Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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seiner Qual.

      Sie hatte sich noch nicht lange diesem leidenschaftlichen Ausbruch des Jammers hingegeben, als das Heimchen am Herde, nur von ihr allein gehört, zu zirpen begann. Aber nicht fröhlich, sondern leise, schwach und traurig; so traurig und schwermütig klang sein Lied, daß sie in Tränen ausbrach. Als jedoch das Bild, das die ganze Nacht den Fuhrmann umschwebt hatte, hinter ihr erschien und auf ihren Vater deutete, da flossen ihre Tränen in Strömen.

      Bald vernahm sie die Stimme des Heimchens deutlicher und fühlte trotz ihrer Blindheit, daß die Erscheinung ihren Vater umschwebte. »Marie«, sagte das blinde Mädchen, »sage mir, wie unsere Wohnung ist. Wie sie in Wirklichkeit aussieht.«

      »Es ist eine ärmliche Behausung, Bertha, sehr arm wahrlich, sehr arm und kahl. Das Häuschen wird kaum noch einen Winter dem Wind und Wetter widerstehen können. Es ist gegen das Unwetter so schlecht geschützt, Bertha«, fuhr Dot mit leiser, aber deutlicher Stimme fort, »wie dein armer Vater in seinem Überzieher aus Sackleinewand.«

      Das blinde Mädchen stand in großer Erregung auf und zog die kleine Frau des Fuhrmanns auf die Seite.

      »Jene Geschenke, die ich so sorgfältig hütete«, sagte sie mit bebender Stimme, »die fast allen meinen Wünschen zuvorkamen, und die mir alle eine solche Freude machten – woher sie? Hast du sie geschickt?«

      »Nein.«

      »Wer denn?«

      Dot sah, daß sie das Geheimnis bereits erraten hatte, und schwieg. Das blinde Mädchen bedeckte wieder das Gesicht mit beiden Händen. Aber diesmal in ganz andrer Weise.

      »Liebe Marie, nur einen Augenblick! Nur einen einzigen Augenblick! Komm noch etwas näher – hierher! Sprich leise. Du bist aufrichtig, ich weiß es. Du wirst mich jetzt nicht täuschen, nicht wahr?«

      »Nein, Bertha, sicherlich nicht!«

      »Nein, das wirst du gewiß nicht! Du hast zuviel Mitleid mit mir, Marie, blicke durch das Zimmer, nach der Stelle, wo wir soeben standen … wo mein Vater ist … mein Vater, der so mitleidig, so liebevoll gegen mich ist … und sage mir, was du siehst.«

      »Ich sehe«, antwortete Dot, die sie vollkommen verstand, »einen alten Mann auf einem Stuhl sitzen und schmerzlich zurückgelehnt, das Gesicht auf die Hand gestützt, als bedürfe er des Trostes seines Kindes, Bertha.«

      »Ja, ja, es wird ihn trösten. Weiter.«

      »Es ist ein alter Mann, von Arbeit und Sorgen aufgerieben: ein magerer, gramerfüllter alter Mann mit grauem Haar. Ich sehe ihn jetzt verzweifelt, zerschmettert und gebrochen. Aber, Bertha, ich habe ihn oft früher gesehen, wie er tapfer und standhaft für einen großen, heiligen Zweck kämpfte. Und ich ehre sein graues Haupt und segne ihn.«

      Das blinde Mädchen machte sich plötzlich von ihr los, warf sich vor ihrem Vater auf die Knie und drückte sein Haupt an ihre Brust.

      »Jetzt habe ich mein Augenlicht wieder!« rief sie aus. »Ich war blind, jetzt sind mir die Augen geöffnet. Ich kannte ihn garnicht! Zu denken, daß ich hätte sterben können, ohne je richtig den Vater erkannt zu haben, der mich mit so vieler Liebe umgeben hat.«

      Kaleb fand keine Worte, um seine Rührung auszudrücken.

      »Es gibt auf der ganzen Erde kein so schönes und edles Haupt«, rief die Blinde, ihn mit ihren Armen umfangend, »das ich so zärtlich, so hingebend liebe wie dieses! Je grauer und gebeugter, um so teurer ist es mir, Vater! Nie sollen sie wieder sagen, ich sei blind. Da ist keine Falte in diesem Gesicht, kein Haar auf diesem Haupt, das in meinen Gebeten und in meinem Dank zum Himmel vergessen werden soll!«

      Kaleb vermochte nur die Worte: »Meine Bertha!« vor sich hinzustammeln. .

      »Und in meiner Blindheit glaubte ich ihm«, sagte das Mädchen, ihn unter Tränen in der zärtlichsten Weise liebkosend. »Ich hielt ihn für so ganz anders! Daß ich ihn Tag für Tag an meiner Seite hatte; immer so sehr mit mir beschäftigt, und nie an so etwas gedacht hatte!«

      »Der jugendliche, schmucke Vater in dem blauen Rock – er ist verschwunden, Bertha!« sagte der arme Kaleb.

      »Nichts ist verschwunden«, antwortete sie. »Nein, nichts, bester Vater! Alles ist da – in dir. Der Vater, den ich so sehr liebte und nie kannte: der Wohltäter, den ich zuerst zu verehren und zu lieben anfing, weil er eine solche Liebe für mich zeigte – das alles findet sich hier in dir wieder. Nichts ist tot für mich. Der Inbegriff alles dessen, was meinem Herzen am teuersten war, ist hier – hier in seinem verrunzelten Gesicht und seinem grauen Haupt, Und ich bin nicht mehr blind, Vater!«

      Dots ganze Aufmerksamkeit war während dieses Gesprächs auf Vater und Tochter gerichtet gewesen. Aber als Dot jetzt nach dem kleinen Mäher auf der maurischen Wiese blickte, sah sie, daß die Uhr in ein paar Minuten schlagen werde, und verfiel sofort in einen Zustand nervöser Aufregung.

      »Vater«, sagte Bertha zögernd. »Marie ….«

      »Ja, mein liebes Kind,« erwiderte Kaleb, »hier ist sie.«

      »Sie hat sich doch in nichts verändert. Von ihr hast du mir nie etwas gesagt, was nicht wahr gewesen wäre?«

      »Ich würde es wohl auch getan haben, Kind, befürchte ich«, antwortete Kaleb, »wenn ich sie hätte besser machen können, als sie war. Aber ich hätte sie schlechter machen müssen, wenn ich überhaupt an ihr etwas geändert hätte. An ihr kann man nichts verschönern, Bertha.«

      Wie vertrauensvoll die Blinde auch gewesen war, als sie dies angefragt hatte, ihre Freude und ihr Stolz über Kalebs Antwort und die neuen Zärtlichkeiten, womit sie Dot überhäufte, waren überaus rührend anzusehen.

      »Es können allerdings noch mehr Veränderungen kommen, als du glaubst, Liebe«, sagte Dot. »Veränderungen zum Bessern; ich meine Veränderungen, die einigen von uns große Freude verursachen werden. Du mußt dich aber nicht zu sehr aufregen, wenn eine solche eintritt, die dich näher angehen sollte! … Ist das nicht Wagengerassel? Du hast ein feines Ohr, Bertha – rührt das nicht von Rädern her?«

      »Ja, und sie nähern sich mit großer Schnelligkeit.«

      »Ich … ich … ich weiß, du hast ein feines Ohr«, sagte Dot, indem sie die Hand aufs Herz legte und augenscheinlich nur so schnell wie möglich redete, um das Pochen desselben nicht hören zu lassen; »ich weiß es, weil ich es oft bemerkt habe und weil du gestern abend so schnell den Schritt des Fremden erkanntest: obgleich ich nicht recht weiß, warum du sagtest, Bertha – denn ich weiß es noch ganz genau – wessen Tritt das sei und warum er dir mehr auffiel als irgendein anderer. Ja, wie ich soeben sagte, Bertha, es kommen große Veränderungen in der Welt vor, große Veränderungen, und wir können nichts Besseres tun, als uns darauf vorzubereiten, um von nichts mehr überrascht zu werden.«

      Kaleb fragte sich, was das alles zu bedeuten habe, da er bemerkte, daß sie sich ebensosehr an ihn wie an seine Tochter wandte. Zu seinem Erstaunen sah er sie so aufgeregt und traurig, daß sie kaum noch zu atmen vermochte und mußte sich an einem Stuhl festhalten, um nicht umzufallen.

      »Ja, es sind wirklich Wagenräder!« rief sie außer Atem. »Da kommen sie heran! Und nun hört ihr sie am Hoftor halten … und was ist das für ein Tritt vor der Haustür – derselbe Tritt von gestern abend, Bertha, nicht wahr? … Und jetzt …«

      Sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, und als sie sich dann auf Kaleb stürzte, legte sie ihm die Hände auf die Augen, genau in dem Augenblick, als ein junger Mann ins Zimmer stürzte und, seinen Hut hoch in die Luft werfend, auf sie zueilte.

      »Ist es geschehen?« rief Dot.

      »Und glücklich?«

      »Erinnert Ihr Euch noch dieser Stimme, lieber Kaleb?« rief Dot. »Habt Ihr früher jemals eine ähnliche gehört?«

      »Wenn mein Junge in dem goldenen Südamerika noch lebte…«, begann Kaleb zitternd.

      »Er ist noch am Leben!« rief Dot aus, indem sie ihre Hände Kaleb vom Gesicht nahm und entzückt zu klatschen anfing. »Da seht ihn! Seht, da steht er vor Euch,


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