Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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junge Mann hatte ihm mit wachsender Erregung zugehört. Er hob die niedergeschlagenen Augen, schlug die Hände zusammen und rief mit bebenden Lippen:

      »Mr. Redlaw, Sie haben mich durchschaut, Sie kennen mein Geheimnis.«

      »Ihr Geheimnis?« fragte der Chemiker kalt. »Ich soll es kennen?«

      »Ja. Ihr Wesen, das jetzt so verschieden ist von der Teilnahme und dem Mitleid, die Sie so vielen Herzen teuer machen, Ihre veränderte Stimme, das Gezwungene in Ihren Worten und Blicken sagen mir, daß Sie mich kennen«, erwiderte der Student. »Daß Sie es selbst jetzt noch verbergen möchten, ist für mich nur ein Beweis mehr für Ihre angeborene Herzensgüte und die Kluft, die uns trennt.«

      Ein leeres und verächtliches Lächeln war die einzige Antwort, die er erhielt.

      »Aber Mr. Redlaw«, sagte der Student, »bedenken Sie als gerechtfühlender und edler Mensch, wie wenig Schuld ich habe an dem Unrecht, das Ihnen zugefügt worden ist, – an dem Kummer, den Sie ertragen haben. Es müßte denn mein Name und meine Abkunft –«

      »Kummer?« unterbrach ihn Redlaw auflachend. »Unrecht? Was geht das mich an?«

      »Um Himmels willen«, flehte der Student, »lassen Sie sich von den paar Worten, die Sie mit mir wechselten, nicht noch mehr verändern, Sir. Streichen Sie mich wieder aus Ihrem Gedächtnis. – Lassen Sie mich meinen alten entfernten Platz unter denen, die Sie unterrichten, wieder einnehmen. Kennen Sie mich wieder nur unter dem Namen, den ich annahm, und nicht als – – – Langford –«

      »Langford!« rief der andere aus. Er fuhr mit beiden Händen nach der Stirn und wandte dem Jüngling einen Augenblick lang sein früheres geistvolles und nachdenkliches Gesicht zu. Aber das Licht verschwand wieder wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, und das Gesicht umwölkte sich wie vordem.

      »Der Name, den meine Mutter führt, Sir«, sagte der Jüngling verlegen, »der Name, den sie wählte, als sie vielleicht einen geehrteren hätte bekommen können, Mr. Redlaw«, fuhr er zögernd fort. »Ich glaube, ich kenne diese Geschichte. Wo mein Wissen nicht ausreicht, ergänzen Vermutungen die Lücke, bis das Ganze der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Ich bin das Kind einer Ehe, die sich als nicht glücklich erwies. Von Kindheit an hörte ich von Ihnen mit hoher Achtung, fast mit Ehrfurcht sprechen, von solcher Hingebung, Standhaftigkeit und Herzensgüte; von solchem Ankämpfen gegen Hindernisse, die einen Menschen niederschmettern können, habe ich vernommen, daß meine Phantasie, seit ich meinen ersten Unterricht an der Hand meiner Mutter genossen, Ihren Namen mit Lichtglanz umwoben hat. Und endlich, konnte ich – ein armer Student – von einem andern besser lernen als von Ihnen?«

      Unbewegt und unverändert und ihn nur mit einem inhaltsleeren Blick anstarrend, antwortete Redlaw weder mit Worten noch durch Gebärden.

      »Ich kann nicht in Worte fassen«, fuhr der andere fort, »wie sehr ich gerührt war, die schönen Spuren der Vergangenheit in der Dankbarkeit und dem Vertrauen wieder aufleuchten zu sehen, die sich bei uns Studenten an Mr. Redlaws Namen knüpfen. Wir sind an Alter und Stellung so verschieden voneinander, Sir, und ich bin so gewohnt, Sie nur aus der Ferne zu sehen, daß ich mich über meine eigene Kühnheit wundere, wenn ich dieses Thema auch nur leise berühre. Aber einem Mann, der, ich darf es wohl aussprechen, einst für meine Mutter eine nicht gewöhnliche Teilnahme fühlte, ist es vielleicht nicht ganz gleichgültig, jetzt, wo alles vorüber ist, zu erfahren, mit wie unbeschreiblicher Liebe ich Sie aus der Ferne betrachtet habe, mit welchem Schmerze ich mich von Ihnen ferne hielt – während ein Wort von Ihnen mich reich gemacht hätte – und wie sehr ich dennoch fühle, daß ich recht tat, auf dieser Bahn zu bleiben, zufrieden damit, Sie zu kennen und selbst unbekannt zu sein. Mr. Redlaw«, sagte der Student schüchtern, »was ich sagen wollte, habe ich nicht glücklich ausgedrückt. Aber wenn etwas Unwürdiges in der Täuschung liegt, die ich mir habe zuschulden kommen lassen, so verzeihen Sie mir, und in allem übrigen – – bitte vergessen Sie mich.«

      Das starre Stirnrunzeln blieb auf Redlaws Gesicht und wich keinem andern Ausdruck, bis der Student bei den letzten Worten auf ihn zuschritt, als wolle er seine Hand berühren. Da zog er sich zurück und schrie ihn an:

      »Kommen Sie mir nicht näher!« Der junge Mann blieb stehen, entsetzt über die Plötzlichkeit und Schroffheit dieser Zurückweisung, und strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn.

      »Was vorbei ist, ist vorbei«, sagte der Chemiker. »Die Vergangenheit stirbt wie das unvernünftige Tier. Wer redet mir von ihren Spuren in meinem Leben. Der faselt oder lügt. Was gehen mich Ihre kranken Träume an. Wenn Sie Geld brauchen, hier ist welches. Ich kam her, um es Ihnen anzubieten, und das war der eigentliche Zweck meines Kommens. Weiter kann ich hier nichts gewollt haben«, murmelte er vor sich hin und legte die Hände wieder an die Stirn. »Weiter kann ich hier nichts gewollt haben, oder –?«

      Er hatte seine Börse auf den Tisch geworfen und verfiel wieder in Nachsinnen. Der Student hob sie auf und hielt sie ihm hin.

      »Nehmen Sie sie wieder zurück, Sir«, sagte er stolz, doch nicht erzürnt; »ich wünschte, Sie könnten mit ihr zugleich die Erinnerung an Ihre Worte und an Ihr Anerbieten zurücknehmen.«

      »Wünschen Sie das?« fragte jener mit einem sonderbaren Flackern in seinen Augen. »Wünschen Sie das?«

      »Ja, ich wünsche es.«

      Der Chemiker trat jetzt zum erstenmal dicht an ihn heran, nahm die Börse, ergriff den Arm des Studenten und sah ihm ins Gesicht. »Krankheit bringt Schmerz und Sorge, nicht wahr?« sagte er mit einem Lachen.

      »Ja«, gab Langford verwundert zur Antwort.

      »Ihre Ruhelosigkeit, Ihre Angst, Ihre Ungewißheit und das ganze Gefolge von Leiden an Körper und Geist«, sagte der Chemiker mit einem wilden sonderbaren Frohlocken, »ist es nicht am besten, man vergißt es?«

      Der Student antwortete nicht, sondern fuhr sich wieder mit der Hand zerstreut über die Stirn. Redlaw hielt ihn immer noch am Arm gefaßt, als man draußen Millys Stimme vernahm.

      »Ich kann jetzt schon sehen, ich danke, Dolph! – – Weine nicht, Kind. Vater und Mutter werden morgen schon wieder gut sein, und dann ist es auch wieder hübsch zu Haus. So, so, ein Herr ist bei ihm?«

      Redlaw ließ den Studenten los und horchte.

      »Ich habe vom ersten Augenblick an gefürchtet«, murmelte er vor sich hin, »ihr zu begegnen. Es liegt eine Art unendlicher Güte in ihr, die ich zu verderben fürchte. Ich könnte zum Mörder an dem werden, was das Schönste und Beste in ihrem Herzen ist.«

      Sie klopfte an die Türe.

      »Soll ich es wie eine nichtige Ahnung mißachten oder sie dennoch meiden«, murmelte er und sah unschlüssig umher.

      Wieder klopfte sie an die Tür.

      »Von all denen, die hierher kommen«, sagte er heiser und erregt zu dem Studenten, »möchte ich diese Frau am wenigsten hier sehen. Verbergen Sie mich!«

      Der Student öffnete eine Brettertür in der Wand, die in ein kleines Dachstübchen führte. Redlaw trat rasch hinein und schloß hinter sich ab. Der Student nahm seinen Platz auf dem Sofa wieder ein und rief: »Herein!«

      »Lieber Mister Edmund«, sagte Milly und sah sich um. »Man sagte mir, es wäre ein Herr hier.«

      »Es ist niemand hier als ich.«

      »Es ist aber jemand hiergewesen?«

      »Ja, es war jemand hier.«

      Sie stellte ihr Körbchen auf den Tisch und trat an die Rückseite des Sofas, als wollte sie wie gewöhnlich die ausgestreckte Hand ergreifen; aber diese war nicht da. Ein wenig überrascht beugte sie sich über den Patienten und berührte leise seine Stirn.

      »Sind Sie ganz wohl heute abend? Ihre Stirn ist heißer als nachmittags.«

      »Ach was«, sagte der Student ärgerlich, »mir fehlt nichts.«

      Mehr Erstaunen als Vorwurf malte sich auf Millys Gesicht, als sie nach der andern Seite des Tisches ging und aus ihrem Korbe ein kleines Päckchen Handarbeit


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