Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.mißtrauisch, »bist du auch fest überzeugt, daß dir wohler ist, oder soll's vielleicht in einer andern Richtung ausbrechen, Sophie?«
»Nein, Dolphus, nein«, antwortete seine Gattin, »ich bin wieder ganz bei mir.«
Mit diesen Worten brachte sie ihr Haar in Ordnung, drückte ihre Handflächen auf die Augen und lachte abermals.
»Was für eine gottlose Törin ich war, auch nur einen Augenblick solche Gedanken zu haben«, sagte Mrs. Tetterby. »Rücke näher, Dolphus, ich will mein Herz ausschütten und dir erzählen, was mich drückt.«
Mr. Tetterby rückte seinen Stuhl näher heran. Mrs. Tetterby lachte wieder und wischte sich die Augen.
»Du weißt, mein lieber Dolphus«, sagte Mrs. Tetterby »als ich noch ledig war, hätte ich mich nach verschiedenen Seiten hin vergeben können. Es gab eine Zeit, da liefen mir vier auf einmal nach, und zwei davon waren Marssöhne.«
»Mein Herzblatt, wir alle sind Söhne von Ma's«, sagte Mr. Tetterby, »zusammen mit Pa's«, und schwelgte in dem Wortspiel.
»So meine ich's nicht«, erwiderte seine Frau, »ich meine Soldaten – Unteroffiziere.«
»Oh!« sagte Mr. Tetterby.
»Nun, Dolphus, ich denke jetzt nicht mehr daran, und es tut mir auch nicht leid, ich weiß, ich habe einen so herzensguten Mann und würde ganz gewiß ebensoviel tun, um ihm meine Liebe zu beweisen, wie –«
»– wie irgendein kleines Frauchen auf der Welt. Sehr gut, sehr gut!«
Wäre Mr. Tetterby zehn Fuß hoch gewesen, hätte er keine zartere Rücksicht auf Mrs. Tetterbys feenhafte Gestalt an den Tag legen können, und wäre Mrs. Tetterby zwei Fuß hoch gewesen, sie hätte nicht überzeugter sein können, daß diese Bezeichnung ihr zukäme.
»Aber siehst du, Dolphus«, sagte Mrs. Tetterby »jetzt ist Weihnachten, und da machen alle Leute, die es können, Feiertag, und alle Leute, die Geld haben, geben da gern ein bißchen Geld aus, und da bin ich, ich weiß nicht wie, ein bißchen ärgerlich geworden, als ich eben auf der Straße war. Da sind so viele Sachen zum Verkauf ausgestellt, so köstliche Sachen zum Essen, so schöne Sachen zum Ansehen und so entzückende Sachen zum Tragen – und ich mußte soviel hin und her rechnen, ehe ich es wagen durfte, auch nur einen Sixpence für das Notwendigste auszugeben, und der Korb war so groß, es wäre soviel hineingegangen, und mein Geldvorrat war so klein und hätte nur zu einem bißchen gereicht – du hassest mich, nicht wahr, Dolphus?«
»Keineswegs«, sagte Mr. Tetterby »bis jetzt nicht.«
»Gut! Ich will dir die ganze Wahrheit erzählen, dann wirst du mich vielleicht hassen. Als ich in der Kälte herumlief und noch eine Menge anderer rechnender Gesichter mit großen Körben herumlaufen sah, da kam mir so der Gedanke, ich hätte doch besser getan und wäre vielleicht glücklicher, wenn – wenn, wenn – – –« Der Trauring drehte sich wieder um den Finger, und Mrs. Tetterby schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte ihr Gatte ruhig, »wenn du gar nicht geheiratet hättest oder einen andern geheiratet hättest.«
»Ja«, schluchzte Mrs. Tetterby, »das habe ich gedacht. Hassest du mich jetzt, Dolphus?«
»Nein«, sagte Mr. Tetterby, »ich finde bis jetzt noch nichts.«
Mrs. Tetterby gab ihm einen dankbaren Kuß und fuhr fort:
»Dann fange ich an zu hoffen, du wirst mich überhaupt nicht hassen, obwohl ich fürchte, ich habe dir noch nicht das Schlimmste erzählt. Ich kann mir gar nicht erklären, wie es über mich gekommen ist. Ich weiß nicht, ob ich krank war oder verrückt oder was sonst. Aber ich war mir plötzlich nicht mehr klar darüber, was uns eigentlich aneinanderknüpft und was mich mit meinem Geschick je versöhnen könnte. All die Vergnügungen und Freuden, die wir jemals gehabt, sie schienen so armselig und unbedeutend. Ich haßte sie. Ich hätte sie mit Füßen treten können, und ich konnte an nichts weiter denken, als daß wir arm sind und wieviel Mäuler zu Hause sind.«
»Nun, nun, meine Liebe«, sagte Mr. Tetterby und schüttelte ihr ermutigend die Hand, »das ist doch die Wahrheit. Wir sind arm, und es sind eine Menge Mäuler im Hause.«
»Ach, aber, Dolph, Dolph«, rief seine Gattin und legte ihm die Hände um den Hals, »mein gutes, liebes, geduldiges Männchen, als ich eine kleine Weile erst zu Hause war, wie wurde es da anders! O mein lieber Dolph, wie anders wurde es! Mir war, als flösse alles in mir über vor einem Schwall von Erinnerungen, der mein hartes Herz erweichte und zu zersprengen** [vermutlichen Satzfehler beseitigt. Originaler Text: zersprangen, geändert in: zersprengen] drohte. All unser Ringen um einen Lebensunterhalt, alle unsere Sorgen und Entbehrungen seit unserer Hochzeit, alle die Zeiten, wo wir krank lagen, all die Stunden, die wir durchwacht, beieinander oder bei den Kindern, schienen zu mir zu reden und zu sagen, daß sie uns zu einer Person gemacht, und ich hätte nie mehr etwas anderes sein mögen, sein können oder wollen als die Gattin und die Mutter, die ich bin. Dann wurden die kleinen billigen Vergnügungen, die ich eben noch so grausam hatte mit Füßen treten wollen, so kostbar, o so wertvoll und teuer, daß ich gar nicht mehr daran denken durfte, wie sehr ich sie verkannt hatte, und es immer und immer wiederholen mußte und es jetzt noch hundertmal sagen möchte, wie konnte ich mich nur so aufführen, Dolphus, wie konnte ich das Herz haben, so etwas zu tun.«
Die gute Frau war ganz außer sich vor Aufregung, Zärtlichkeit und Reue und weinte von ganzem Herzen, als sie plötzlich mit einem Schrei auffuhr und sich hinter ihrem Mann versteckte. Ihr Schrei war so angstvoll, daß die Kinder aus dem Schlaf auffuhren, schleunigst aus den Betten sprangen und sich um sie scharten. Ihr Blick war entsetzt und ihre Stimme außer sich vor Angst, als sie auf einen bleichen Mann in schwarzem Mantel deutete, der in das Zimmer hereingekommen war.
»Sieh den Mann dort an, sieh dort, was will er?«
»Meine Liebe«, entgegnete ihr Gatte, »ich will ihn fragen, wenn du mich nur losläßt. Was gibt es denn? Wie du zitterst.«
»Ich habe ihn auf der Straße gesehen, als ich eben draußen war. Er sah mich an und stand ganz dicht bei mir. Ich fürchte mich so vor ihm.«
»Fürchtest dich vor ihm, warum denn?«
»Ich weiß nicht, warum – ich – bleib hier!« Sie hielt ihren Mann zurück, als er auf den Fremden zugehen wollte.
Sie preßte die eine Hand auf die Stirn und die andere auf die Brust. Ein sonderbares Zittern lief über ihren Körper, und eine Unruhe, wie wenn sie etwas verloren hätte, lag in ihren Augen.
»Bist du krank, mein Schatz?«
»Was ist das, was da wieder von mir weicht«, sagte sie leise vor sich hin, »was ist das nur, das da von mir weicht?« Dann antwortete sie kurz: »Krank? Nein, ich bin ganz wohl«, und starrte mit leerem Blick auf den Boden.
Ihr Mann, der ebenfalls nicht ganz frei von Furcht geblieben war und den die Sonderbarkeit ihres Wesens noch mehr beunruhigte, wandte sich jetzt an den bleichen Besuch im schwarzen Mantel, der mit zu Boden gesenkten Augen an der Tür stehengeblieben war.
»Was wünschen Sie eigentlich von uns, Sir?« fragte er.
»Ich fürchte, mein unbemerktes Hereintreten hat Sie erschreckt«, antwortete der Besuch, »aber Sie sprachen miteinander und hörten mein Kommen nicht.«
»Mein kleines Frauchen sagt, Sie haben es vielleicht selbst gehört«, entgegnete Mr. Tetterby, »es sei nicht das erste Mal heute abend, daß Sie sie erschreckt haben.«
»Das tut mir leid. Ich entsinne mich, Sie auf der Straße bemerkt zu haben; ich hatte nicht die Absicht, Sie zu erschrecken.« Er erhob bei diesen Worten seine Blicke und sie die ihren. Seltsam war die Scheu, die sie vor ihm hatte, seltsam das Grausen, als er das bemerkte.
Dennoch sahen sie einander scharf und forschend an.
»Mein Name ist Redlaw. Ich komme aus dem alten Kolleg dicht nebenan; ein junger Mann, der dort studiert, wohnt in Ihrem Hause, nicht wahr?«
»Mr. Denham?« fragte Tetterby.