Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.zwei Vicomtes und fünf Baronen aufrechterhalten wurde, die der Marquis in der Emigrationszeit kennengelernt hatte. Diese Herren hatten ein Einkommen von höchstens achttausend Franken. Vier von ihnen hielten zur Quotidienne und drei zur Gazette de France. Einer brachte täglich ein paar Anekdoten aus dem Königlichen Schlosse mit, in denen die Bezeichnung großartig tausendmal vorkam. Julian bemerkte, daß er fünf Orden hatte, während die andern durchschnittlich nur drei besaßen.
Im Vorzimmer sah man zehn Lakaien in Livree. Den ganzen Abend über wurde alle Viertelstunden Eis und Tee herumgereicht. Gegen Mitternacht setzte man sich zu einem kleinen Souper mit Champagner.
Aus diesem Grunde hielt Julian manchmal bis zuletzt aus. Im übrigen begriff er kaum, wie man der üblichen Unterhaltung in diesem so prächtig vergoldeten Saale ernstlich Gehör schenken konnte. Zuweilen beobachtete er die Sprecher, um sich zu vergewissern, ob sie sich nicht über ihre eigenen Worte lustig machten. »Mein Maistre, den ich auswendig weiß, hat das hundertmal besser ausgedrückt«, dachte er, »und der ist doch schon reichlich langweilig!«
Julian war nicht der einzige, der diese geistige Öde bemerkte. Die einen setzten sich darüber hinweg, indem sie viel Eis aßen, die andern, indem sie sich schon im voraus darauf freuten, hinterher renommieren zu können: »Ich komme eben aus dem Hause La Mole, wo ich gehört habe, daß Rußland usw….«
Julian erfuhr von einem der Schmarotzer, daß Frau von La Mole vor noch nicht sechs Monaten die mehr als zwanzigjährige Ausdauer eines Getreuen belohnt hatte. Sie hatte nämlich dem armen Baron Le Bourguignon, der seit der Restauration Unterpräfekt war, zur Beförderung zum Präfekten verholfen.
Dieses große Ereignis hatte den Eifer aller andern neu belebt. Hatten sie sich vorher kaum über etwas zu ärgern vermocht, so ärgerten sie sich fortan über gar nichts mehr. Selten verriet sich ein offenbarer Mangel an Rücksicht, aber Julian hatte bei Tisch schon zwei oder drei kurze Gespräche zwischen dem Marquis und seiner Frau mit angehört, die für den oder jenen Tischgenossen peinlich waren. Dieses adelsstolze Ehepaar machte kein Hehl aus seiner aufrichtigen Mißachtung gegen jedermann, dessen Vorfahren nicht bereits zum höchsten Hofadel gehört hatten. Julian machte die Wahrnehmung, daß das Wort »Kreuzzug« das einzige war, was den Ausdruck tiefen Ernstes und echter Hochachtung auf ihre Gesichter lockte. Die gewöhnliche Achtung hatte immer einen Anflug von Herablassung.
Im Bannkreis all dieser Pracht und Langenweile hatte Julian eigentlich nur für Herrn von La Mole Interesse. Mit Vergnügen vernahm er gelegentlich, wie sich der Marquis dagegen verwahrte, irgend etwas zur Beförderung des armen Le Bourguignon getan zu haben. Das war in der Tat nur eine Aufmerksamkeit gegen die Marquise gewesen. Julian wußte die Wahrheit durch den Abbé Pirard.
Es war eines Morgens in der Bibliothek, während der Abbé mit Julian an dem ewigen Prozeß Frilair arbeitete, da fragte Julian plötzlich: »Herr Abbé, ist es eine meiner Pflichten, täglich an der Tafelrunde der Frau Marquise teilzunehmen, oder ist es eine Gnade, die man mir vergönnt?«
»Es ist eine außerordentliche Ehre«, erwiderte der Abbé betroffen. »Herr N***, der Akademiker, der Frau von La Mole seit fünfzehn Jahren treu den Hof macht, hat sie seinem Neffen, Herrn Tanbeau, nicht verschaffen können.«
»Herr Abbé«, für mich ist es die peinlichste Obliegenheit meines Amtes. Im Seminar habe ich mich weniger gelangweilt. Ich sehe alles gähnen, selbst Fräulein von La Mole, die doch an die Liebenswürdigkeit der Hausfreunde gewöhnt sein muß. Ich fürchte immer einzuschlafen. Bitte, erwirken Sie mir doch die Erlaubnis, in irgendeiner obskuren Herberge für zwei Franken essen zu dürfen.«
Der Abbé war als echter Emporkömmling sehr empfänglich für die Ehre, am Tische eines hohen Herrn sitzen zu dürfen. Er bemühte sich lebhaft, dieses Gefühl auch auf Julian zu übertragen, als sich plötzlich ein leichtes Geräusch hinter ihnen vernehmbar machte. Julian drehte sich um und erblickte Fräulein von La Mole, die offenbar gehorcht hatte. Er wurde rot. Sie war gekommen, um ein Buch zu holen, und hatte alles mit angehört. Julian gewann in ihren Augen. »Er ist nicht auf den Knien geboren«, dachte sie, »wie der alte Abbé«. Gott, wie häßlich der ist!«
Bei Tisch wagte Julian kaum, Fräulein von La Mole anzusehen, aber sie geruhte, ihn anzureden. An diesem Tage erwartete man viele Gäste. Sie forderte ihn auf, zu bleiben. Die jungen Pariserinnen lieben Herren eines gewissen Alters durchaus nicht, besonders wenn sie unsorgfältig gekleidet sind. Julian brauchte keinen großen Scharfsinn aufzuwenden, um zu merken, daß die Genossen des Herrn Le Bourguignon, die im Salon zurückgeblieben waren, die Ehre hatten, Fräulein Mathildens Witzen zur Zielscheibe zu dienen. An diesem Abend war sie aus irgendeiner Laune besonders spöttisch gegen die langweilige Gilde.
Fräulein von La Mole war der Mittelpunkt eines kleinen Kreises, der sich fast allabendlich hinter dem mächtigen Lehnstuhl der Marquise bildete. Dort fanden sich ein: der Marquis von Croisenois, der Graf Caylus, der Vicomte de Luz und zwei bis drei andre junge Offiziere und Freunde Norberts oder seiner Schwester. Die Herren saßen allesamt auf einem langen blauen Sofa. An dem einen Ende davon saß Julian schweigsam auf einem kleinen niedrigen Stuhl mit Strohgeflecht. Ihm gegenüber, ebenfalls auf einem Stuhl, thronte die strahlende Mathilde. Um dieses bescheidene Plätzchen wurde Julian von all den Schmeichlern des Hauses beneidet. Norbert hielt den jungen Sekretär seines Vaters in unauffälliger Weise dort fest, indem er hin und wieder das Wort an ihn richtete oder ein-oder zweimal seinen Namen nannte. Im Laufe des Abends erkundigte sich Fräulein von La Mole bei Julian, wie hoch der Berg sei, auf dem die Zitadelle von Besançon liegt. Julian konnte nicht sagen, ob der Berg höher sei als der Montmartre oder nicht, öfters lachte er von ganzem Herzen über das, was man in der kleinen Gruppe plauderte; aber er fühlte sich unfähig ähnlicher eigener Einfälle. Das war ihm wie eine fremde Sprache, die er wohl verstand, aber nicht selber sprechen konnte.
An diesem Tage führten Mathildens Freunde einen fortwährenden Krieg gegen die Leute, die im großen Saale auftauchten. Die Freunde des Hauses kamen zunächst daran, da man sie am besten kannte. Julian war begreiflicherweise ganz Auge und Ohr. Alles das interessierte ihn, sowohl die Opfer der Spöttereien wie die Art, sich zu mokieren.
»Ah, da ist Herr Descoulis!« sagte Mathilde. »Er hat auf die Perücke verzichtet. Wahrscheinlich will er es durch Genialität zum Präsidenten bringen. Der kahle Schädel soll die hohen Gedanken, die angeblich darin sind, anzeigen!«
»Der Mensch kennt alle Welt«, warf der Marquis von Croisenois ein. »Er verkehrt auch bei meinem Onkel, dem Kardinal. Er ist imstande, bei jedem seiner Freunde – und er hat deren zwei-bis dreihundert – jahrelang eine andre Maske zu tragen. Er versteht, sich Freundschaften im Schwung zu halten. Das ist sein Talent. Wie Sie ihn da sehen, hat er schon um sieben Uhr morgens vor der Tür eines seiner Freunde im Schmutz gestanden, und wir haben Winter. Er entzweit sich von Zeit zu Zeit und schreibt dann ein halbes Dutzend Streitbriefe. Dann versöhnt er sich wieder und schreibt abermals ein halbes Dutzend Briefe, diesmal voller Freundschaftsbeteuerungen. Sein Haupttrick aber ist der Herzenserguß des freimütigen Biedermannes, der nichts bei sich behalten kann. Dieses Manöver kommt zur Anwendung, wenn er jemanden um einen Dienst bitten will. Einer der Großvikare meines Onkels ist unübertrefflich in der Schilderung des Lebenslaufes dieses Herrn Descoulis seit der Restauration. Ich muß ihn einmal mitbringen.«
»Du mein Gott, ich glaube nicht an solche Klatscherei! Das ist Brotneid zwischen kleinen Leuten«, behauptete Graf Caylus.
»Herr Descoulis wird dermaleinst eine geschichtliche Größe sein«, fügte Croisenois hinzu. »Er hat zusammen mit dem Abbé de Pradt und den Herren von Talleyrand und Pozzo di Borgo die Restauration inszeniert.«
»Der Mann hat Millionen in den Händen gehabt«, sagte Norbert, »und ich begreife nicht, warum er hierherkommt, um die zuweilen abscheulichen Bemerkungen meines Vaters einzustecken. ›Wie oft haben Sie Ihre Freunde verraten, lieber Descoulis? ‹ hat er ihm neulich über den ganzen Tisch zugerufen.«
»War er denn wirklich ein Verräter?« fragte Fräulein von La Mole. »Ach, wer wäre kein Verräter!«
»Was sehe ich da?« sagte Graf Caylus zu Norbert. »Bei Ihnen verkehrt Sainclair, der berüchtigte Liberale? Zum Teufel, was tut der hier? Ich muß mich an ihn heranmachen, mit ihm reden, ihn zum Sprechen bringen. Man sagt, er wäre ein Genie …«
»Ich