Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.Sie ihn dadurch, dass Sie den Kraus und den kleinen Wendt aus dem Dunkelarrest holen. Sie überstehen ihn nicht lebend. Wir haben in den letzten beiden Wochen schon sieben Todesfälle durch Ihre Nachlässigkeit gehabt.«
»Sie Schmeichler! Aber ich kann Ihnen nun mal keinen Korb geben. Ich werde die beiden heute Abend rausholen. Jetzt gleich, nachdem ich eben meine Unterschrift gegeben habe, würde es doch etwas zu kompromittierend für mich aussehen, oder was meinen Sie, Pastor?«
60. Trudel Hergesell, geborene Baumann
Die Verlegung in das Untersuchungsgefängnis hatte Trudel Hergesell von Anna Quangel getrennt. Es wurde Trudel schwer, die »Mutter« entbehren zu müssen. Sie hatte längst vergessen, dass Anna der Grund ihrer Verhaftung gewesen war, nein, sie hatte es nicht vergessen, aber sie hatte es verziehen. Mehr noch, sie hatte eingesehen, dass es eigentlich auch nichts zu verzeihen gab. In diesen Verhören war niemand seiner ganz sicher, die gerissenen Kommissare konnten eine harmlose Erwähnung zu einer Schlinge machen, in der man sich rettungslos fing.
Nun war Trudel ohne die Mutter, sie hatte niemanden mehr, mit dem sie sprechen konnte. Von dem Glück, das sie einmal besessen, von der Sorge um Karli, die sie jetzt ganz erfüllte, musste sie schweigen. Ihre neue Zellengenossin war ein ältliches, gelbes Frauenzimmer – die beiden hatten sich vom ersten Augenblick gehasst, und immer hatte dieses Weib mit den Wärterinnen und Aufseherinnen zu tuscheln. War der Pastor in der Zelle, entging kein Wort ihrer Aufmerksamkeit.
Durch den Pastor hatte Trudel freilich doch etwas über ihren Karli erfahren. Frau Hänsel, ihre Zellengenossin, war gerade mal wieder vorne auf der Verwaltung, sicher, um irgendeinen Menschen durch ihre Klatschereien ins Unglück zu stürzen. Der Pastor hatte Trudel erzählt, dass ihr Mann mit ihr im gleichen Gefängnis sei, dass er aber krank liege, meist ohne klare Besinnung – immerhin könne er ihr aber einen Gruß von Karli ausrichten.
Seitdem lebte Trudel nur in der Hoffnung auf des Pfarrers Besuche. Wenn auch die Hänsel dabei war, immer brachte es der Geistliche fertig, ihr eine Nachricht zuzuschanzen. Oft saßen sie dabei unter dem Fenster, die Schemel eng aneinandergerückt, und der Pastor Lorenz las ihr ein Kapitel aus dem Neuen Testament vor, während die Hänsel meist an der anderen Zellenwand stand, den Blick aufmerksam auf die beiden gerichtet.
Für Trudel war die Bibel etwas ganz Neues. Sie war religionslos durch die Hitlerschulen gegangen, und sie hatte nie ein religiöses Bedürfnis gespürt. Gott war für sie kein Begriff, Gott war für sie nur ein Wort in Ausrufen wie: »Ach, du lieber Gott!« Man konnte ebenso gut »Ach, du lieber Himmel!«, sagen – es machte keinen Unterschied.
Auch jetzt, als sie aus dem Evangelium Matthäi vom Leben Christi erfuhr, sagte sie dem Pastor, sie könne sich darunter, dass er »Gottes Sohn« sei, nichts vorstellen. Aber der Pastor Lorenz hatte dazu nur sanft gelächelt und gemeint, das schade jetzt nichts. Sie solle nur darauf achten, wie dieser Jesus Christus auf der Erde gelebt habe, wie er die Menschen geliebt habe, auch seine Feinde. Die »Wunder« solle sie nehmen, wie sie wolle, als schöne Märchen, aber sie solle doch erfahren, wie einer auf dieser Erde gelebt habe, sodass seine Spur noch nach fast zweitausend Jahren unvergänglich strahle, ewiges Abbild dessen, dass die Liebe stärker sei als der Hass.
Trudel Hergesell, die ebenso kräftig hassen wie lieben konnte (und die beim Empfang dieser Lehre die Frau Hänsel in drei Metern Entfernung aus tiefstem Herzen hasste), die Trudel Hergesell hatte sich zuerst gegen eine solche Lehre aufgelehnt. Sie kam ihr gar zu weichlich vor. So war es nicht Jesus Christus, der ihr Herz empfänglicher machte, sondern sein Pastor Friedrich Lorenz. Wenn sie diesen Mann betrachtete, dessen schwere Krankheit niemand übersehen konnte, wenn sie erlebte, dass er an ihren Sorgen teilhatte, als seien es seine eigenen, dass er nie an sich selbst dachte, wenn sie seinen Mut erkannte, der ihr beim Lesen einen Zettel in die Hand spielte, auf dem eine Botschaft über Karli stand, und wenn sie ihn dann mit der Angeberin Hänsel genauso freundlich-gütig sprechen hörte wie mit ihr selbst, mit dieser Frau, von der er doch wusste, sie war zu jeder Minute fähig, ihn zu verraten, ihn dem Henker auszuliefern, so empfand sie etwas wie Glück, einen tiefen Frieden, der von diesem Manne ausging, der nicht hassen, sondern nur lieben wollte, auch noch den schlechtesten Menschen lieben.
Dieses neue Gefühl bewirkte nun freilich nicht in ihr, dass nun die Trudel Hergesell milder zur Hänsel geworden wäre, aber sie wurde ihr vielleicht gleichgültiger, der Hass war ihr nicht mehr so wichtig. Sie konnte manchmal auf ihren Wanderungen durch die Zelle plötzlich vor der Hänsel stehen bleiben und sie fragen: »Warum machen Sie das eigentlich? Warum verklatschen Sie jeden? Hoffen Sie eine geringere Strafe zu bekommen?«
Die Hänsel wendete bei einer solchen Ansprache den Blick ihrer gelben, bösen Augen nicht von Trudel ab. Entweder antwortete sie gar nichts, oder sie sagte: »Denken Sie denn, ich habe nicht gesehen, wie Sie Ihre Brust gegen den Arm vom Pastor gedrückt haben? So ’ne Gemeinheit, einen halbtoten Mann noch verführen zu wollen! Aber warte, ich erwisch euch beide noch mal! Ich erwisch euch!«
Bei was die Hänsel den Pastor und die Trudel Hergesell eigentlich erwischen wollte, blieb unklar. Trudel hatte für solche Schmähungen auch nur ein kurzes, spöttisches Auflachen und nahm dann wortlos ihre endlose Zellenwanderung wieder auf, immer mit dem Gedanken an Karli beschäftigt. Es war nicht zu verkennen, dass die Nachrichten über ihn stets schlechter wurden, so vorsichtig und schonend sie der Pastor auch abfasste. Wenn es etwa hieß, dass nichts Neues vorlag, da sein Zustand unverändert sei, so bedeutete das, dass Karli ihr keinen Gruß bestellt hatte, was wieder so zu verstehen war, dass er besinnungslos lag. Denn der Pastor log nicht, das hatte Trudel auch schon gelernt, er bestellte keinen Gruß, wenn ihm keiner aufgetragen war. Er verschmähte jeden billigen Trost, der sich eines Tages doch als Lüge entpuppen musste.
Aber auch durch die Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter wusste Trudel, dass es schlimm mit ihrem Manne stand. Nie wurde auf eine neuere Aussage von ihm Bezug genommen, über alles sollte sie Auskunft geben, und sie wusste doch wirklich nichts über den Koffer des elenden Grigoleit, der sie beide – willentlich? – ins Unglück gerissen hatte. Wenn die Vernehmungsmethoden des Untersuchungsrichters auch nicht so bodenlos gemein und brutal waren wie die des Kommissars Laub, die gleiche Hartnäckigkeit wie Laub hatte er auch. Trudel kam von diesen Sitzungen immer völlig erschöpft und mutlos in ihre Zelle zurück. Ach, Karli, Karli! Ihn nur einmal wiedersehen dürfen, an seinem Lager sitzen, seine Hand halten dürfen, ganz still, ohne ein Wort!
Es