie, in­mit­ten des Ge­ma­ches, sich in ein ähn­li­ches Ma­te­ri­al; aber nur, um so­fort mit ei­nem gel­len­den Schrei von neu­em flüs­sig zu wer­den. Sie kreisch­te, sie – sie riss die Hand krampf­haft dem Ex­stift­ler un­ter der Nase weg – sie griff mit bei­den Hän­den in die Luft, und bei­de Arme hat­te Herr Chri­stoph Pech­lin aus­zu­stre­cken, um die steif Um­fal­len­de auf­zu­fan­gen. Und Sir Hugh sah sie noch in die­sen schüt­zen­den, ret­ten­den Ar­men; dann aber hat­te er sich auch be­reits ge­wen­det und ent­floh zum zwei­ten Male in die­ser wahr­haf­ti­gen Ge­schich­te. Die Tür hin­ter sich zu­schla­gend ent­sprang er. Durch den Leib der Ba­va­ria war er ge­pol­tert, durch das Ge­drän­ge auf dem Haus­flur des Wirts­hau­ses zum Lamm in Ho­hen­stau­fen hat­te er mit Fäus­ten, Fü­ßen und Kni­en sich Bahn zu bre­chen, über die The­re­si­en­wie­se war er im hel­len, son­ni­gen, sü­ßen Mit­tags­lich­te ent­flo­hen; dies­mal stürz­te er in die Nacht, die dunkle, un­heim­li­che, ge­heim­nis­vol­le Nacht! Er stürz­te hin­ein: las­sen wir ihn stür­zen, und schlie­ßen wir die Lip­pen, sein und un­ser Ge­heim­nis für jetzt noch hin­ter den Zäh­nen zu­rück­hal­tend!

      Be­sin­nungs­los lag Chri­sta­bel in Chri­sto­phs Ar­men und der Baron und die Baro­nin von Ripp­gen stan­den und wuss­ten un­be­dingt nicht mehr als un­se­re Le­ser, was sie aus der Ge­schich­te ma­chen soll­ten. »Die einen wa­ren so dumm wie die an­de­ren«, sag­te nach­her Pechle; »aber ich« – – – Er hat den Satz nie zu Ende ge­führt, wenn er spä­ter sel­ber die Ge­schich­te er­zähl­te. –

      Das war eine ban­ge Nacht, wel­che Chri­sta­bel in Zu­ckun­gen, Miss Vir­gi­ny am Bet­te der Her­rin, die Baro­nin Lu­cie schlaf­los im Bet­te, der Baron auf ei­nem Stuh­le vor der Kam­mer­tür der Da­men ver­wim­mer­ten, und wel­che Chri­stoph Pechle auch im Bet­te und, nach ei­ni­gem stau­nen­den, ver­wirr­ten Hin- und Her­wen­den des Ta­ges und des Abends im Sinn – im tie­fen, un­ge­mein ge­sun­den Schla­fe, aber ein­sam auf dem wei­ten, öden Tanz­saal des Wirts­hau­ses zum Lamm in Ho­hen­stau­fen ver­brach­te.

      Wo­hin der eng­li­sche Ka­pi­tän, Sir Hugh Slid­de­ry, ent­schwun­den war, bleibt ein un­ge­lös­tes Rät­sel. Er hat­te den Ho­hen­stau­fen­schen Jüng­ling, der sein Ge­päck vom Och­sen und aus der Dorf­gas­se in das Lamm ge­schafft hat­te, noch ein­mal auf­ge­grif­fen, mit ihm eine kur­ze, atem­lo­se, von ei­ni­gen Grif­fen in den Geld­beu­tel be­glei­te­te Un­ter­hal­tung ge­habt und war ver­schwun­den.

      Er war ver­schwun­den, und der nächs­te Mor­gen fand kei­ne wei­te­re Spur mehr von ihm in Ho­hen­stau­fen, als den zer­schla­ge­nen Re­gen­schirm bri­ti­schen Fa­bri­ka­tes, der spä­ter un­ter den Cor­po­ri­bus de­lic­ti auf dem Ge­richt­s­ti­sche zu Göp­pin­gen kei­ne ge­rin­ge Rol­le spiel­te, auf die­sem Ge­richt­s­ti­sche, auf wel­chen Pechle die ent­brann­te Men­ge so un­be­schreib­lich rich­tig, sach­ge­mäß und see­len­kun­dig hin­ge­wie­sen hat­te. Der Schirm war vor­han­den; aber der Be­sit­zer fehl­te, und er fehl­te dem Obe­r­amts­rich­ter zu Göp­pin­gen nicht mehr, als wir ihn in die­ser drang­vol­len Nacht im Lamm zu Ho­hen­stau­fen ver­mis­sen; nach­dem wir sei­ne Ab­we­sen­heit zu Pro­to­koll ge­nom­men ha­ben, be­küm­mern wir uns, we­nigs­tens fürs ers­te, nicht mehr um ihn.

      Es war eine ban­ge, eine drang­vol­le Nacht! Die großen Kai­ser und Kai­se­r­in­nen von dem Berg­gip­fel über dem klei­nen Dor­fe moch­ten dann und wann ähn­li­che durch­ge­macht ha­ben, aber schlim­me­re ge­wiss nicht. Kon­ra­din hat­te si­cher­lich in der Nacht vor sei­ner Hin­rich­tung bes­ser ge­schla­fen, als der Baron Fer­di­nand von Ripp­gen auf sei­nem Stuh­le. Die Baro­nin zu al­len üb­ri­gen See­len- und Kör­per­qua­len von fie­bernds­ter Neu­gier in Hin­sicht auf den Ka­pi­tän Sir Hugh ge­plagt, wälz­te sich, wenn sie nicht auf­recht auf ih­rem Bet­te saß, auf dem­sel­ben; und Vir­gi­ny – o re­den wir nicht von der Un­glück­li­chen! Re­den wir lie­ber von Miss Chri­sta­bel.

      Miss Chri­sta­bel Ed­dish wand sich eben­falls auf ih­rem La­ger, wie es schi­en, in voll­stän­di­ger Be­wusst­lo­sig­keit, al­lein das schi­en in der Tat nur so. Zwi­schen ih­ren »Spas­men« über­leg­te sie, dach­te sie, schloss und – be­schloss sie; und wenn sie


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