Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.wiederbringen könnten, zu der ihnen Mirabeau verhelfen hat.
Ein Schwarm junger Herren hatte sich Mathilden genähert. Es war ihr nicht entgangen, daß sie Altamira nicht bezaubert hatte, und so war sie über seinen Weggang verstimmt. Jetzt, als er mit dem exotischen General sprach, sah sie seine schwarzen Augen leuchten. Da schaute sie sich die jungen Franzosen mit tiefem Ernst an, wie ihn ihr keine Nebenbuhlerin nachahmen konnte. »Wer unter ihnen«, dachte sie, »möchte sich zum Tode verurteilen lassen, selbst wenn sich ihm die beste Gelegenheit dazu darböte?«
Ihr eigentümlicher Blick schmeichelte solchen, die wenig Geist hatten, und beunruhigte die andern. Sie befürchteten immer irgendeine urplötzliche scharfe Bemerkung, der sie schwerlich gewachsen waren.
»Hohe Geburt bringt hundert Eigenschaften mit sich, deren Nichtvorhandensein mir unerträglich ist. Ich sehe es an Julian«, dachte Mathilde. »Aber hinwiederum verkümmert sie alle die seelischen Eigenschaften, um derentwillen man zum Tode verurteilt werden kann.«
In dem Augenblick sagte jemand neben ihr: »Graf Altamira ist der zweite Sohn des Fürsten von San Nazaro-Pimentel. Ein Pimentel versuchte die Rettung Konradins, der 1268 enthauptet worden ist. Die Pimentels sind eine der vornehmsten Familien Neapels.«
»Schau! schau!« sagte sich Mathilde im stillen. »Ein schöner Beweis für meine Behauptung, hohe Geburt nähme dem Charakter die Energie, ohne die man nicht zum Tode verurteilt werden kann! Offenbar ist es heute abend mein Schicksal, dummes Zeug zu reden… Seien wir Weib und tanzen wir!«
Sie gab der Werbung des Marquis von Croisenois nach, der sie seit einer Stunde um einen Galopp bat. Um sich über ihr Mißglück in der Philosophie zu trösten, nahm sie sich vor, als Weib unwiderstehlich zu sein. Croisenois war entzückt.
Aber weder der Tanz noch der Wunsch, einem der hübschesten Kavaliere zu gefallen, konnte Mathilde zerstreuen. Ihr Triumph war vollkommen: sie war die Königin des Balles. Sie wußte es, aber sie blieb kalt.
»Was für ein schales Leben werde ich mit einem Manne wie Croisenois führen!« sagte sie sich, als er sie eine Stunde später auf ihren Platz zurückgeleitete. »Wo könnte ich nach den sechs Monaten meiner Abwesenheit ein Vergnügen finden«, seufzte sie niedergeschlagen, »wenn nicht auf dem Balle, der den Ehrgeiz aller Pariserinnen reizt! Zudem werde ich von einer Gesellschaft, wie ich sie mir nicht vornehmer wünschen kann, mit Huldigungen überhäuft. Es sind keine Bürgerlichen hier, außer einigen Pairs und ein oder zwei Julians. Und doch«, setzte sie mit wachsender Schwermut hinzu, »alle Vorzüge hat mir das Schicksal gegeben, nur das Glück nicht.
Am zweifelhaftesten sind mir von meinen Vorzügen noch die, von denen man mir den ganzen Abend gesprochen hat. Geist – glaube ich –, den hab’ ich, denn ich jage offenbar jedem Manne Furcht ein. Wenn sich einer an ein ernstes Thema wagt, so ist er nach fünf Minuten außer Atem; aber wenn er endlich versteht, was ich ihm eine geschlagene Stunde lang immer wieder vorgepredigt habe, dann tut er, als habe er den Nordpol entdeckt. Ich bin schön; ich besitze diesen Vorzug, für den Frau von Staël alles geopfert hätte, und doch sterbe ich tatsächlich vor Langerweile. Ist Aussicht vorhanden, daß ich mich weniger langweilen werde, wenn ich meinen Namen mit dem des Marquis von Croisenois vertauscht habe?«
»Aber, du mein Gott«, fuhr sie fort, und am liebsten hätte sie geweint, »ist er nicht ein tadelloser Mann? Er ist das Musterstück der Erziehung unsres Jahrhunderts. Man kann ihn nicht ansehen, ohne daß er etwas Liebenswürdiges und sogar Gescheites zu sagen weiß. Und Mut besitzt er auch … Übrigens: ein sonderbarer Mensch, dieser Sorel…« Ihr Auge verlor seinen matten Ausdruck und funkelte vor Ärger. »Ich habe ihm gesagt, daß ich mit ihm zu sprechen hätte, und er geruht nicht wieder zum Vorschein zu kommen.«
39. Kapitel
»Du bist schlechter Laune«, sagte die Marquise zu ihrer Tochter. »Ich mache dich darauf aufmerksam: das sieht auf einem Balle nicht gut aus.«
»Ich habe nur Kopfschmerzen«, antwortete Mathilde mit ungnädiger Miene. »Es ist zu heiß hier.«
In diesem Augenblick fiel der alte Baron Tolly, als ob er Mathildens Ausspruch bestätigen wollte, in Ohnmacht und mußte hinausgetragen werden. Man sprach von einem Schlaganfall. Das Ereignis war peinlich.
Mathilde hatte nicht den geringsten Anteil daran. Es war einer ihrer Grundsätze, alte Leute ebenso wie Menschen, die Trauriges erzählten, einfach zu übersehen. Sie tanzte, um der Unterhaltung über den Schlaganfall zu entgehen, der übrigens keiner war, denn zwei Tage darauf erschien der Baron wieder auf der Bildfläche.
»Sorel kommt einfach nicht!« sagte sie sich nach dem Tanze. Sie suchte ihn mit den Augen. Da erblickte sie ihn in einem der andern Säle. »Sonderbar! Er scheint die Blasiertheit und Kälte, die so natürlich an ihm waren, abgelegt zu haben. Er sieht gar nicht mehr wie ein Engländer aus …
Er unterhält sich mit dem Grafen Altamira, meinem ehemaligen Todeskandidaten!« fuhr sie in ihrem Selbstgespräch fort. »Sein Auge glüht von düsterem Feuer. Er sieht aus wie ein verkappter Prinz. Sein Blick ist noch einmal so hochmütig wie sonst…«
Julian näherte sich dem Platze, wo Mathilde stand, noch immer im Gespräch mit Altamira. Sie sah ihm fest und forschend ins Gesicht und suchte in seinen Zügen nach den hohen Eigenschaften, die einem Manne die Ehre verschaffen können, zum Tode verurteilt zu werden.
»Ja«, sagte er eben zum Grafen Altamira, als er an Mathilde vorbeikam, »Danton, das war ein Mann!«
»Himmel!« sagte sich Mathilde. »Sollte er ein zweiter Danton sein? Aber er hat ein so edles Gesicht, und Danton war mordshäßlich, ein Schlächter, wenn ich nicht irre…«
Julian war ganz in ihrer Nähe. Ohne Zaudern rief sie ihn an. Sie war sich klar und stolz darauf, daß sie eine für eine junge Dame außergewöhnliche Frage stellen wollte.
»War Danton nicht ein Schlächter?« fragte sie ihn.
»Ja, für gewisse Leute«, antwortete Julian mit kaum verhohlener Verachtung und noch immer flammenden Augen. »Zum Leidwesen der hochwohlgeborenen Leute war er Advokat in Mery an der Seine; das heißt, gnädiges Fräulein«, setzte er in boshaftem Tone hinzu, »er hat genauso angefangen wie verschiedene Pairs, die hier zu sehen sind. Allerdings hatte Danton in den Augen von Ästheten einen Riesenfehler: er war grundhäßlich.«
Die letzten Worte stieß er hastig hervor, in einer ungewöhnlichen und zweifellos nicht besonders höflichen Art und Weise. Julian wartete einen Augenblick, den Oberkörper leicht vorgebeugt, mit stolz-demütigem Ausdruck. Sichtlich wollte er sagen: »Ich werde bezahlt, um Ihnen Rede und Antwort zu stehen, und ich lebe von meinem Gehalte.« Er würdigte Mathilde keines Blickes. Sie stand mit ihren schönen weitgeöffneten Augen, die auf ihm ruhten, wie eine Sklavin vor ihm. Endlich, als das Schweigen kein Ende nahm, blickte er sie an, wie ein Knecht seinen Herrn anblickt, um dessen Befehle entgegenzunehmen. Seine Augen begegneten dem vollen Blick Mathildens, der immer noch mit seltsamem Ausdruck auf ihm lag. Trotzdem entfernte er sich von ihr mit merkbarer Eile.
»Er, der wirklich schön ist«, sagte sich Mathilde, als sie endlich aus ihrer Träumerei erwachte, »er singt solch ein Loblied auf die Häßlichkeit! Niemals zieht er seine eigne Person in Betracht. Er ist nicht wie Caylus oder Croisenois. Dieser Sorel hat etwas von der Art und Weise meines Vaters, wenn er Napoleon auf dem Balle so schön nachmacht.« Sie hatte Danton ganz und gar vergessen. »Heute abend langweile ich mich entschieden!« Sie ergriff den Arm ihres Bruders und zwang ihn zu seinem großen Kummer, mit ihr einen Rundgang durch den Saal zu machen. Sie hatte den Einfall, Julians Unterhaltung mit dem zum Tode Verurteilten zu verfolgen.
Das Gedränge war überaus groß. Dennoch gelang es ihr, die beiden einzuholen, gerade als Altamira zwei Schritte vor ihr an eine Kredenz trat, um sich Eis zu nehmen. Halb umgewandt sprach er mit Julian weiter. Da erblickte er einen betreßten Arm, der sich Eis von derselben Stelle nahm. Die Stickerei erregte offenbar seine Aufmerksamkeit, denn er drehte sich ganz um, in der Absicht, die Person zu sehen, die zu dem Ärmel gehörte. Alsbald nahmen seine edlen treuherzigen Augen einen etwas verächtlichen Ausdruck an.
»Sehen Sie diesen Herrn«, sagte er ziemlich leise zu Julian, »das ist der Fürst von Araceli, der sardinische Gesandte. Heute vormittag