Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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fass­te sich. Ein lei­ses Er­rö­ten über­zog ihre wachs­blei­chen Mie­nen, sie griff nach der Hand der Freun­din und dann – dann flüs­ter­te sie:

      »Lucy, wen­den wir uns – an den – den – den an­de­ren – Gent­le­man!«

      »An?… an wen?« frag­te Lu­cie von Ripp­gen schrill und in nicht ganz un­be­rech­tig­tem Er­star­ren.

      »O ja! an den an­de­ren Gent­le­man! Er wird die­ses ver­ste­hen. Er wird grö­ßer von uns den­ken, als wir von ihm. Er wird uns von hier weg­schaf­fen.«

      »Chri­sta­bel?«

      »Ja, ja! Er ist roh – ra­w, nein, nicht ra­w, er ist ru­de; aber er wird uns einen Wa­gen an­schaf­fen, er wird uns ret­ten.«

      »Der Un­hold?!«

      »Yes, der Dok­tor Pech – Pitch – Pit­sch­lin! Wir wer­den ster­ben ohne den an­de­ren Gent­le­man, Lucy. Lass dei­nen Mann ihn ru­fen, lass ihn her­kom­men.«

      »Wo ist die­ser – dein Herr Dok­tor Pech­lin?« wand­te sich die Baro­nin, ihre Schul­tern mit ei­nem Ruck zn­sam­men­zie­hend, kurz und schroff an den Gat­ten.

      »Bes­te, im Och­sen. Er hat seit län­ge­rer Zeit die­ses Haus ver­las­sen.«

      »Im Och­sen? Und du bist ihm nicht, an sei­nen Rock­schö­ßen hän­gend, dort­hin ge­folgt?«

      »Wir ha­ben zu­sam­men zu Abend ge­speist, und dann ist er fort­ge­gan­gen, um, wie er sag­te, ein we­nig an dem länd­li­chen Ver­gnü­gen teil­zu­neh­men. O er wird dar­an teil­neh­men! Ich bin fest über­zeugt, dass man ihn be­reits tot­ge­schla­gen hat.«

      Die gnä­di­ge Frau wand­te sich mit ei­nem neu­en Ach­sel­zu­cken von dem Gat­ten ab und mit ei­nem sehr fra­gen­den Bli­cke an die Freun­din:

      »Selbst die blo­ße Aus­sicht – die ge­rings­te Hoff­nung, dass es sich so ver­hal­te, könn­te mich die­se schreck­li­chen Stun­den er­tra­gen las­sen. Chri­sta­bel, wenn man ihn tot ge­prü­gelt hät­te?!«

      Auf die bri­ti­sche Jung­frau übte die­se Vor­stel­lung eine eben­so be­le­ben­de Wir­kung wie auf ihre Freun­din, und die Ro­man­tik der­sel­ben hob sie eben­falls einen Au­gen­blick über den Wunsch hin­weg, den Ex­stift­ler als kräf­ti­gen Schüt­zer in der Not ne­ben sich zu ha­ben. Doch in dem näm­li­chen Mo­ment traf der ers­te Stein das ers­te Fens­ter im Lamm; zer­split­ternd spran­gen die Scher­ben im Zim­mer um­her, wäh­rend das Wurf­ge­schoss dicht zu den Fü­ßen Miss Chri­sta­bels nie­der­roll­te.

      Das än­der­te die Sa­che. Mit ei­nem Ze­ter­ge­schrei stürz­ten sich alle drei Da­men, Miss Vir­gi­ny nicht aus­ge­schlos­sen, ein­an­der in die Arme und bil­de­ten die be­rühm­te Thor­wald­sen­sche Grup­pe der drei Gra­zi­en nach, je­doch mit Ge­sich­tern, die nicht lä­chel­ten. Um die Vor­trep­pe des Hau­ses wog­te der Kampf; nur der Kampf auf der Palas-Trep­pe des Kö­nigs Et­zel konn­te da­mit ver­gli­chen wer­den. Bur­gun­den und Hun­nen in An­griff und Ver­tei­di­gung wälz­ten sich auf und ab die stei­ner­nen Stu­fen, und der Baron Fer­di­nand rang die Hän­de, bis ihn sein Weib am lin­ken Obe­r­arm pack­te und gel­lend ihm zu­schrie:

      »So hole ihn! Schaf­fe ihn her die­sen – Herrn – Pech­lin! Lass ihn kom­men – dei­nen – Freund!«

      »Ja, ja, for hea­ven’s sa­ke, lass Sie kom­men her die Mr. Pit­ch­lin um des Him­mels wil­len!« rief Miss Chri­sta­bel Ed­dish, und der Baron, mit dem Mute der Verzweif­lung sich los­rei­ßend, stürz­te ge­gen die Tür, aus vol­lem Hal­se, doch un­ge­mein schrill, aufs Ge­ra­te­wohl ins Wei­te und in die wo­gen­den Hau­fen hin­ein­schrei­end:

      »Pechle!… Pechle!… Pechle!«

      »Hier!« brüll­te aus des Tu­mul­tes Mit­ten ein kräf­ti­ger Bass zu­rück und der Baron at­me­te tief auf.

      »Gott sei ge­dankt; er lebt noch!« Und ohne na­tür­lich im min­des­ten sich der Schluss­wor­te Tas­sos zu er­in­nern, rief er ihn, den Dok­tor Chri­stoph Pech­lin, von neu­em an und zwar noch durch­drin­gen­der:

      »Pechle! Pechle! Pechle!«

      »Ich kom­me im Au­gen­blick«, schall­te es zu­rück. »Nur einen Mo­ment! Jetzt scheint es mir Zeit zu wer­den, dem Lärm ein Ende zu ma­chen. Hol­la! Herr!… mei­ne Her­ren –«

      Der Haus­flur des Wirts­hau­ses zum Lamm war voll­ge­drängt von Men­schen und zwar von sehr er­bos­ten Men­schen. Ein dunkles Ge­wühl auf­ge­reg­ten Vol­kes be­deck­te den frei­en Platz vor dem Hau­se; das Ge­tö­se in­ner­halb und au­ßer­halb des Hau­ses war sinn­ver­wir­rend, und zwar nicht al­lein für die hal­b­ohn­mäch­ti­gen Da­men in der Ho­no­ra­tio­ren­stu­be: die Zeit und die Ge­le­gen­heit, eine Rede zu hal­ten, wa­ren da, und Pechle – Herr Chri­stoph Pech­lin aus Wal­den­buch im Schön­buch war eben­falls da.

      Er hat­te den eng­li­schen Baro­net sich nach die Vor­trep­pe des Lam­mes hin­auf­ge­schleift, und da stand er, um­drängt von den An­hän­gern des Lamms, und Sir Hugh Slid­de­ry hielt sich an ihm, wie der deut­sche Baron be­reits ei­ni­ge Male sich an ihm ge­hal­ten hat­te.

      Im vol­len Be­ha­gen, bei bes­ter Lau­ne, ganz und gar nicht tot­ge­prü­gelt, son­dern voll­kom­men le­ben­dig und bei gu­ten Kräf­ten schlug er bei­de Hän­de schüt­ternd auf die Brüs­tung der Trep­pe, lehn­te sich breit­brüs­tig vorn­über und don­ner­te aber­mals, sämt­li­che Re­gis­ter sei­ner Red­ner­be­fä­hi­gung zie­hend:

      »Hol­la! Him­mel­don­ner­wet­ter! Mei­ne Her­ren, i hab’s scho g’­sagt, i bitt ums Wort.«

      Und wie Zeus, der Va­ter der Göt­ter und der Men­schen, es, das heißt das Wort, je­des Mal in der Ver­samm­lung der Uns­terb­li­chen be­kam, wenn er es ernst­lich ver­lang­te, so er­hielt es jet­zo auch un­ser Freund Chri­stoph Pech­lin. Der Kon­trast zwi­schen der ur­plötz­lich ein­tre­ten­den Stil­le und dem vor­her­ge­hen­den Lärm war so groß, dass es in der Tat schi­en, als ob nicht bloß die Be­völ­ke­rung von Ho­hen­stau­fen und der Um­ge­gend, son­dern als ob Him­mel und Erde den Mund schlös­sen und den Atem an­hiel­ten, um zu hö­ren und zu er­fah­ren, was die­ser Mann da auf der Trep­pe zu sa­gen habe.

      Er hat­te im Grun­de we­nig zu sa­gen; al­lein er sag­te die­ses We­ni­ge mit dem ge­hö­ri­gen Nach­druck, wur­de je­der­mann ver­ständ­lich und sprach der Mehr­heit aus der See­le. Letz­te­res war die Haupt­sa­che, und ist die Haupt­sa­che für je­den Volks­red­ner, der nicht um­sonst sei­nen Atem ver­geu­den will.

      Von der Trep­pe des Lam­mes zu Ho­hen­stau­fen don­ner­te Pechle her­ab:

      »Ihr Her­re! Die mi ken­ne, die ken­ne i au, und die mi net ken­ne, die kenn i; also bitt i um a ge­fäl­li­ges G’hör, und nach­her mag jed­we­der tun und las­se, was er will. Aber das sag i, was i denk, und hab’s im­mer so g’hal­te: wann i ge­meint hab, ’s ischt g’­nug, so ischt’s ge­wöhn­lich g’­nug ge­we­se. Also es ischt mei­ne u’­maß­geb­li­che Mei­nung, dass es jetzt g’­nug ischt. Sei Ver­gnü­ge hat je­der g’habt, und nach­her wird’s wischt; also denk i, wir mä­ßi­ge uns! Wer z’erst an­fan­ge hat und wer recht hat, das kriegt man ja doch nim­mer ’raus, des muss i wis­se als Po­li­ti­ker und Schtaats­ma’; und nu las­se mer’s gut sei, und es geht a je­der zu­rück zu sei’m Schop­pe, und mor­ge früh geht ei’ je­der zu G’richt, der heut no net z’frie­de ischt; nacher kön­ne mer ja wei­ter


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