Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.nur, du Halunke! Dein heutiges Gerede will ich dir heimzahlen! Das sind also die Sturmtrupps der Partei, zu deren Führern der Marquis zählt! Und der berühmte Mann, den er verleumdet! Wie viel Orden und Sinekuren hätte er einheimsen können, wenn er sich verkauft hätte. Nicht gerade dem niedrigen Ministerium des Herrn von Nerval, aber irgendeinem in der Reihe der leidlich anständigen Minister.«
Der Abbé Pirard winkte Julian von weitem. Herr von La Mole hatte eben ein paar Worte mit ihm geredet. Als Julian, der in diesem Augenblick mit niedergeschlagenen Augen der Jeremiade eines Bischofs zuhörte, endlich von ihm loskam und sich seinem Freunde widmen konnte, fand er ihn von dem abscheulichen kleinen Tanbeau mit Beschlag belegt. Dies kleine Scheusal haßte Pirard als den Quell von Julians guter Karriere und machte ihm nun den Hof.
»Wann wird der Tod uns von dieser Pestbeule befreien?« In derlei Ausdrücken von biblischer Kraftfülle wetterte der kleine Literat gerade wider den ehrenwerten Lord Holland. Seine Stärke beruhte darin, daß er in der Lebensgeschichte seiner Zeitgenossen vorzüglich Bescheid wußte. Soeben hatte er alle Persönlichkeiten, die unter dem unlängst in England zur Regierung gekommenen Wilhelm IV. zu einigem Einfluß gelangen konnten, einer flüchtigen Musterung unterzogen.
Der Abbé ging in den angrenzenden Salon, und Julian folgte ihm.
»Der Marquis liebt die Literaten nicht. Ich sage Ihnen dies ausdrücklich. Es ist seine einzige Abneigung. Wenn Sie sich auf Latein oder Griechisch verstehen, wenn Sie in der persischen, ägyptischen und indischen Geschichte bewandert sind, so wird er Sie ob Ihrer Gelehrsamkeit schätzen und fördern. Aber schreiben Sie nie eine Seite Französisch, und besonders nicht über schwierige Dinge, die über Ihre gesellschaftliche Stellung hinausgehen. Dann sind Sie ihm ein Federfuchser, ein Ekel … Wie? Sie wohnen im Hause eines Grandseigneurs und kennen den Ausspruch des Herzogs von Castries über Dalembert und Rousseau nicht? ›So einer will über alles urteilen und hat keine tausend Taler Rente! ‹«
»Es gibt keine Geheimnisse!« dachte Julian, »hier ebensowenig wie im Seminar.« Er besaß acht oder zehn Seiten eines Herzensergusses, eine Art Nachruf auf den alten Stabsarzt, der ihn, wie er glaubte, zum Manne gemacht hatte. »Und dies kleine Heft«, sagte Julian sich, »ist immer eingeschlossen gewesen.« Er ging auf sein Zimmer, verbrannte das Manuskript und kehrte in den Salon zurück. Die geistreichen Halunken hatten ihn inzwischen verlassen; nur die Leute mit Orden waren noch da.
Eine Tafel ward vollständig gedeckt hereingetragen. Man setzte sich. Zugegen waren unter anderen sieben oder acht sehr adlige, sehr fromme und sehr gezierte Damen im Alter von dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Die Marschallin von Fervaques, eine glänzende Erscheinung, kam noch und entschuldigte sich wegen ihres späten Kommens. Es war nach Mitternacht. Sie nahm neben der Marquise Platz. Julian war tief bewegt. Sie hatte dieselben Augen und ganz den Blick wie Frau von Rênal.
Der Kreis um Fräulein von La Mole war noch ziemlich groß. Sie und ihre Freunde vertrieben sich die Zeit mit Witzen über den bedauernswerten Grafen Thaler, den einzigen Sohn eines berüchtigten Juden, der zu allbekanntem Reichtum gekommen war, indem er den Königen Geld lieh, damit sie die Völker in Kriege stürzen konnten. Als der Jude starb, hinterließ er seinem Sohn neben einem nur zu bekannten Namen eine Monatsrente von hunderttausend Talern. Diese heiklen Lebensumstände hätten entweder einen schlichten Charakter oder große Willenskraft erheischt. Aber unglücklicherweise war der Graf ein Alltagsmensch mit allerhand Prätentionen, die ihm seine Schmeichler eingeredet hatten.
Graf Caylus behauptete, man hätte ihn auf die Absicht gebracht, sich um Fräulein von La Mole zu bewerben! (Es sei bemerkt, daß sich um sie schon der Marquis von Croisenois, künftiger Herzog mit hunderttausend Franken Rente, bemühte.)
»Ach, beschuldigen Sie ihn doch nicht, Absichten zu haben!« bemerkte Norbert mitleidig.
Was dem armen Grafen Thaler wohl am meisten fehlte, das war in der Tat die Fähigkeit, etwas zu wollen. Somit wäre er würdig gewesen, auf einem Throne zu sitzen. Indem er von jedermann Rat annahm, hatte er niemals den Mut, irgend etwas durchzuführen.
Allein sein Gesichtsausdruck reiche hin, sie immerfort vergnügt zu machen, meinte Fräulein Mathilde. Es lag ein sonderbares Gemisch von Erwartung und Enttäuschung darin, aber von Zeit zu Zeit konnte man deutliche Spuren seines Dünkels aus dem scharfen Ton heraushören, den der reichste Mann Frankreichs sich leisten konnte, zumal er erst sechsunddreißig Jahre alt und sonst keine unüble Erscheinung war.
»Er ist schüchtern-frech«, meinte Croisenois. Graf Caylus, Norbert und zwei, drei andre junge Dandys verulkten ihn nach Herzenslust, ohne daß er es merkte, und ekelten ihn schließlich weg, als es ein Uhr schlug.
»Lassen Sie Ihre berühmten Araber bei dem Wetter vor der Tür warten?« fragte Norbert.
»Nein, heute holt mich ein neues Gespann ab, das nicht so teuer ist«, antwortete Herr von Thaler. »Das Sattelpferd kostet mich fünftausend Franken. Das Handpferd ist nur zweitausend wert. Natürlich benutze ich diese Pferde nur bei Nacht. Sie traben aber genauso wie meine Araber.«
Norberts Bemerkung erinnerte den semitischen Grafen daran, daß ein Gentleman wie er Pferdefreund sein müsse und daß man seine Tiere im Regen nicht so lange stehenlassen dürfe. Daraufhin brach Thaler auf. Unter Spötteleien über ihn gingen die andern Herren einen Augenblick später.
»So war es mir vergönnt«, dachte Julian, als er sie auf der Treppe lachen hörte, »mein Gegenstück zu sehen. Ich habe keine hundert Taler Zinsen im Jahre und stand eben neben einem Manne, der in jeder Stunde soviel zu verzehren hat. Und doch machte man sich über ihn lustig! Das kuriert einen vom Neid.«
35. Kapitel
Nach mehrmonatiger Probezeit hatte Julian vom Intendanten des Hauses soeben die dritte Vierteljahrsrate seines Gehalts empfangen. Es stand jetzt folgendermaßen um ihn. Herr von La Mole hatte ihn zur Verwaltung seiner Güter in der Bretagne und Normandie herangezogen, so daß er häufig Reisen dorthin machen mußte. Auch war ihm die Führung des Briefwechsels in dem berühmten Prozeß mit dem Abbé von Frilair anvertraut. Pirard hatte ihn hierüber genau unterrichtet.
Aus den kurzen Bemerkungen, die der Marquis auf den Rand aller möglichen ihm zugesandten Schriftstücke kritzelte, setzte Julian Briefe auf, die vom Marquis fast immer ohne weiteres unterzeichnet wurden.
In der Priesterschule klagten Julians Lehrer oft über seinen geringen Fleiß, sahen ihn aber trotzdem als einen ihrer begabtesten Schüler an. Die mannigfachen Arbeiten, die Julian mit dem Eifer passionierten Ehrgeizes erledigte, beraubten ihn sehr bald seiner frischen Farbe, die er aus der Provinz mitgebracht hatte. Seine Blässe war in den Augen seiner Mitschüler ein Vorzug. Übrigens fand Julian, daß sie viel weniger boshaft waren und viel weniger vor dem Gelde knieten als die in Besançon.
Der Marquis hatte ihm ein Pferd zur Verfügung gestellt. Da Julian aber befürchtete, auf seinen Spazierritten Seminaristen zu begegnen, hatte er ihnen gesagt, dieser Sport sei ihm vom Arzte verordnet. Der Abbé Pirard hatte ihn in verschiedene Gesellschaften von Jansenisten eingeführt. Julian war erstaunt. Der Begriff Religion war in seinem Geiste unzertrennlich mit Heuchelei und Hoffnung auf Geldgewinn verbunden. Um so mehr bewunderte er diese frommen und sittenstrengen Männer, die nie an ihren Beutel dachten. Mehrere Jansenisten hatten ihn ins Herz geschlossen und gaben ihm Ratschläge. Eine neue Welt erschloß sich ihm. Er lernte in diesem Kreise auch einen Grafen Altamira kennen, einen sechs Fuß langen Mann, den man in seiner Heimat als Karbonaro zum Tode verurteilt hatte. Er war eine tiefreligiöse Natur. Die merkwürdige Mischung von Frömmigkeit und Freiheitsliebe, die Julian noch nie kennengelernt, dünkte ihn ein Wunder.
Mit Norbert von La Mole stand Julian auf kühlem Fuße. Der junge Graf hatte gefunden, daß Julian auf die Scherze einiger seiner Freunde allzu lebhaft Bescheid gab. Ein-oder zweimal hatte Julian eine Taktlosigkeit begangen. Seitdem war er darauf bedacht, Fräulein von La Mole nie anzureden. Man war im Hause La Mole stets von ausgesuchter Höflichkeit gegen ihn, aber er fühlte, daß sein Ansehen ein wenig gesunken war. Sein gesunder Provinzialwitz erklärte sich diese Tatsache mit dem bekannten Sprichwort: »Solange neu, solange treu!« Wohl sah er auch bereits schärfer als in den ersten Tagen. Und vor allem war sein anfängliches Entzücken über die Pariser Urbanität verflogen.
Sobald er