Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.zu werden, mit welchem Gefühl von Haß, ja fast Abscheu Julian Englands Boden betrat. Daran war seine wahnsinnige Leidenschaft für Bonaparte schuld. Er sah in jedem Offizier einen Sir Hudson Lowe, in jedem vornehmen Herrn einen Lord Bathurst, den Anstifter der Schändlichkeiten auf Sankt Helena, der zur Belohnung dafür zehn Jahre lang ein Ministerportefeuille innehatte.
In London kam er in eine Hochschule des Dandytums. Er lernte etliche junge russische Edelleute kennen und befreundete sich mit ihnen. Sie weihten ihn in die letzten Geheimnisse der Lebenskunst ein.
»Sie haben geniale Anlagen, mein lieber Sorel«, sagte man ihm. »Sie haben von Natur jenes eiskalte Benehmen, das einem vom ersten Augenblick zuruft: ›Bitte, zehn Schritt vom Leibe! ‹ Mancher erreicht das erst nach mühevoller Selbstschulung.« »Das neunzehnte Jahrhundert haben Sie aber noch nicht recht begriffen«, erklärte ihm Fürst Korasoff. »Tun Sie immer das Gegenteil von dem, was man von Ihnen erwartet! Ich gebe Ihnen mein Wort: Damit kommen Sie heutzutage am weitesten. Seien Sie weder überspannt noch unnatürlich! Sonst erwartet man von Ihnen Narrheiten oder Zierereien, und dann ist das ganze Rezept hinfällig.«
Julian bedeckte sich eines Tages mit Ruhm im Salon des Herzogs von Fitze-Folke, der ihn zusammen mit dem Fürsten Korasoff zum Diner eingeladen hatte. Man mußte eine Stunde lang warten. Die Art, wie sich Julian inmitten von zwanzig Geduldigen benahm, bildete noch lange das Gespräch der jungen Diplomaten Londons. Seine Miene war unbezahlbar.
Obwohl ihm seine Freunde, die Dandys, davon abredeten, bestand Julian darauf, den berühmten Philipp Vane zu sehen, den einzigen Philosophen, den England seit Locke gehabt hat. Julian besuchte ihn, als gerade das siebente Jahr seiner Gefangenschaft zu Ende war. »Die Aristokratie läßt in England nicht mit sich spaßen!« dachte er bei sich. »Mehr noch! Vane ist entehrt, verächtlich gemacht…«
Er fand Vane gesund und munter. Die Wut der Aristokraten hatte ihm den Humor erhalten. Als Julian das Gefängnis wieder verließ, meinte er: »Das ist der einzige fröhliche Mensch, den ich in England gesehen habe!«
Vane hatte unter anderem zu ihm gesagt: »Das Despotentum hat keine besseren Helfershelfer als den Gottesbegriff…«
Genug! Er war Zyniker.
Bei seiner Rückkehr fragte ihn Herr von La Mole: »Welche ergötzliche Charakteristik bringen Sie mir aus England mit?«
Julian schwieg.
»Welche Charakteristik bringen Sie mit, gleichviel ob ergötzlich oder nicht?« wiederholte der Marquis lebhaft.
»Erstens«, begann Julian, »der vernünftigste Engländer ist eine Stunde am Tage verrückt. Er wird vom Dämon des Selbstmordes geplagt, dem eigentlichen Gotte des Landes. Zweitens: Geist und Genie verlieren fünfundzwanzig Prozent ihres Wertes, wenn man sie nach England exportiert. Und drittens: nichts auf der Welt ist so schön, wunderbar und rührend wie die englische Landschaft.«
»Nun will ich Ihnen einmal was sagen«, erwiderte der Marquis. »Erstens, warum haben Sie auf dem Ball beim russischen Botschafter gesagt, daß es in Frankreich dreimalhunderttausend junge Leute von fünfundzwanzig Jahren gäbe, die leidenschaftlich den Krieg herbeiwünschten? Glauben Sie, daß Monarchen derlei gerne hören?«
»Man weiß nicht, was man mit unsern großen Diplomaten reden soll«, antwortete Julian. »Sie haben die Manie, ernsthafte Diskussionen zu führen. Wenn man sich nun an die Gemeinplätze der Zeitungen hält, so gilt man für geistlos. Erlaubt man sich aber etwas Wahres und Neues, dann sind sie erstaunt, und am andern Morgen um sieben Uhr lassen sie einem durch den ersten Botschaftssekretär sagen, daß man sich unpassend benommen habe.«
»Nicht übel!« lachte der Marquis. »Übrigens wette ich, Herr Psycholog, daß Sie nicht erraten haben, weswegen Sie eigentlich in England gewesen sind.«
»Verzeihen Euer Exzellenz«, erwiderte Julian, »ich bin dort gewesen, um einmal wöchentlich bei Seiner Majestät Botschafter zu dinieren, dem höflichsten Menschen auf Gottes Erdboden…«
»Sie sind dort gewesen, um sich diesen Orden zu holen«, sagte der Marquis. »Ich will nicht, daß Sie Ihren schwarzen Rock an den Nagel hängen, und bin doch an den amüsanten Ton gewöhnt, auf den ich mit Ihnen im blauen Rocke gekommen bin. Bis auf weiteres merken Sie sich dies: Wenn ich das rote Bändchen sehe, sind Sie der jüngste Sohn meines Freundes, des Herzogs von Chaulnes, der, ohne es zu ahnen, seit einem halben Jahre angehender Diplomat ist… Verstehen Sie mich wohl«, setzte der Marquis sehr ernst hinzu, indem er Julians Dankesbezeigungen unterbrach. »Ich will Sie durchaus nicht aus Ihrer Laufbahn herausreißen. Es ist das immer ein Fehler und Nachteil, sowohl für den Beschützer wie für den Schützling. Wenn Sie meiner Geschäftsangelegenheiten überdrüssig sind oder wenn Sie mir nicht mehr behagen, werde ich Ihnen eine gute Pfarre verschaffen wie unserm Freunde, dem Abbé Pirard, und die Sache ist erledigt.«
Des Marquis letzte Worte klangen überaus trocken. Der Orden kam Julians Stolz zugute. Fortan redete er viel mehr; er fühlte sich weniger oft verletzt und wähnte seltener, die Zielscheibe gewisser Bemerkungen zu sein, die nicht gerade schmeichelhaft sind und bei lebhafter Unterhaltung doch dem und jenem entschlüpfen.
Dem Orden verdankte er auch einen sonderbaren Besuch: den des Barons von Valenod, der nach Paris kam, um dem Minister für seine Erhebung in den Adelsstand zu danken und sich mit ihm zu verständigen. Er sollte an Herrn von Rênals Stelle Bürgermeister von Verrières werden.
Julian hätte laut auflachen mögen, als Valenod ihm erzählte, Herr von Rênal habe sich als Jakobiner entpuppt. Tatsächlich war der neubackene Baron bei den bevorstehenden Neuwahlen der Kandidat der Regierung, während bei der großen Wahlversammlung des eigentlich stark legitimistischen Kreises Herr von Rênal von den Liberalen aufgestellt war.
Vergeblich versuchte Julian, etwas über Frau von Rênal zu erfahren. Der Baron erinnerte sich offenbar ihrer alten Rivalität und hüllte sich in undurchdringliches Schweigen. Schließlich bat er Julian um die Stimme seines Vaters bei den in Aussicht stehenden Wahlen. Julian versprach zu schreiben.
»Sie sollten mich dem Herrn Marquis von La Mole vorstellen, Herr Ritter!«
»Wirklich, das sollte ich!« dachte Julian. »Aber solch einen Schurken?«
»Offen gestanden«, antwortete er, »ich stelle im Hause La Mole zu wenig vor, um jemanden einführen zu können.«
Julian pflegte dem Marquis alles zu sagen. Am Abend erzählte er ihm von Valenods Wunsch und seinem Tun und Treiben seit 1814.
Mit sehr ernster Miene sagte der Marquis: »Sie werden mir den neuen Baron nicht nur morgen vorstellen, sondern ich werde ihn auch zu übermorgen zum Diner einladen. Er ist einer unsrer künftigen Landräte…«
»In diesem Falle«, erwiderte Julian kalt, »bitte ich für meinen Vater um die Stelle des Armenamts Vorstands.«
»Sehr gut!« sagte der Marquis belustigt. »Bewilligt. Ich war auf Moralitäten gefaßt. Sie machen sich.«
Valenod erzählte unter anderem, daß der Lotterieeinnehmer von Verrières kürzlich gestorben war. Julian machte sich den Spaß, die Stelle Herrn Cholin zu verschaffen, jenem alten Schwachkopf, dessen Bittschrift er damals im Zimmer des Herrn von La Mole gefunden hatte. Während er das Empfehlungsschreiben an den Finanzminister zur Unterzeichnung vorlegte, sagte er die Bittschrift aus dem Gedächtnisse her. Der Marquis mußte darüber recht herzlich lachen.
Kaum war Cholin ernannt, da erfuhr Julian, daß der Kreisausschluß den Antrag gestellt hatte, die Lotterieeinnahme dem verdienstvollen Landvermesser Gros zu geben. Der hochherzige Mann hatte nur 1400 Franken zu verzehren, wovon er auch Arme unterstützte.
Betroffen sah Julian, was er angerichtet hatte. »Das ist gar nichts!« rief er aus. »Ich werde noch ganz andre Ungerechtigkeiten begehen müssen, wenn ich es zu etwas gebracht habe, und obendrein genötigt sein, sie hinter gefühlvoller Schönrederei zu verbergen. Armer Gros! Du hast den Orden verdient, und ich habe ihn bekommen! Und ich muß im Sinne der Regierung handeln, die ihn mir verliehen hat!«
38. Kapitel
Eines Tages kam Julian von dem reizenden Gute Villequier am Ufer der Seine zurück, für das Herr von La Mole allezeit besondere Vorliebe hegte,