Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.dem Heimchen redeten, da hatte ich ein Geheimnis auf den Lippen, nämlich, daß ich dich anfangs nicht ganz so sehr liebte wie jetzt; daß, als ich zum erstenmal hierher in dein Haus kam, ich fast fürchtete, ich könnte dich nicht ganz und gar so lieben lernen, wie ich hoffte und wünschte – ich war ja noch so jung, John! Aber, lieber John, mit jedem Tage, mit jeder Stunde liebte ich dich mehr. Und wäre es mir möglich, dich noch mehr zu lieben, als es der Fall ist, so geschähe es wegen der edlen Worte, die ich heute morgen von dir hörte. Aber das ist unmöglich. All die Zärtlichkeit, die ich besaß, – und das ist eine große Menge, John – habe ich dir geschenkt, wie du es auch verdientest; und zwar schon lange, schon sehr lange, und so habe ich dir nun nichts mehr zu geben. Und jetzt, mein lieber Mann, drücke mich an dein Herz! Hier ist mein Heim, John, und denke nie, nie wieder daran, mich nach einem andern zu schicken!«
Niemals könnt ihr eine solche Freude darüber empfinden, wenn ihr eine wundervolle kleine Frau in den Armen eines andern seht, wie ihr sie empfunden haben würdet, hättet ihr gesehen, wie Dot dem Fuhrmann entgegeneilte. Es war der vollkommenste, ungetrübteste, herzinnigste Ausbruch von Zärtlichkeit, den ihr Zeit eures Lebens gesehen habt.
Das dürft ihr mir glauben, daß der Fuhrmann sich in einem Zustande vollkommener Glückseligkeit befand, und daß es mit Dot ebenfalls so war, ja daß es bei allen der Fall war – einschließlich Tilly Tolpatschs, die vor lauter Freude reichlich Tränen vergoß, und da sie den Wunsch hegte, daß ihr junger Zögling an der allgemeinen Freude sich ebenfalls beteiligte, reichte sie ihn sämtlichen Anwesenden der Reihe nach hin, als wäre er irgendeine Erfrischung gewesen.
Aber jetzt konnte man draußen wieder den Ton von Rädern hören, und jemand sagte, daß Gruff und Tackleton zurückkehre. Wirklich tauchte bald darauf dieser würdige Herr auf, und zwar mit aufgeregtem und hochrotem Gesicht.
»Na, was zum Teufel ist denn das, John Peerybingle?« rief er. »Da muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich hatte mit Frau Tackleton eine Zusammenkunft an der Kirche verabredet, aber ich möchte darauf schwören, daß ich ihr begegnet bin, als ich hierher fuhr … Ah, da ist sie ja! Verzeihung, mein Herr: habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen – aber wollten Sie mir wohl die Gunst gewähren, mir diese junge Dame abzutreten? – sie hat heute eine ganz besondere Verabredung.«
»Tut mir leid, aber ich kann sie nicht einen Augenblick entbehren«, versetzte Eduard. »Gar kein Gedanke daran!«
»Was wollen Sie damit sagen, Sie Vagabund?« fragte Tackleton.
»Ich will damit sagen«, entgegnete der andere lächelnd, »daß ich, da ich auf Ihren Zorn Rücksicht nehmen muß, allen Ihren Reden gegenüber heute ebenso taub bin, wie ich es gestern gegen alle Reden war.«
Welch einen Blick ihm Tackleton zuwarf! Und wie er plötzlich erschrak!
»Ich bedaure, mein Herr«, fuhr Eduard fort, indem er Mays Hand und besonders den Goldfinger emporhielt, »ich bedaure, daß diese junge Dame Sie nicht in der Kirche treffen kann; aber da sie heute morgen bereits einmal dort gewesen ist, so haben Sie vielleicht die Güte, sie zu entschuldigen.«
Tackleton starrte nach dem vorgezeigten Goldfinger, und dann zog er aus seiner Westentasche ein Stückchen Seidenpapier, das, wie es schien, einen Ring enthielt.
»Fräulein Tilly«, sagte Tackleton, »wollten Sie wohl so freundlich sein, das ins Feuer zu werfen? … So, danke.«
»Sehen Sie«, begann Eduard wieder, »sie hatte sich mit mir schon früher verlobt – und so ist es meiner jungen Frau nicht möglich, zu Ihrem Stelldichein zu kommen.«
»Herr Tackleton wird mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß ich ihm alles ehrlich berichtete«, sagte May errötend, »und daß ich ihm oft erklärt habe, es sei mir unmöglich, es jemals zu vergessen.«
»O gewiß!« versetzte Tackleton. »O gewiß! Natürlich. Vollkommen richtig. O, ganz in der Ordnung, Mrs. Eduard Plummer – vermutlich?«
»Das ist ihr jetziger Name«, erwiderte der junge Ehemann,
»Ah! Ich hätte Sie nicht wiedererkannt, mein Herr«, sagte Tackleton, indem er aufmerksam sein Gesicht musterte und ihm eine tiefe Verbeugung machte. »Wünsche Ihnen viel Vergnügen, mein Herr!«
»Gleichfalls.«
»Mrs. Peerybingle«, fuhr Tackleton fort, indem er sich plötzlich nach der Seite wandte, wo Dot mit ihrem Mann stand, »ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Sie haben mir zwar nie ein besonderes Wohlwollen bewiesen, aber, bei meinem Leben, ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Sie sind besser, als ich glaubte …. John Peerybingle, empfangt ebenfalls den Ausdruck meines Bedauerns. Ihr versteht mich; das genügt. Alles in Richtigkeit, meine Herren und Damen, und zwar zu allseitiger Zufriedenheit. Guten Morgen!«
Mit diesen Worten ging er über die Sache hinweg und ging dann selber von dannen – nur einen Augenblick an der Haustür blieb er stehen, um seinem Pferde den hochzeitlichen Blumen-und Bänderschmuck vom Kopfe zu reißen und diesem armen Tier einen Tritt in die Rippen zu versetzen; vermutlich wollte er ihm auf diese Weise kundtun, daß gerade nicht alles in Richtigkeit sei.
Natürlich wurde es jetzt eine ernste Pflicht, diesen Tag so zu feiern, daß er sein Andenken für immer in dem Festkalender des Hauses Peerybingle zurückließ.
Demgemäß machte sich Dot an die Arbeit, um ein Mahl zu bereiten, das ihr Haus und alle, die ihm verwandt und zugetan sind, mit unsterblicher Ehre bedecken sollte; und in kürzester Frist hatte sie ihre mit Grübchen geschmückten Ellenbogen in Mehl getaucht, wobei sie sich das Vergnügen machte, Johns Rock weiß anzustreichen, sooft er ihr nahe kam, indem sie ihn anhielt, um ihn abzuküssen. Dieser gute Bursche wusch das Gemüse, zerschnitt die Rüben, zerbrach die Teller, stieß die mit Wasser gefüllten Töpfe am Feuer um und machte sich überhaupt in jeder Weise nützlich, während ein paar Köchinnen von Beruf, die in der Eile – just wie bei einem Sterbefall oder einer Geburt – irgendwoher aus der Nachbarschaft zusammengerufen waren, in allen Türen und an allen Ecken gegeneinander rannten und immerfort über Tilly Tolpatsch und das Wickelkindchen stolperten. Noch nie hatte Tilly sich durch ihre Leistungen so ausgezeichnet. Ihre Allgegenwart erregte allgemeine Bewunderung. Sie war ein Stein des Anstoßes im Flur um zwei Uhr fünfundzwanzig Minuten; eine Fallgrube in der Küche um genau halb drei und eine Art Fallstrick in der Dachkammer fünfundzwanzig Minuten vor drei. Des Kindes Kopf war sozusagen ein Prüfstein für jede Art von Gegenstand – mochte er ins Tier-, Pflanzen-oder Mineralreich gehören. Nichts war an diesem Tage im Gebrauch, das nicht früher oder später nähere Bekanntschaft mit ihm machte.
Dann wurde eine große Expedition ausgerüstet, um Mrs. Fielding aufzusuchen und vor dieser vornehmen Dame reuig und bußfertig zu sein und sie, wenn nötig, mit Gewalt herzubringen, um glücklich zu sein und Absolution zu erteilen. Und als die Expedition sie entdeckte, wollte sie von nichts hören, sondern wiederholte unaufhörlich, sie habe einzig gelebt, um einen solchen Tag erleben zu müssen, und man konnte sie nicht dazu bringen, etwas anderes zu sagen als: »Nun legt mich nur ins Grab hinein« – eine recht unvernünftige Redensart, weil sie weder tot war, noch die Absicht zu sterben hatte. Nach einiger Zeit verfiel sie in einen Zustand beunruhigendster Ruhe und bemerkte, sie habe damals, zur Zeit jener verhängnisvollen Wendung im Indigohandel, deutlich vorausgewußt, daß sie ihr ganzes Leben lang jeder Art von Beleidigung und Beschimpfung ausgesetzt sein würde, und sie sei gar nicht erstaunt, daß es wirklich so gekommen sei, und sie bitte nur, man möge sich ihretwegen nicht bemühen – denn was sei sie? Du lieber Gott, ein Nichts! Man würde ja bald vergessen haben, daß so ein armes Geschöpf wie sie überhaupt gelebt habe, und die Welt würde sich schon ohne sie behelfen. Aus diesem beißenden bittern Ton ging sie zu einem zornigen über und verstieg sich zu der großartigen Äußerung, der Wurm krümme sich, wenn er getreten werde. Hierauf trat eine Stimmung milder Wehmut ein: wenn man sie nur ins Vertrauen gezogen hätte – was für nützliche Ratschläge hätte sie nicht geben können! Diese Krisis in ihren Gefühlen benutzte die Deputation, umarmte sie, und nicht lange nachher hatte sie ihre Handschuhe angezogen und befand sich in tadelloser Vornehmheit auf dem Wege nach John Peerybingles Hause, ein Papierpaket an der Seite mit einer Staatshaube, die fast ebenso groß und jedenfalls ganz ebenso steif war wie eine Bischofsmütze.