Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

Читать онлайн книгу.

Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


Скачать книгу
einer Handbewegung frei nach Talma.

      Als die Rede auf irgendeine Blume kam, zitierte Julian etliche Stellen aus Virgils Georgica. Des weiteren bemerkte er, nichts ließe sich mit den Versen des Abbé Delille vergleichen. Mit einem Worte, er schmeichelte dem Akademiker auf jede Weise. Schließlich sagte er im gleichgültigsten Tone: »Ich vermute, Fräulein von La Mole hat einen Onkel beerbt. Sie trägt Trauer.«

      »Was!« sagte der Akademiker, indem er plötzlich stehenblieb. »Sie gehören zum Hause und kennen ihre Verschrobenheiten noch nicht? Es ist in der Tat sonderbar, daß ihre Mutter dergleichen nachsieht. Aber, unter uns gesagt, ist es mit der Charakterstärke in diesem Hause so eine Sache. Fräulein Mathilde besitzt sie für alle andern mit, und so regiert sie über alle. Heute haben wir nämlich den 30. April…« Damit brach der Akademiker ab und sah Julian verschmitzt an. Dieser lächelte möglichst verständnisinnig.

      »Welchen Zusammenhang mag es zwischen der Hegemonie im Hause, dem Tragen eines schwarzen Kleides und dem 30. April geben? Ich muß doch viel dümmer sein, als ich dachte.«

      »Ich muß Ihnen gestehen…«, sagte er zu dem Akademiker und sah ihn fragend an.

      »Machen wir einen Gang durch den Garten«, schlug dieser vor und nahm mit Entzücken die Gelegenheit wahr, eine lange feingedrechselte Erzählung vom Stapel lassen zu können.

      »Sollte es wirklich der Fall sein, daß Sie nicht wissen, was sich am 30. April 1574 ereignet hat?«

      »Wo?« fragte Julian verwirrt.

      »Auf dem Grève-Platz.«

      Julian war so erstaunt, daß ihm selbst diese Ortsbezeichnung nicht auf die Spur half. Der Grève-Platz war seit uralters her der Ort der öffentlichen Hinrichtungen. Neugier und die Erwartung, irgendeine tragische Begebenheit zu hören, die so recht zu seinem Charakter paßte, brachten in seine Augen jenes Flackern, das ein Erzähler so gern bei seinen Zuhörern sieht. Der Akademiker war entzückt, ein jungfräuliches Ohr zu finden, und erzählte nun lang und breit, warum der schönste junge Mann seines Jahrhunderts, Bonifaz von La Mole, und sein Freund, Hannibal von Coconasso, ein piemontesischer Edelmann, am 30. April 1574 auf dem Grève-Platz enthauptet worden waren. »La Mole war der heißgeliebte Favorit der Königin Margarete von Navarra – und beachten Sie«, setzte der Akademiker hinzu, »daß sich Fräulein von La Mole Mathilde-Margarete nennt. La Mole war zugleich der Günstling des Herzogs von Alençon und der Busenfreund des Königs von Navarra, des späteren Heinrichs IV., des Ehemannes seiner Geliebten. Am Fastnachtstage des Jahres 1574 weilte der Hof mit dem unglücklichen König Karl IX., der im Sterben lag, in Saint-Germain. La Mole wollte die ihm befreundeten Prinzen entführen, die von der Königin Katharina von Medici am Hofe gefangengehalten wurden. Er ließ zweihundert Reiter vor die Mauern von Saint-Germain rücken. Aber der Herzog von Alençon hatte keinen Mut, und La Mole verfiel dem Henker.

      Was nun Fräulein Mathilde ganz besonders rührt, wie sie mir selbst vor sechs oder sieben Jahren einmal eingestanden hat, als sie zwölf Jahre alt war …, schon damals war sie ein Mordsmädel…, sage ich Ihnen …« Der Akademiker seufzte und blickte gen Himmel. »Was sie bei dieser politischen Katastrophe geradezu erschüttert hat, das ist die Tatsache, daß die Königin Margarete von Navarra, die sich in einem Hause am Grève-Platz verborgen gehalten hatte, es wagte, den Henker um das Haupt ihres Geliebten bitten zu lassen. In der Nacht darauf, um Mitternacht, nahm sie das Haupt mit in ihren Wagen und begrub es eigenhändig in einer Kapelle am Fuße des Montmartre.«

      »Großartig!« rief Julian ergriffen.

      »Fräulein Mathilde verachtet ihren Bruder, weil er, wie Sie sehen, die alte Historie nicht in Ehren hält und am 30. April keine Trauer anlegt. Seit dieser berühmten Hinrichtung tragen übrigens alle männlichen Mitglieder der Familie zum Andenken an die Freundschaft von La Mole und Coconasso, der sich, als echter Italiener, Hannibal nannte, die Vornamen Bonifaz und Hannibal. Es bleibe nicht unerwähnt …«, setzte der Akademiker hinzu, indem er seine Stimme dämpfte, »der Coconasso war, nach Karls IX. eigenem Ausspruch, einer der grausamsten Mordgesellen der Bartholomäusnacht, am 24. August 1572 … Aber wie ist es möglich, mein lieber Sorel, daß Sie, ein Mitglied dieses Hauses, von alledem nichts wissen?«

      »Also deshalb hat Fräulein von La Mole ihren Bruder heute bei Tisch zweimal Hannibal genannt. Ich glaubte mich verhört zu haben.«

      »Das sollte ein Vorwurf sein. Wie gesagt, es ist merkwürdig, daß die Marquise derartige Narrheiten duldet…«

      Es folgten ein paar satirische Bemerkungen. Die gehässige Freude, die in den Augen des Akademikers gleißte, berührte Julian unangenehm. »Wir benehmen uns wie zwei Dienstboten, die über ihre Herrschaft klatschen«, dachte er. »Aber an so einem Akademiker darf mich nichts verwundern.« Julian hatte ihn nämlich eines Tages auf den Knien vor der Marquise überrascht, wie er sie bat, einem seiner Neffen in der Provinz einen Tabakverschleiß zu erwirken.

      Am Abend machte es eine kleine Kammerjungfer des Fräuleins von La Mole, die Julian nachstellte wie ehemals Elise, ihm klar, daß die Trauer ihrer Herrin durchaus nicht den Zweck habe, die Blicke auf sich zu ziehen. Dies seltsame Gebaren wurzelte in ihrem Charakter. Sie hegte wirkliche Liebe für den heißgeliebten Favoriten der geistreichsten Königin ihres Jahrhunderts, für Bonifaz von La Mole, der den Tod erlitten, weil er seine fürstlichen Freunde befreien wollte.

      An vollkommene Natürlichkeit gewöhnt, wie sie ihm aus Frau von Rênals ganzem Wesen entgegengetreten war, glaubte Julian an allen Pariser Damen immer nur Affektiertheit zu erblicken. Wenn er nur im geringsten trüb gestimmt war, wußte er ihnen nichts zu sagen. Fräulein von La Mole machte eine Ausnahme. Julian fing an, die besondere Art von Schönheit, die sich aus vornehmem Wesen ergibt, nicht mehr für Herzlosigkeit zu halten, und führte längere Gespräche mit ihr, wenn sie nach Tisch im Garten vor den offenen Salonfenstern zusammen auf und ab gingen, wie dies bisweilen geschah.

      Eines Tages gestand sie ihm, daß sie sich mit der Lektüre des Leben galanter Damen vom Seigneur de Brantôme beschäftigte und mit Agrippa d’Aubigne. »Sonderbare Lektüre!« dachte Julian. »Zumal, da ihr die Marquise nicht einmal gestattet, die Romane von Walter Scott zu lesen!«

      Ein andermal erzählte sie ihm mit freudestrahlenden Augen, die von der Aufrichtigkeit ihrer Bewunderung zeugten, von einer jungen Dame unter der Regierung Heinrichs III., die ihren Gatten erdolchte, nachdem sie ihn der ehelichen Untreue überführt hatte. Das hatte sie eben in den Denkwürdigkeiten von L’Etoile gelesen.

      Julian fühlte sich in seiner Eigenliebe geschmeichelt. Ein so viel umworbenes Wesen, das nach dem Ausspruche des Akademikers das ganze Haus regierte, geruhte, sich mit ihm auf eine Weise zu unterhalten, die an Freundschaft streifte.

      »Ich habe mich geirrt!« sagte er sich aber alsbald. »Das ist nicht Vertraulichkeit. Ich spiele die Rolle des Vertrauten im klassischen Trauerspiel. Weiter nichts. Sie hat das Bedürfnis zu plaudern. Ich gelte in dieser Familie für literaturkundig. Ich muß mich an Brantôme, L’Etoile, d’Aubigne machen. Etliche der Anekdoten, die mir Fräulein von La Mole erzählt, werde ich in Zweifel ziehen. Die Rolle des passiven Vertrauten genügt mir nicht!«

      Allmählich nahmen Julians Gespräche mit dem imponierenden und dabei ungezwungenen jungen Mädchen einen reizvolleren Charakter an. Er vergaß seine traurige Rolle als rebellischer Plebejer. Er fand Mathilde unterrichtet, ja sogar klug. Ihre Ansichten im Garten waren allerdings ganz anders als die, die sie im Salon äußerte. Einige Male war sie ihm gegenüber von einer Begeisterung und Offenherzigkeit, die im vollkommenen Gegensatz zu ihrem gewöhnlich so hochmütigen und kühlen Benehmen standen.

      »Die Kriege der Liga sind die heroischen Zeiten Frankreichs«, erklärte sie ihm eines Tages mit geistsprühenden und enthusiastisch leuchtenden Augen. »Damals kämpfte jeder für irgendeine Sache, die er sich ersehnte. Er kämpfte, um seiner Partei zum Siege zu verhelfen, und nicht, um einen Orden zu ergattern wie zur Zeit Ihres Kaisers. Geben Sie nur zu, daß es damals weniger Selbstsucht und Kleinlichkeit gab! Ich liebe das Cinquecento!«

      »Und Bonifaz von La Mole war ein Held jenes Jahrhunderts!« entgegnete Julian.

      »Zum mindesten wurde er geliebt, wie man zärtlicher kaum geliebt werden kann! Welche heutige Frau würde nicht davor zurückschaudern, den Kopf ihres enthaupteten


Скачать книгу