Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Читать онлайн книгу.etwa Magda damals in meiner Betrunkenheit den Namen des Ausflugsortes genannt oder doch so auf ihn hingedeutet hatte, dass er unschwer zu erraten war – ich wusste es nicht mehr. Der zweite Herr kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, wohin ich ihn tun sollte …
Wieder hätte ich gerne etwas getrunken, die Kornflasche stand nahe genug vor mir, und doch wagte ich es nicht, vor den beiden Gästen am Nebentisch mir das Glas auch nur einmal vollzuschenken. Ich sagte mir wohl, dass angesichts dieses Tisches und meines wilden Benehmens vorhin nicht mehr das geringste zu verderben war, und doch wagte ich es nicht.
Schließlich betrat Elinor wieder den Schankraum. Ich rief sie zu mir und bat sie leise, die Zeche zu machen. Während sie auf einem Block viele Zahlen aufschrieb, gebückt vor mir stehend und mich dadurch gegen die Sicht vom Nebentisch deckend, schenkte ich mir erst zwei, drei Schnäpse ein, dann verkorkte ich die Flasche sorgfältig und schob sie in meine Aktentasche. Elinor warf einen raschen Blick auf mein Tun und flüsterte mit hochgezogenen Augenbrauen, zum Nebentisch deutend: »Freunde?« Ich zuckte nur die Achseln.
Die Rechnung war so hoch, dass ich mein Geld wirklich bis auf die letzte Mark hergeben musste und dass auch dann noch das Trinkgeld für Elinor höchst ungenügend ausgefallen war. Wieder sah sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und flüsterte: »Abgebrannt?«
Ich antwortete ebenso leise: »Ich weiß, wo es mehr gibt. Das nächste Mal, ma reine!« Wozu sie leicht nickte.
Ich musste jetzt aufstehen und gehen, unter den beobachtenden Blicken des Nebentisches. Ich fasste meine Aktentasche und vergewisserte mich durch einen musternden Blick, auf welchem Haken mein Hut hing, damit ich ihn beim Hinausgehen nicht unnötig suchen musste, und stand auf. Ich fühlte, es würde gehen. Ich musste mich langsam und sehr vorsichtig bewegen, dann würde es schon gehen. Schließlich brauchte ich nur vors Dorf und ins erste bergende Gebüsch zu kommen, ja, schließlich – genialer Einfall! – ich brauchte mich nur hier auf der Toilette einzuriegeln, und ich konnte schlafen, solange ich wollte. Frischen Proviant hatte ich ja bei mir.
Ich hatte zum Nebentisch, schon im Aufstehen, höflich »Guten Abend« gesagt, und nun war ich schon unter der Tür, einen Schritt entfernt von der Rettung, als hinter mir eine Stimme sagte: »Ach, einen Augenblick, Herr Sommer!«
Ich schrak so zusammen, dass ich fast gefallen wäre. »Wie bitte?«, rief ich unnötig laut.
Der Arzt hatte nach meinem Arm gegriffen und mich gehalten. »Habe ich Sie erschreckt? Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.«
»Ach, nichts, nichts«, sagte ich verlegen. »Es war wohl nur der elende Läufer, ich bin über ihn gestolpert …« Und ich sah böse auf den glatt daliegenden Teppich.
»Ich wollte Sie nur fragen, Herr Sommer«, fing Dr. Mansfeld wieder an, »ob ich Ihnen vielleicht anbieten darf, in meinem Auto mit uns heimzufahren?« Er machte eine Pause, dann sagte er lächelnd: »Wir haben ein bisschen gefeiert, nicht wahr? Nun, das macht nichts, das tut jeder von uns einmal gerne. Aber der Rückweg würde Ihnen vielleicht ein bisschen schwerfallen, was? Also, Sie fahren mit uns.« Er fasste mich freundlich, aber fest unter den Arm. Der andere Herr hatte unterdes bezahlt und trat nun zu uns. »Darf ich Sie bekannt machen?«, fuhr der Arzt fort. »Herr Sommer – Herr Medizinalrat Dr. Stiebing, unser Kreisarzt.« Damit führte er mich aus dem Lokal und auf das Auto zu. Ich aber folgte ihm wie ein Schaf seinem Schlächter. Der Kreisarzt!
Das war kein Zufall mehr, das war eine mir listig gestellte Falle! Verdammte Magda! Sie wollte mich reinlegen, sie handelte schnell, das musste ich zugeben. Aber auch ich war klug, ich musste mich verstellen, listig sein, Scharfsinn mit Scharfsinn übertrumpfen. »Nun«, lachte ich plötzlich heiter, »zwei Ärzte, die werden ja wohl mit einem armen Berauschten fertig werden, was? Machen Sie es gnädig mit mir, meine Herren!« Damit setzte ich mich hinten in den Wagen, während die beiden anderen Herren, ebenfalls lachend, vorn Platz nahmen.
Wir wollten schon losfahren, als Elinor aus dem Hause gelaufen kam. Sie trug in den Händen ein hässliches, in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Sie reichte es mir in den offenen Wagen. Laut sagte sie: »Das sind Ihre Schuhe, die Sie neulich nachts hier vergessen haben!« Höhnisch lachend sah sie mich mit ihrem weißen, großen Gesicht und den farblosen Augen an. Ihr Mund war sehr rot.
Nach einem betretenen Schweigen fragte der Arzt: »Können wir jetzt fahren?«
Ich antwortete: »Ja«, und der Wagen fuhr los.
12
Ich bin völlig außerstande, meine Stimmung während dieser Fahrt zu schildern. Abgrundtiefe Verzweiflung wechselte mit einer lähmenden Apathie, die mich selbst in diesem Zustande noch erschreckte. Es war, als läge ich in einem schweren Schreckenstraum gefangen, jeden Augenblick nahe dem Erwachen, und konnte doch nicht wach werden, geriet in immer tiefere, immer grausigere Schrecknisse. Neben mir auf dem Sitz lag das Paket mit den Schuhen, das Zeitungspapier hatte sich geöffnet, und ich sah sie da liegen, mit verwischtem Staub beschmutzt, eine Sohle sah mich an – einfach abscheulich. Abscheulich diese Tat der hübschen Elinor, würdig einer Königin des Schnapses.
›Ja‹, dachte ich, ›so narrt und quält der Alkohol seine Jünger. Solcher Überraschungen ist nur er fähig. Man meint, sicher zu sein, sich gut verstellt, das Schlimmste vermieden zu haben, und plötzlich steckt er seine grinsende Teufelsfratze hervor, zerfleischt mit seinen Klauen deine Brust, lässt dich erbeben, vernichtet deine Würde … La reine d’alcool – sehe ich dich je wieder, bekommst du keine gute Stunde mit mir, Elinor!‹
Ich hielt es nicht mehr aus. Mit einem Blick vergewisserte ich mich, dass die beiden Herren vor mir in ein eifriges Gespräch vertieft waren; ich zog die Flasche aus der Tasche, entkorkte sie vorsichtig und tat ein paar kräftige Schlucke. Aber ich hatte nicht an den Rückspiegel über dem Führersitz gedacht.
»Nicht zu viel jetzt und nicht zu hastig, mein lieber Herr Sommer«, sagte Dr. Mansfeld und hob vom Steuer eine mahnende Hand. »Wir hätten nachher gerne noch ein vernünftiges Wort mit Ihnen gesprochen!«
Dieser Schurke, dieser glatte medizinische Schurke! Jetzt, da er mich in seinem Wagen hatte, ließ er die Maske fallen: Nicht nach meinem Heim wurde ich gefahren, sondern zu einer ärztlichen Besprechung, bei der ganz zufällig auch der Medizinalrat als Kreisarzt zur Hand war!
Von da an war ich ganz ruhig und gesammelt. Der eben getrunkene Schnaps verlieh mir neue Kraft und Konzentration. Ich hatte ein festes Ziel vor Augen: diese Unterredung fürs Erste unter allen Umständen zu vereiteln. Später, unter für mich günstigeren Umständen, gerne, aber heute,