Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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hel­fen. Und plötz­lich kommt in ihre Erin­ne­rung der Lei­chen­kel­ler aus dem Ge­sta­po­bun­ker, der lan­ge SS-Mann, der sich eine Zi­ga­ret­te an­steck­te und zu ihr »Mä­del! Mä­del!« sag­te, ihr Su­chen zwi­schen den Lei­chen, nach­dem Anna und sie die tote Ber­ta ent­klei­det hat­ten – und es scheint ihr, als ob das da­mals noch eine mil­de, barm­her­zi­ge Stun­de war, als sie Kar­li su­chen durf­te. Und nun? Ein­ge­schlos­sen das zu­cken­de Herz zwi­schen Ei­sen und Stein! Al­lein!

      Die Tür wird ge­schlos­sen, viel lang­sa­mer und sach­ter, als es die Auf­se­he­rin­nen tun, nun klopft es gar: der Pas­tor.

      »Darf ich ein­tre­ten?«, fragt er.

      »Kom­men Sie bit­te, kom­men Sie doch, Herr Pas­tor!«, ruft Tru­del Her­ge­sell wei­nend.

      Wäh­rend die Frau Hän­sel mit ei­nem ge­häs­si­gen Blick mur­melt: »Was will der denn schon wie­der?«

      Und da lehnt Tru­del plötz­lich ih­ren Kopf ge­gen die schma­le, rasch at­men­de Brust des Geist­li­chen, ihre Trä­nen flie­ßen, sie ver­birgt das Ge­sicht an sei­ner Brust, und sie fleht: »Herr Pas­tor, mir ist so angst! Sie müs­sen mir hel­fen! Ich muss den Kar­li se­hen, nur ein­mal noch! Ich füh­le, es wird das letz­te Mal sein …«

      Und die grel­le Stim­me der Frau Hän­sel: »Das mel­de ich! Das mel­de ich aber so­fort!« Wäh­rend der Pas­tor ihr trös­tend über den Kopf streicht und sagt: »Ja, mein Kind, Sie sol­len ihn se­hen, ein­mal noch!«

      Da schüt­telt sie ein im­mer stär­ker wer­den­des Schluch­zen, und sie weiß, dass Kar­li tot ist, dass sie ihn nicht um­sonst im Lei­chen­kel­ler ge­sucht hat, dass es eine Vorah­nung war, eine War­nung.

      Und sie schreit: »Er ist tot! Herr Pas­tor, er ist tot!«

      Und er ant­wor­tet, er spen­det den ein­zi­gen Trost, den er die­sen Tod­ge­weih­ten spen­den kann, er sagt: »Kind, er lei­det nicht mehr. Du hast es schwe­rer.«

      Sie hört es noch. Sie will dar­über nach­den­ken, es rich­tig ver­ste­hen, aber es wird ihr dun­kel vor den Au­gen. Das Licht er­lischt. Ihr Kopf sinkt vorn­über.

      »Fas­sen Sie doch mit an, Frau Hän­sel!«, bit­tet der Pas­tor. »Ich bin zu schwach, sie zu hal­ten.«

      Und dann ist auch drau­ßen Nacht, Nacht zu Nacht, Dun­kel zu Dun­kel.

      Tru­del, ver­wit­we­te Her­ge­sell, ist auf­ge­wacht, und sie weiß, dass sie nicht in ih­rer Zel­le ist, und sie weiß wie­der, dass Kar­li tot ist. Sie sieht ihn wie­der lie­gen auf sei­ner schma­len Zel­len­prit­sche, mit dem so klein und jung ge­wor­de­nen Ge­sicht, und sie denkt an das Ge­sicht des Kin­des, das sie ge­bo­ren, und bei­de Ge­sich­ter ge­hen in­ein­an­der über, und sie weiß, dass sie al­les ver­lo­ren hat auf die­ser Welt, Kind und Mann, dass sie nie­mals wird lie­ben, nie wird Kin­der ge­bä­ren dür­fen, und al­les dies, weil sie für einen al­ten Mann eine Post­kar­te auf ein Fens­ter­brett ge­legt hat, dass dar­um ihr gan­zes Le­ben zer­bro­chen ist und das von Kar­li dazu und dass es nie wie­der Son­ne und Glück und Som­mer für sie ge­ben wird, und kei­ne Blu­men …

      Blu­men auf mein Grab, Blu­men auf dein Grab …

      Und bei dem un­ge­heu­ren Schmerz, der sich im­mer wei­ter in ihr aus­brei­tet, der sie durch­käl­tet wie Eis, schließt sie die Au­gen wie­der und will zu­rück in Nacht und Ver­ges­sen. Aber die Nacht ist drau­ßen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötz­lich durch­strömt Hit­ze sie … Sie springt mit ei­nem Schrei vom Bett auf und will fort, nur lau­fen, die­sem gräss­li­chen Schmerz ent­lau­fen. Aber eine Hand fasst nach ihr …

      Es wird hell, und wie­der ist es der Pas­tor, der bei ihr ge­ses­sen hat, der sie nun fest­hält. Ja, es ist eine frem­de Zel­le, es ist Kar­lis Zel­le, aber sie ha­ben ihn schon fort­ge­bracht, und der Mann, der hier mit Kar­li in der Zel­le lag, ist auch fort.

      »Wo ist er hin­ge­bracht?«, fragt sie atem­los, als sei sie einen wei­ten Weg ge­lau­fen.

      »Ich wer­de an sei­nem Gra­be mei­ne Ge­be­te spre­chen.«

      »Was hel­fen ihm jetzt noch Ihre Ge­be­te? Hät­ten Sie um sein Le­ben ge­be­tet, als noch Zeit da­für war!«

      »Er hat den Frie­den, Kind!«

      »Ich will hier fort!«, sagt Tru­del fie­ber­haft. »Bit­te, las­sen Sie mich zu­rück in mei­ne Zel­le, Herr Pas­tor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muss es se­hen, jetzt gleich. Er sah so an­ders aus.«

      Und wäh­rend sie so spricht, weiß sie sehr wohl, dass sie den gu­ten Pas­tor be­lügt und dass sie ihn be­trü­gen will. Denn sie be­sitzt kein Bild von Kar­li, und sie will nie wie­der in ihre Zel­le zu der Frau Hän­sel zu­rück.

      Und flüch­tig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahn­sin­nig, aber jetzt muss ich mich gut ver­stel­len, dass er es nicht merkt … Nur fünf Mi­nu­ten noch mei­nen Wahn­sinn ver­ste­cken!

      Der Pas­tor führt sie sorg­lich an sei­nem Arm aus der Zel­le über vie­le Gän­ge und Trep­pen in das Frau­en­ge­fäng­nis zu­rück, und aus vie­len Zel­len hört sie tie­fes At­men – die schla­fen – und aus an­de­ren rast­lo­se Schrit­te – die sor­gen sich – und wie­der aus an­de­ren Wei­nen – die tra­gen Leid, aber nie­mand trägt so viel Leid wie sie.

      Aber als der Pas­tor eine Tür auf- und hin­ter ihr wie­der ab­ge­schlos­sen hat, nimmt sie sei­nen Arm nicht wie­der, und schwei­gend ge­hen die bei­den wei­ter durch den nächt­li­chen Gang mit den Dun­kelar­rest­zel­len, aus de­nen der be­trun­ke­ne Arzt ge­gen sein Ver­spre­chen die bei­den Kran­ken nicht er­löst hat, und nun stei­gen sie vie­le Trep­pen im Frau­en­ge­fäng­nis hin­an bis zur Sta­ti­on V, wo die Tru­del liegt.

      Dort auf dem obers­ten Gang schlurft ih­nen eine Wär­te­rin ent­ge­gen und sagt: »Jetzt nachts um elf Uhr vier­zig brin­gen Sie erst die Her­ge­sell zu­rück, Herr Pas­tor? Wo wa­ren Sie denn so lan­ge mit ihr?«

      »Sie war vie­le Stun­den ohn­mäch­tig. Ihr Mann ist ge­stor­ben, wis­sen Sie.«

      »So – und da ha­ben Sie die jun­ge Frau also ge­trös­tet, Herr Pas­tor? Sehr hübsch! Die Frau Hän­sel hat mir er­zählt, sie soll Ih­nen ganz scham­los im­mer gleich um den Hals fal­len. Da muss solch nächt­li­ches Trös­ten be­son­ders hübsch sein! Ich wer­de das ins Wacht­buch schrei­ben!«

      Aber ehe der Pas­tor sich noch mit ei­nem Wort ge­gen die­se Schmut­ze­rei hat zur Wehr set­zen kön­nen, se­hen sie bei­de, dass Frau Tru­del, ver­wit­we­te Her­ge­sell, über das Ei­sen­git­ter des Gan­ges ge­klet­tert ist. Ei­nen Au­gen­blick steht sie da, hält sich noch mit ei­ner Hand am Ge­län­der fest, mit dem Rücken zu ih­nen.

      Und sie ru­fen: »Halt! Nein! Bit­te nicht!«

      Und sie stür­zen zu ihr hin, die Hän­de grei­fen schon nach ihr.

      Aber wie eine Schwim­me­rin, die einen Kopf­sprung ma­chen will, hat sich Tru­del Her­ge­sell schon in die Tie­fe ge­stürzt. Sie hö­ren ein Flat­tern und Sau­sen, ein dump­fes Auf­schla­gen.

      Und dann ist al­les to­ten­still, wäh­rend sie die blei­chen Ge­sich­ter über das Ge­län­der nei­gen und doch nichts se­hen.

      Dann ma­chen sie einen Schritt zur Trep­pe hin.

      Und in dem­sel­ben Au­gen­blick bricht die Höl­le los.

      Es ist, als sei’s durch die ei­sen­be­schla­ge­nen Zel­len­tü­ren zu se­hen ge­we­sen, was ge­sche­hen


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