Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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durch Ihre Hart­nä­ckig­keit et­was zu er­rei­chen? Gera­de das Ge­gen­teil er­rei­chen Sie! Der Dok­tor bleibt nun erst recht!«

      »Ich er­in­ne­re mich«, sag­te der Pas­tor, »ei­nes Ta­ges, da Sie selbst mit die­sem Arzt nicht ganz zu­frie­den wa­ren. Es war Nacht, es stürm­te. Sie hat­ten um an­de­re Ärz­te ge­schickt und te­le­fo­niert, die nicht ka­men. Ihr sechs­jäh­ri­ger Bert­hold hat­te eine Ve­rei­te­rung des Mit­tel­ohrs, er wim­mer­te vor Schmer­zen. Es be­stand Le­bens­ge­fahr. Ich hol­te auf Ihre Bit­ten den Ge­fäng­nis­arzt. Er war be­trun­ken. Beim An­blick des ster­ben­den Kin­des ver­lor er den Rest sei­ner Be­sin­nung; er ver­wies auf sei­ne zit­tern­den Hän­de, die je­den chir­ur­gi­schen Ein­griff un­mög­lich mach­ten, und brach in Trä­nen aus.«

      »Der be­trun­ke­ne Schuft!«, mur­mel­te der Di­rek­tor, der plötz­lich fins­ter ge­wor­den war.

      »Ihr Bert­hold ist ge­ret­tet wor­den da­mals, durch einen an­de­ren Arzt. Aber was ein­mal ge­sch­ah, kann sich wie­der­ho­len. Sie rüh­men sich, kein Christ zu sein, Herr Di­rek­tor, trotz­dem sage ich Ih­nen: Gott lässt sei­ner nicht spot­ten!«

      Der Ge­fäng­nis­di­rek­tor sag­te mit Über­win­dung, ohne hoch­zu­se­hen: »Also ge­hen Sie jetzt, Herr Pas­tor.«

      »Und der Arzt?«

      »Ich will se­hen, was sich tun lässt.«

      »Ich dan­ke Ih­nen, Herr Di­rek­tor. Vie­le wer­den Ih­nen dan­ken.«

      Der Geist­li­che ging durch das Ge­fäng­nis, in sei­nem ab­ge­tra­ge­nen schwar­zen Rock, des­sen El­len­bo­gen grau schim­mer­ten, mit sei­nen aus­ge­beu­tel­ten schwar­zen Ho­sen, den dick­soh­li­gen, ge­fet­te­ten Schu­hen und der ver­rutsch­ten schwar­zen Bin­de, eine skur­ri­le Fi­gur. Man­che von den Wär­tern grüß­ten ihn, an­de­re wand­ten sich os­ten­ta­tiv bei sei­nem Na­hen um und späh­ten ihm dann arg­wöh­nisch nach, so­bald er vor­über war. Aber alle auf den Gän­gen be­schäf­tig­ten Ge­fan­ge­nen hat­ten einen Blick für ihn (da sie ihn nicht grü­ßen durf­ten), einen Blick vol­ler Dank­bar­keit.

      Der Geist­li­che geht durch vie­le Ei­sen­tü­ren, über ei­ser­ne Trep­pen, sich am ei­ser­nen Ge­län­der fest­hal­tend. Aus ei­ner Zel­le hört er Wei­nen, er bleibt einen Au­gen­blick ste­hen, schüt­telt dann aber den Kopf und geht ei­lig wei­ter. Er kommt durch einen ei­ser­nen Keller­gang, rechts und links gäh­nen die of­fe­nen Tü­ren der Dun­kel­zel­len, der Straf­zel­len, vor ihm brennt in ei­nem Rau­me Licht. Der Pas­tor bleibt ste­hen und sieht hin­ein.

      In dem häss­li­chen, schmut­zi­gen Raum sitzt an ei­nem Tisch ein Mann mit ei­nem grau­en, fins­te­ren Ge­sicht und starrt mit fi­schi­gen Au­gen auf sie­ben Män­ner, die, er­bärm­lich vor Käl­te zit­ternd, split­ter­nackt vor ihm ste­hen, un­ter der Auf­sicht von zwei Wacht­meis­tern.

      »Na, ihr mei­ne Hüb­schen!«, grölt der Mann. »Was wa­ckelt ihr denn so? Ein biss­chen kalt, wie? Oh, nicht doch, was Käl­te ist, das wer­det ihr erst er­le­ben, wenn ihr im Bun­ker sitzt, zwi­schen Ei­sen und Ze­ment, bei Was­ser und Brot …«

      Er un­ter­bricht sich. Er hat die schwei­gen­de, be­ob­ach­ten­de Ge­stalt in der Tür ge­se­hen.

      »Haupt­wacht­meis­ter«, be­fiehlt er mür­risch. »Füh­ren Sie die Leu­te ab! Alle ge­sund und dun­kelar­rest­fä­hig. Hier ha­ben Sie den Wisch!«

      Er hat sei­nen Na­men un­ter eine Lis­te ge­setzt und gibt sie dem Be­am­ten.

      Die Ge­fan­ge­nen ge­hen an dem Pas­tor vor­über, nicht ohne einen er­bar­mungs­wür­di­gen Blick auf ihn zu wer­fen, in dem doch schon eine lei­se Hoff­nung glimmt.

      Der Pas­tor war­tet, bis der Letz­te von ih­nen ver­schwun­den ist, dann erst tritt er ganz in den Raum und sagt lei­se: »Also 352 ist nun auch tot. Und ich hat­te Sie doch ge­be­ten …«

      »Was kann ich ma­chen, Pas­tor? Ich selbst habe heu­te zwei Stun­den bei dem Man­ne ge­ses­sen und ihm Um­schlä­ge ge­macht.«

      »Dann muss ich ge­schla­fen ha­ben. Ich glaub­te bis­her, ich hät­te die gan­ze Nacht bei 352 ge­ses­sen. Und es war auch mit sei­ner Lun­ge nichts, Herr Dok­tor, 357 hat­te eine Lun­gen­ent­zün­dung. Der tote Her­ge­sell auf 352 hat­te einen Schä­del­bruch.«

      »Sie soll­ten an mei­ner Stel­le hier Arzt sein«, sag­te der schwam­mi­ge Mann spöt­tisch. »Ich kann ja den Seel­sor­ger ma­chen.«

      »Ich fürch­te nur, Sie wür­den einen noch schlech­teren Seel­sor­ger ab­ge­ben als Arzt.«

      Der Dok­tor lach­te. »Wenn Sie frech wer­den, Pfäff­lein, lie­be ich Sie. Darf ich nicht ein­mal Ihre Lun­ge un­ter­su­chen?«

      Der Pas­tor sag­te un­be­irrt: »Nein, das dür­fen Sie nicht, das wol­len wir lie­ber ei­nem an­de­ren Arzt über­las­sen.«

      »Aber auch ohne Un­ter­su­chung kann ich Ih­nen mit­tei­len, dass Sie es kein Vier­tel­jahr mehr ma­chen wer­den«, fuhr der Arzt bos­haft fort. »Ich weiß, Sie wer­fen schon seit Mai Blut aus – nein, es wird nicht mehr lan­ge dau­ern bis zum ers­ten Blut­sturz.«

      Der Pas­tor war bei die­ser grau­sa­men Er­öff­nung viel­leicht einen Schat­ten blas­ser ge­wor­den, aber sei­ne Stim­me schwank­te nicht, als er sag­te: »Und wie viel Zeit wer­den die Leu­te, die Sie eben in Dun­kelar­rest ha­ben ab­füh­ren las­sen, bis zu ih­rem ers­ten Blut­sturz noch ha­ben, Herr Me­di­zi­nal­rat?«

      »Die Leu­te sind sämt­lich ge­sund und dun­kelar­rest­fä­hig – laut ärzt­li­chem Be­fund.«

      »Frei­lich sind sie gar nicht erst un­ter­sucht wor­den.«

      »Wol­len Sie mei­ne Amts­füh­rung kon­trol­lie­ren? Ich war­ne Sie! Ich weiß mehr von Ih­nen, als Sie glau­ben!«

      »Und mit mei­nem ers­ten Blut­sturz wird Ihr Wis­sen wert­los! Üb­ri­gens habe ich ihn schon hin­ter mir …«

      »Was? Was ha­ben Sie hin­ter sich?!«

      »Mei­nen ers­ten Blut­sturz – vor drei oder vier Ta­gen.«

      Der Arzt stand schwer­fäl­lig auf. »Also kom­men Sie mit mir, Pfäff­chen, ich wer­de Sie oben in mei­ner Bude un­ter­su­chen. Ich wer­de er­rei­chen, dass Sie so­fort Ur­laub be­kom­men. Wir wer­den einen An­trag ma­chen, dass Sie in die Schweiz dür­fen, und bis der be­wil­ligt ist, schi­cke ich Sie nach Thü­rin­gen.«

      Der Pas­tor, nach des­sen Arm der Halb­trun­ke­ne ge­grif­fen hat­te, stand un­be­weg­lich. »Und was wird un­ter­des mit den Män­nern im Dun­kelar­rest? Zwei von ih­nen sind be­stimmt nicht fä­hig, die Näs­se, die Käl­te und den Hun­ger dort zu er­tra­gen, und al­len sie­ben wür­de es dau­ern­den Scha­den tun.«

      Der Arzt ant­wor­te­te: »Sech­zig Pro­zent der Leu­te in die­sem Hau­se wer­den hin­ge­rich­tet. Ich schät­ze, dass min­des­tens fünf­und­drei­ßig Pro­zent der üb­ri­gen zu lang­jäh­ri­gen Zucht­haus­stra­fen ver­ur­teilt wer­den. Was kommt es also dar­auf an, ob sie ein Vier­tel­jahr frü­her oder spä­ter ster­ben?«

      »Da Sie so den­ken, ha­ben Sie kein Recht mehr, sich hier Arzt zu nen­nen. Tre­ten Sie von Ihrem Amt zu­rück!«

      »Der nach mir kommt, wird auch nicht an­ders sein. Wa­rum also än­dern?« Der Me­di­zi­nal­rat lach­te. »Kom­men Sie, Pas­tor, las­sen Sie sich un­ter­su­chen.


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