Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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so besser für uns beide,« versetzte der Fuhrmann. »Gehabt Euch wohl. Viel Glück.«

      »Ich wollte, ich könnte Euch denselben Wunsch zurufen«, sagte Tackleton. »Da das aber nicht möglich ist, so danke ich Euch. Unter uns – ich habs Euch schon einmal gesagt, wie? oder nicht? – unter uns, ich glaube nicht, daß ich in meinem Ehestande darum nicht weniger glücklich sein werde, weil May nicht allzuviel Liebe und Glück gezeigt hat. Laßt es Euch gut gehen und nehmt Euch die Sache nicht allzu sehr zu Herzen!«

      Der Fuhrmann sah ihm nach, bis er in der Ferne kleiner erschien als seines Pferdes Blumen und Bänder in der Nähe. Und dann irrte er seufzend und sich grämend wie ein ruheloser gebrochener Mann zwischen einigen Bäumen in der Nachbarschaft umher; er mochte nicht zurückkehren, bis die Uhr bald schlagen würde.

      Seine kleine Frau, allein geblieben, schluchzte zum Erbarmen; aber sie trocknete sich immer wieder die Augen und drängte die Tränen zurück, um zu sagen, wie gut, wie brav ihr Mann sei, und ein paarmal lachte sie auf, so herzlich, so siegesgewiß, so unbegreiflich – denn sie weinte gleichzeitig – daß Tilly aus dem Schrecken gar nicht herauskam.

      »O bitte, nicht so!« sagte Tilly. »Es könnte ja das Kindchen rein unter die Erde bringen, wenn’s erlauben.«

      »Willst du es bisweilen seinem Vater bringen, Tilly, wenn ich hier nicht mehr wohnen kann und in mein väterliches Haus zurückgekehrt bin?« fragte die Herrin, sich die Augen trocknend.

      »O, o, bitte nicht so!« rief Tilly, den Kopf zurückwerfend und in ein Geheul ausbrechend – sie sah in diesem Augenblick Boxer ungewöhnlich ähnlich. »O, o, bitte nicht so! O, o, was hat denn alle Welt nur aller Welt getan, um alle Welt so unglücklich zu machen! O, o, o, o!«

      Und die gefühlvolle Tilly brach in ein anhaltendes Klagegeheul aus, das um so furchtbarer wurde, je länger sie es zurückzuhalten versucht, so daß sie das Wickelkind unfehlbar geweckt und in einen mit sehr ernsten Folgen – wahrscheinlich mit Krämpfen – verbundenen Schrecken versetzt hätte, wenn ihre Augen nicht Kaleb Plummer begegnet wären, der grade mit seiner Tochter ins Zimmer trat. Da dieser Anblick das Gefühl des Anstandes in ihr wieder zurückrief, blieb sie einige Augenblicke mit geöffnetem Munde schweigend dastehen, und dann nach dem Bett davonstürzend, auf welchem das Kind schlief, begann sie in unheimlicher Weise, als hätte sie den Veitstanz, auf dem Boden umherzuspringen, während sie sich zugleich mit Gesicht und Kopf in die Bettücher hineinwühlte, offenbar viel Erleichterung für ihren Schmerz aus diesen außerordentlichen Operationen schöpfend.

      »Marie!« rief Bertha. »Nicht auf der Hochzeit!«

      »Ich habe ihr gesagt, junge Frau, Ihr würdet nicht mit dabei sein«, flüsterte Kaleb. »Ich habe gestern abend so was gehört. Aber mein Gott«, sagte der kleine Mann, zärtlich ihre beiden Hände drückend, »ich achte nicht darauf, was sie sagen. Ich glaub’ nichts davon. Es ist nicht viel an mir, aber dieses Wenige würde ich erst in Stücke reißen lassen, ehe ich auch nur ein Wort gegen Euch glaubte.«

      Er legte die Arme um sie und herzte sie, wie ein Kind seine Puppe herzt.

      »Bertha konnte es heute morgen zu Hause nicht aushalten«, fuhr Kaleb fort. »Ich weiß, sie fürchtete die Glocken läuten zu hören und hatte nicht das Herz, ihnen an ihrem Hochzeitstage so nahe zu sein. So machten wir uns denn frühzeitig auf den Weg und kamen hierher. Ich habe mir dies alles überlegt«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Ich habe mich ausgescholten, bis ich kaum mehr wußte, was ich tun oder wohin ich mich wenden sollte; denn all ihren Kummer habe ich verschuldet; und da bin ich zu dem Entschlusse gekommen, es sei besser – das heißt – wenn Ihr mir beistehen wollt, junge Frau – ihr die Wahrheit zu sagen. Wollt Ihr mir beistehen?« fragte er, von Kopf bis zu den Füßen zitternd. »Ich weiß nicht, was sie von mir denken wird, ich weiß nicht, ob sie dann noch ihren Vater lieben wird. Aber es ist das beste für sie, daß sie erfährt, daß alles Täuschung war, und ich muß die Folgen tragen, wie ich’s verdient habe.«

      »Marie«, sagte Bertha, »wo ist deine Hand? Ah, hier ist sie, hier ist sie!«

      Sie drückte sie mit einem Lächeln an die Lippen und zog sie unter ihren Arm.

      »Ich hörte sie miteinander flüstern gestern abend und dich wegen irgend etwas tadeln. Sie hatten unrecht.«

      Des Fuhrmanns Frau schwieg. Kaleb nahm das Wort für sie.

      »Sie hatten unrecht«, sagte er.

      »Ich weiß es« rief Bertha stolz. »Und ich hab´s ihnen auch gesagt. Es wäre verächtlich erschienen, auch nur ein einziges Wort anzuhören. Ein Recht haben, Dot zu tadeln!« Und sie drückte die Hand in die ihrige und näherte ihre weiche Wange ihrem Gesicht. »Nein, so blind bin ich nicht.«

      Ihr Vater stellte sich ihr zur Linken, während Dot, noch immer ihre Hand haltend, auf ihrer rechten Seite blieb.

      »Ich kenne euch alle«, sagte Bertha, »besser als ihr glaubt. Aber niemand so gut wie sie. Nicht einmal dich, Vater. In meiner ganzen Umgebung gibt es nichts so Reines und Wahres wie sie. Wenn ich in diesem Augenblick mein Gesicht wieder erlangen könnte, ich würde sie in einer zahlreichen Menge heraus erkennen, ohne daß nur ein Wort gesagt würde! Meine Schwester!«

      »Bertha, mein liebes Kind«, sagte Kaleb, »ich habe etwas auf dem Gewissen, das ich dir sagen muß, solange wir drei allein sind. Höre mich freundlich an! Ich habe dir ein Bekenntnis zu machen, mein gutes Kind.«

      »Ein Bekenntnis, Vater?«

      »Ich habe mich von der Wahrheit entfernt und mich geirrt, liebes Kind«, sagte Kaleb mit einem herzzerreißenden Ausdruck in seinen aufgeregten Zügen. »Ich habe mich von der Wahrheit entfernt, aus Liebe zu dir; und diese Liebe hat mich grausam gemacht.«

      Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, das den Ausdruck des höchsten Erstaunens zeigte, und wiederholte: »Grausam!«

      »Er klagt sich zu streng an, Bertha«, sagte Dot. »Das wirst du ihm gleich selbst sagen, wie ich es jetzt tue.«

      »Er grausam gegen mich!« rief Bertha mit einem ungläubigen Lächeln.

      »Ohne es zu wollen, mein Kind!« sagte Kaleb. »Aber ich bin’s gewesen, wenn es mir auch erst gestern zum Bewußtsein gekommen ist. Meine teure blinde Tochter, höre mich an und vergib mir! Die Welt, in der du lebst, Kind meines Herzens, ist nicht so, wie ich sie dir dargestellt habe. Die Augen, denen du vertrautest, haben dich belogen.«

      Noch immer war ihr überraschtes und erstauntes Antlitz ihm zugewandt, aber jetzt wich sie zurück und klammerte sich fester an ihre Freundin.

      »Dein Lebensweg war rauh, mein teures liebes Kind,« fuhr Kaleb fort, »und ich wollte ihn dir glatt und eben machen. Ich habe die Gegenstände verändert, den Charakter der Menschen umgeschaffen, viele Dinge erfunden, die nie existiert haben, um dich glücklicher zu machen. Ich habe dir vieles verheimlicht, dich in Täuschungen versetzt, Gott verzeihe mir, und dich mit erträumten Wesen umgeben.«

      »Aber lebende Menschen sind doch keine erträumten Wesen!« rief sie rasch, während sie erbleichte und sich noch mehr von ihm zurückzog. »Die kannst du doch nicht verändern!«

      »Und doch hab’ ich’s getan, Bertha!« bekannte Kaleb. »Es gibt eine Person, die du kennst, mein Liebstes …«

      »O Vater!« versetzte sie in einem Tone bittern Vorwurfs, »warum sagst du, ich kenne sie? Wen und was soll ich kennen! Ich, die ich keinen Führer habe! Ich bin so elendiglich blind.«

      In Herzensangst streckte sie die Hände aus, als suche sie sich tastend einen Weg; dann legte sie sie trostlos, ja fast verzweiflungsvoll vor das Gesicht.

      »Der Mann, der heute Hochzeit feiert«, sagte Kaleb, »ist ein finsterer, filziger Geizhals; dir und mir ein harter Herr, mein Kind, und das schon seit vielen Jahren, häßlich in seinem Äußern und in seiner Seele. Immer kalt, immer hart. Ganz und gar anders als das Bild, das ich dir von ihm geschildert habe. In jeder Beziehung.«

      »O, warum«, rief das blinde Mädchen in überwältigendem Schmerz, »warum tatst du das! Warum hast du stets mein Herz so reich gemacht,


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