Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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als wolle er ihm wieder eins hinter die Ohren geben, aber er besann sich eines Bessern und hielt seine Hand zurück.

      »O Vater«, wimmerte Johnny, »ich habe doch gar nichts getan, ganz gewiß nicht, und hab mir soviel Mühe gegeben mit Sally und sie in den Schlaf gewiegt, o Vater.«

      »Ich wollte, mein kleines Frauchen käme nach Hause«, sagte Mr. Tetterby gerührt und ging in sich, »ich wünschte bloß, mein kleines Frauchen käme nach Hause, ich bin nicht imstande, mit dem Volk fertig zu werden. Es macht mir die Sinne wirbeln und wächst mir über den Kopf. O Johnny! Ist es nicht genug, daß deine liebe Mutter dir diese süße Schwester geschenkt hat?« Und er deutete auf den Moloch. »Ist es nicht genug, daß ihr zuerst sieben Jungen wart und keine Spur von einem Mädel dabei, und daß die Mutter all das durchgemacht, was sie, ach Gott ja, durchgemacht hat, bloß zu dem Zweck, damit ihr alle eine kleine Schwester haben möget? Und mußt du dich trotzdem jetzt so benehmen, daß mir's im Kopf wie ein Mühlrad herumgeht?«

      Mr. Tetterby wurde immer gerührter, je mehr sich seine und Johnnys gekränkten Gefühle Luft machten, und umarmte schließlich den Molochhüter, um sich gleich darauf auf die Jagd nach einem der wirklichen Missetäter zu begeben. Nach verhältnismäßig gutem Start und einer kurzen, aber heißen Jagd über beschwerliches Gelände unter und über Bettstellen hinweg und durch das Netzwerk der Stühle hindurch, erwischte er schließlich ein Kind, das er gebührend bestrafte und ins Bett schleppte. Dieses Beispiel übte eine gewaltige und, wie es schien, mesmerische Wirkung auf den Stiefelhelden aus, der augenblicklich in tiefen Schlaf verfiel, obwohl er einen Augenblick vorher vollkommen munter und im tollsten Übermut gewesen. Auch an den beiden Architekten ließ sich die Wirkung verspüren, denn sie verfügten sich in dem anstoßenden Kämmerchen ganz still und geschwind zu Bett. Der Kamerad des Erwischten versank ebenfalls geräuschlos in seinem Nest, und so befand sich Mr. Tetterby, als er innehielt, um Atem zu schöpfen, ganz unerwartet plötzlich auf einem Gefilde vollkommenen Friedens.

      »Mein kleines Frauchen selbst«, sagte Mr. Tetterby und wischte sich das erhitzte Gesicht, »hätte es nicht besser machen können. Ich wünschte bloß, mein kleines Frauchen hätte es zu besorgen gehabt, wahrhaftig!«

      Mr. Tetterby suchte auf der spanischen Wand nach einer Sentenz, die sich eignen würde, den Kindern bei dieser Gelegenheit eingeprägt zu werden, und las folgendes laut ab:

      »Es ist eine unanfechtbare Tatsache, daß alle merkwürdigen Männer merkwürdige Mütter gehabt haben und sie im spätern Leben wie ihre besten Freunde geachtet haben. Denkt an eure eigene merkwürdige Mutter, meine Jungen«, fügte Mr. Tetterby hinzu, »und erkennet ihren Wert, solange sie noch unter euch weilt.«

      Er setzte sich in seinen Stuhl am Kamin, schlug die Beine übereinander und widmete sich wieder seiner Zeitung.

      »Es soll mir nur einer, ganz gleich, wer's sein mag, noch einmal aus dem Bette herauskommen«, gab Mr. Tetterby wie eine allgemeine Proklamation in mildem Tone bekannt, »und grenzenloses Erstaunen, was dann geschieht, soll das Los dieses geachteten Zeitgenossen sein!« Ein Ausdruck, den Mr. Tetterby wieder von der spanischen Wand ablas. »Johnny, mein Sohn, nimm deine einzige Schwester Sally in acht, denn sie ist das schönste Juwel, das jemals auf deiner jugendlichen Stirn geglänzt hat.« Johnny setzte sich demütig auf einen kleinen Stuhl und verschwand fast unter der Last des Molochs.

      »Ach, was für ein Geschenk dieses Kind für dich bedeutet, Johnny«, sagte sein Vater, »und wie dankbar du dafür sein solltest! Es ist nicht allgemein bekannt, Johnny« – er las jetzt wieder von seiner spanischen Wand ab –, »aber es ist eine durch genaue Berechnungen offenbar gewordene Tatsache, daß folgender ungeheurer Prozentsatz von Kindern nie das zweite Lebensjahr erreicht, nämlich – – –«

      »O Vater, halt' ein, ich bitte dich«, rief Johnny, »ich kann's nicht ertragen, wenn ich an Sally denke.«

      Mr. Tetterby ließ ab, und Johnny, von der tiefen Verantwortung, die er trug, ergriffen, wischte sich die Augen und lullte seine Schwester ein.

      »Dein Bruder Dolphus«, sagte sein Vater und schürte das Feuer, »bleibt heut' lange, Johnny, und wird nach Hause kommen wie ein Eisklumpen. Wo bleibt nur deine treffliche Mutter?«

      »Da kommt die Mutter, und Dolphus auch, Vater!« rief Johnny »Ich glaube wenigstens.«

      »Du hast recht«, entgegnete der Vater und lauschte. »Ja, ja, das ist der Tritt meines kleinen Frauchens.«

      Der Ideengang, mittels dessen Mr. Tetterby zu dem Schlusse gekommen war, sein Ehegespons sei ein kleines Frauchen, war ein tiefes Geheimnis. Aus der Frau hätte man mit Leichtigkeit zwei Ausgaben ihres Mannes anfertigen können. Schon als Individuum für sich fiel sie auf, so stark und stattlich war sie, aber mit ihrem Manne verglichen, wuchsen ihre Dimensionen geradezu ins Gigantische. Dasselbe war der Fall gegenüber ihren sieben Söhnen, die im Vergleich mit ihr die reinsten Elzevierausgaben waren. Bei Sally indessen hatte sich Mrs. Tetterby endlich Geltung verschafft. Das wußte niemand besser als Johnny, das Opfer, der den schweren Abgott zu jeder Stunde des Tages maß und wog.

      Mrs. Tetterby, die Einkäufe gemacht hatte und einen Korb trug, schob Hut und Tuch zurück, setzte sich erschöpft nieder und befahl Johnny, auf der Stelle seine süße Last zu ihr zu tragen. Sie wolle ihr einen Kuß geben. Als Johnny diesem Befehl Folge geleistet hatte und wieder zu seinem Stuhl zurückgekehrt und wieder in Demut versunken war, da erbat sich Mr. Adolphus Tetterby jun., der inzwischen seine obere Hälfte aus einem endlosen regenbogenfarbigen Schal herausgewickelt hatte, dieselbe Gunst. Johnny gehorchte abermals und war wieder zu seinem Stuhl zurückgekehrt, als Mr. Tetterby sen., von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, als Vater denselben Anspruch erhob. Die Befriedigung dieses dritten Verlangens erschöpfte das Opfer derart, daß es kaum Atem genug fand, um wieder zu seinem Stuhl zurückzukehren und seine Verwandten anzukeuchen.

      »Mach, was du willst, Johnny«, sagte Mrs. Tetterby mit Kopfschütteln, »aber nimm sie in acht oder komm deiner Mutter nie wieder unter die Augen.«

      »Deinem Bruder auch nicht«, sagte Adolphus, »und auch deinem Vater nicht, Johnny«, ergänzte Mr. Tetterby.

      Johnny tief erschüttert durch diese bedingungsweise angedrohte Lossagung, blickte tief in Molochs Augen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei, klopfte dem Kind auf den Rücken und ließ es auf seinem Bein reiten.

      »Bist du naß, Dolphus, mein Junge?« fragte der Vater. »Komm, setz dich in meinen Stuhl und trockne dich.«

      »O danke, Vater«, sagte Adolphus und wischte sich das Gesicht mit dem abgetragenen Ärmel, »ich bin nicht sehr naß, scheint mir. Glänzt mein Gesicht sehr, Vater?«

      »Ja, es sieht ein bißchen wächsern aus, mein Junge«, bestätigte Mr. Tetterby.

      »Das macht das Wetter«, sagte Adolphus und wischte sich die Backen ab. »Wenn's so recht regnet und graupelt und bläst und schneit und nebelt, dann wird mein Gesicht manchmal ganz feuerrot und glänzt dann – – –«

      Master Adolphus gehörte auch zur Zeitungsbranche und war von einer blühenderen Firma als der seines Vaters & Comp. angestellt, Zeitungen auf einer Eisenbahnstation zu verkaufen, wo seine dickbäckige kleine Gestalt, die einem Amor in schäbiger Ausführung nicht unähnlich sah, und seine hohe, schrille Stimme (er war noch nicht viel mehr als zehn Jahre alt) ebensowohl bekannt waren wie das heisere Keuchen der ein- und auslaufenden Lokomotiven. Sein jugendlicher Frohsinn bei diesem frühzeitigen Eintritt ins Geschäftsleben hätte kein rechtes Ventil gehabt, wenn Adolphus nicht eine glückliche Entdeckung gemacht hätte, mit der er sich Unterhaltung verschaffte und den langen Tag in verschiedene Grade des Interesses einteilen konnte, ohne dabei das Geschäft zu vernachlässigen. Diese geistvolle Erfindung, gleich allen großen Entdeckungen durch Einfachheit auffallend, bestand in der Abänderung des ersten Vokals in dem Worte »Blatt«, an dessen Stelle, je nach den verschiedenen Tagesabschnitten, all die andern Vokale in alphabetischer Reihenfolge gesetzt wurden. So lief er vor Tagesanbruch in der Winterszeit in seinem kleinen Käppchen und Mäntelchen aus Ölzeug und seinem ungeheuren Umschlagtuch hin und her und durchgellte die dicke Luft mit dem Rufe: »Mor-gen-blatt«. Wenn noch ungefähr eine Stunde bis Mittag fehlte, wurde daraus: »Mor-gen-blätt« und daraus wurde ungefähr


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