Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.über die zärtlichen Blicke, die Julian voll Schüchternheit auf ihn warf, ließ sich aber nicht anmerken, daß er den Provinzler wiedererkannte.
Alle im Salon Versammelten schienen Julian etwas Gedrücktes und Gezwungenes an sich zu haben. Man spricht leise in Paris und macht von Kleinigkeiten nicht viel Aufhebens.
Ein hübscher junger Herr mit einem Schnurrbärtchen und sehr blassem Gesicht erschien um halb sieben Uhr als letzter. Er war hoch aufgeschossen und hatte einen auffällig kleinen Kopf.
»Du läßt stets auf dich warten!« bemerkte die Marquise, als ihr der Spätling die Hand küßte.
Julian ward sich klar, daß dies Graf Norbert von La Mole war. Vom ersten Augenblick an fand er ihn entzückend. »Kaum möglich«, sagte er sich, »das soll der Mensch sein, dessen beleidigende Scherze mich aus dem Hause vertreiben könnten?«
Bei näherer Betrachtung bemerkte er, daß der Graf hohe Stiefel und Sporen trug. »Und ich soll Schuhe und Strümpfe tragen wie ein besserer Dienstbote!«
Man ging zu Tische. Julian hörte, wie die Marquise ein paar tadelnde Worte sagte. Dabei sprach sie ziemlich laut. Fast zu gleicher Zeit bemerkte er eine sehr hellblonde und auffällig wohlgestaltete junge Dame, die sich ihm gegenüber setzte. Sie gefiel ihm gar nicht. Aber als er sie genauer anschaute, hatte er die Empfindung, noch nie so schöne Augen gesehen zu haben. Nur verrieten sie große Seelenkälte. In der Folge fand Julian, daß sie einen scharfen und gelangweilten Ausdruck hatten, als wolle die junge Dame damit ihre Überlegenheit andeuten. »Frau von Rênal hatte gewiß wunderschöne Augen«, dachte er bei sich. »Alle Welt machte ihr Komplimente darüber, aber sie waren so ganz anders als diese.« Er besaß nicht Menschenkenntnis genug, um zu merken, daß in den Augen von Fräulein Mathilde – so hörte er sie nennen – hin und wieder Funken von Geist aufblitzten. Wenn Frau von Rênals Augen leuchteten, so war es im Feuer der Leidenschaft oder in edler Entrüstung über eine gemeine Handlung gewesen.
Gegen Ende der Mahlzeit fand Julian eine Bezeichnung für diese Art von Schönheit, die er an Fräulein von La Mole wahrnahm. »Sie hat Blinkfeueraugen!« sagte er bei sich. Übrigens kam es ihm vor, als habe sie eine gräßliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, die ihm immer mehr mißfiel. Er hörte auf, Mathilde heimlich zu betrachten. Im Gegensatze zu ihr dünkte ihn Graf Norbert in jeder Hinsicht bewundernswert. Julian war so von ihm bezaubert, daß es ihm nicht in den Sinn kam, ihn zu beneiden oder zu hassen, weil er reicher oder vornehmer war als er selbst.
Es schien ihm, als sähe der Marquis gelangweilt aus. Beim zweiten Gang sagte er zu seinem Sohne: »Norbert, deinem Wohlwollen empfehle ich Herrn Julian Sorel, meinen Adjutanten. Ich werde einen Mann aus ihm machen, wenn dieses möglich ist.«
»Mein Sekretär«, erläuterte er seinem Nachbar. »Er schreibt dieses mit zwei s.«
Alles blickte auf Julian, der sich etwas übertrieben gegen Norbert verbeugte. Im allgemeinen jedoch war der erste Eindruck, den er machte, leidlich.
Der Marquis mußte wohl von Julians Gelehrsamkeit ein Wort haben fallen lassen, denn einer der Tischgäste sprach ihn auf Horaz an. »Gerade meine Horazkenntnisse waren es, mit denen ich beim Bischof von Besançon so viel Glück hatte«, sagte sich Julian im stillen. »Man kennt augenscheinlich keinen andern Autor.« Fortan war er Herr seiner selbst, und zwar um so leichter, als er sich eben darüber klargeworden war, daß Fräulein von La Mole nie und nimmermehr ein Weib nach seinem Geschmack sei. Seit seiner Seminarzeit schätzte er die Menschen sehr gering und ließ sich nicht leicht von ihnen einschüchtern. Er hätte sich seiner Kaltblütigkeit gefreut, wenn die Einrichtung des Speisesaales etwas weniger prunkhaft gewesen wäre. Besonders störten ihn zwei acht Fuß hohe Spiegel, in denen er den Herrn, der von Horaz sprach, von Zeit zu Zeit erblickte. Was er selbst sagte, war für einen Provinzler nicht zu langatmig. Dazu hatte er ein Paar schöne Augen, deren Glanz vor schüchterner Glückseligkeit zunahm, wenn er eine gute Antwort gegeben zu haben vermeinte. Man fand ihn annehmbar. Die klassische Prüfung brachte ein gewisses Leben in die würdevolle Stimmung der Mahlzeit. Der Marquis gab dem Fragesteller ein Zeichen, Julian ordentlich auf den Zahn zu fühlen. »Sollte er am Ende doch einige Kenntnisse haben?« dachte er.
Julian antwortete mit eignen Ideen und verlor seine Schüchternheit fast gänzlich. Er vermochte zwar nicht geistreich zu sein, was ganz unmöglich ist, wenn man die in Paris übliche Redeweise nicht kennt, aber er brachte doch neue Gedanken, freilich ungewandt und nicht immer am rechten Fleck. Vor allem erkannte man, daß er das Latein vollkommen beherrschte.
Julians Gegner war Mitglied der Académie des Inscriptions und konnte zufällig Lateinisch. Da er in Julian einen sattelfesten Humanisten fand, fürchtete er nicht mehr, ihn lächerlich zu machen, und nun versuchte er allen Ernstes, ihn in die Enge zu treiben. In der Hitze des Gefechts vergaß Julian endlich die prunkvolle Umgebung, und es gelang ihm, über die lateinischen Dichter einige Gedanken zu äußern, die sein Partner noch nirgendwo gelesen hatte. Als ehrlicher Mensch erwies er dem jungen Sekretär die gebührende Ehre. Glücklicherweise kam die Unterhaltung auch noch auf die Frage, ob Horaz arm oder reich gewesen sei, ein liebenswürdiger sorgloser Lebenskünstler, der zu seinem Vergnügen schöne Verse machte, wie Chapelle, der Freund von Molière und Lafontaine, oder ein armer Teufel von poeta laureatus, der am Hofe lebte und zu Königs Geburtstag Oden fabrizierte, etwa wie Southey, der Ankläger des Lord Byron. Man sprach sodann von den sozialen Verhältnissen unter Augustus im alten Rom und unter Georg IV. in England. In beiden Epochen war der Adel allmächtig.
Diese Unterhaltung rüttelte den Marquis sichtlich aus dem Geistesschlaf auf, in den ihn die Langeweile bei Beginn der Mahlzeit versenkt hatte.
Julian wußte nicht das geringste von all den modernen Namen wie Southey, Lord Byron, Georg IV. Er hörte sie heute zum ersten Male. Aber es entging niemandem, daß er jedesmal, wenn das Gespräch auf Tatsachen aus der römischen Geschichte kam, die sich aus den Werken des Horaz, Martial, Tacitus usw. schöpfen ließen, eine unzweifelhafte Überlegenheit bewies. Auch benutzte er unbedenklich mehrere Ideen, die er sich aus der denkwürdigen Unterhaltung mit dem Bischof von Besançon angeeignet hatte. Sie wurden nicht am schlechtesten aufgenommen.
Als man der Unterhaltung über die Poeten müde war, geruhte die Marquise, die es sich zum Grundsatz gemacht hatte, alles zu bewundern, was ihrem Gatten Vergnügen bereitete, Julian anzublicken. »Hinter den noch linkischen Manieren dieses jungen Abbé verbirgt sich vielleicht echte Gelehrsamkeit«, meinte der Akademiker, der neben ihr saß. Julian hörte es undeutlich. Fertige Redensarten waren nach dem Geschmack der Hausherrin, und so machte sie sich auch die über Julian zu eigen. Sie freute sich, daß sie den Akademiker eingeladen hatte. »Er amüsiert meinen Mann«, dachte sie bei sich.
33. Kapitel
Am nächsten Morgen in der Frühe fertigte Julian in der Bibliothek Reinschriften von Briefen an, als Fräulein von La Mole durch eine kleine, geschickt durch Bücherrücken verdeckte Geheimtür eintrat. Während Julian diese Einrichtung bewunderte, war Fräulein Mathilde sichtlich überrascht und recht unangenehm berührt, ihn hier zu finden. Mit ihren Lockenwickeln machte sie einen harten, hochmütigen, fast männlichen Eindruck. Sie hatte die heimliche Angewohnheit, aus der Bibliothek ihres Vaters Bücher zu entwenden, ohne daß es jemand merkte. Julians Anwesenheit vereitelte ihr Vorhaben an diesem Morgen, und das verdroß sie um so mehr, als sie sich den zweiten Band von Voltaires »Prinzessin von Babylon« holen wollte, eine würdige Ergänzung zu ihrer außerordentlich monarchischen und frommen Erziehung, eine Meisterleistung des Sacré-Cœur! Das gute Kind verlangte schon mit neunzehn Jahren von einem Romane, wenn er ihr gefallen sollte: Esprit.
Gegen drei Uhr erschien Graf Norbert in der Bibliothek. Er wollte eine Zeitung lesen, um abends über Politik reden zu können, und war sehr zufrieden, Julian zu treffen, dessen Vorhandensein er schon vergessen hatte. Er benahm sich tadellos gegen ihn und forderte ihn auf, mit auszureiten.
»Mein Vater gibt uns Urlaub bis zu Tisch«, sagte er.
Julian hatte Verständnis für dieses uns und fand es reizend.
»Ich muß allerdings gestehen, Herr Graf«, sagte er, »wenn es darauf ankäme, einen zwanzig Meter hohen Baum zu fällen, abzuschälen und zu Brettern zu zersägen, so würde ich das leidlich machen, wie ich wohl sagen darf; aber ich habe in meinem Leben