Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.dachte der rebellische Plebejer bei sich. »Und doch waren das Leute, deren Stammbaum bis ins Jahr 700 hinaufreicht, also noch hundert Jahre über Karl den Großen hinaus, während der vornehmste Adel auf dem Balle des Herrn von Retz sich mit Müh und Not bis ins dreizehnte Jahrhundert nachweisen läßt. Und an keinen von all diesen venezianischen Edlen jener Tage erinnert man sich noch; nur an Bertuccio Isarello. Eine Verschwörung beseitigt alle Titel, welche die gesellschaftliche Willkür geschaffen. Je nachdem einer dem Tod ins Antlitz schaut, bekommt er Rang und Würde. Selbst der Geist verliert sein Ansehen. Was wäre Danton heute im Jahrhundert der Valenods und Rênals? Nichts! Nicht einmal Staatsanwalt!
Und doch! Er hätte sich den Pfaffen verkauft und wäre Minister. Denn im Grunde hat auch der große Danton gestohlen. Auch Mirabeau hat sich verkauft. Und Napoleon hat in Italien Millionen gestohlen. Sonst wäre er an der Armut gescheitert wie so mancher andre. Nur Lafayette hat nie gestohlen. Muß man stehlen? Muß man sich verkaufen? dachte Julian. Diese Frage ließ ihn nicht wieder los.
Als er am andern Morgen in der Bibliothek seine Briefe schrieb, dachte er immer noch an nichts als an sein gestriges Gespräch mit dem Grafen Altamira. »Das muß man zugeben«, sagte er sich nach langem Grübeln, »wenn die spanischen Liberalen das Volk durch Verbrechen bloßgestellt hätten, hätte man sie nicht mit dieser Leichtigkeit hinweggefegt. Es waren hochfahrende und schwatzhafte Kinder … wie ich!« rief er plötzlich aus, als ob er aus dem Schlafe erwachte.
»Was habe ich Großes geleistet, daß ich mir das Recht nehme, über jene armen Teufel zu Gericht zu sitzen, die doch wenigstens einmal im Leben etwas gewagt, eine Tat unternommen haben? Ich bin wie einer, der vom Tisch aufsteht und sagt: Morgen will ich nicht essen und doch stark und froh sein wie heute. – Weiß ich, wie einem zumut ist auf dem halben Wege zu einer großen Tat?«
Julians Gedankenflug ward gestört, als unverhofft Fräulein von La Mole in der Bibliothek erschien. Die Bewunderung der großen Eigenschaften eines Danton, eines Mirabeau, eines Carnot, die alle ungebrochen blieben, hatte ihn dermaßen mit Begeisterung erfüllt, daß er seine Blicke auf Fräulein von La Mole richtete, ohne seine Gedanken auf sie zu richten, ohne sie zu grüßen, ja ohne sie zu sehen. Als seine weitgeöffneten großen Augen endlich ihre Anwesenheit innewurden, erlosch ihr Glanz. Fräulein von La Mole nahm es voll Bitternis wahr.
Sie ersuchte ihn um einen Band der Geschichte Frankreichs von Vely, die auf dem obersten Regal stand, so daß Julian die größere der beiden Leitern herbeiholen mußte. Er stieg auf die Leiter, holte den Band herunter und händigte ihn ihr ein, noch immer ohne zu dem Bewußtsein zu kommen, daß er Mathilde vor sich hatte. Beim Wiederwegstellen der Leiter stieß er aus Übereile mit dem Ellenbogen in einen der Spiegel. Das Klirren der Glassplitter, die auf das Parkett fielen, brachte ihn endlich zur Besinnung. Rasch stammelte er ein paar Entschuldigungsworte. Er wollte höflich sein; aber das war er kaum.
Mathilde begriff, daß sie ihn gestört hatte, und daß er statt mit ihr zu sprechen, lieber weiter über das nachgedacht hätte, was ihn vor ihrem Erscheinen beschäftigte. Nachdem sie ihn eine Weile angeschaut hatte, ging sie langsam wieder. Julian sah ihr nach. Er genoß den Gegensatz zwischen der Schlichtheit ihres heutigen Kleides und der kostbaren Pracht ihrer Gesellschaftstoilette am gestrigen Abend. Der Unterschied in ihrem Gesichtsausdruck war fast ebenso auffällig. Die junge Dame, die sich auf dem Balle des Herzogs von Retz so hochmütig benommen, hatte in diesem Augenblick fast etwas Bittendes im Blick. »Ohne Zweifel«, sagte Julian bei sich, »dieses schwarze Kleid läßt die Schönheit ihrer Gestalt noch mehr zur Geltung kommen. Sie hat die Haltung einer Königin. Aber warum ist sie in Trauer? Wenn ich mich bei irgendwem nach dem Anlaß erkundige, begehe ich am Ende wieder eine Ungeschicklichkeit.«
Julian hatte seine schwärmerische Stimmung völlig verloren. »Ich muß alle Briefe, die ich heute morgen geschrieben habe, noch einmal durchsehen. Gott weiß, was für Lücken und Schnitzer ich darin finden werde.« Als er das erste Schreiben mit gespannter Aufmerksamkeit durchlas, hörte er neben sich das Knistern eines Seidenkleides. Schnell wandte er sich um. Fräulein von La Mole stand zwei Schritte hinter seinem Tisch und lachte. Die abermalige Störung ärgerte Julian.
Mathilde ihrerseits empfand lebhaft, daß sie dem jungen Manne nichts bedeutete. Ihr Lachen sollte nur ihre Verlegenheit bemänteln, und dies gelang ihr.
»Sie denken augenscheinlich an etwas ungemein Interessantes, Herr Sorel«, sagte sie. »Wohl an irgendeine merkwürdige Einzelheit der Verschwörung, der wir die Anwesenheit des Grafen Altamira in Paris verdanken? Erzählen Sie mir, um was es sich handelt! Ich bin begierig, es zu erfahren. Ich werde verschwiegen sein; das schwöre ich Ihnen.« Sie war selbst erstaunt, als sie sich das Wort aussprechen hörte. Was? Sie hatte eine Bitte an einen Untergebenen ihres Vaters? Ihre Verlegenheit wuchs. In leichtem Tone setzte sie hinzu: »Wer hat Sie denn zu einem begeisterten Wesen, zu einem Propheten aus Michelangelos Jüngstem Gericht gemacht, Sie, der Sie sonst so blasiert sind?«
Die lebhafte und indiskrete Frage verletzte Julian tief und gab ihm seine ganze Tollheit wieder.
»Hat Danton recht getan, als er stahl?« fragte er Mathilde unvermittelt mit zusehends wilder werdender Miene. »Hätten die piemontesischen und spanischen Revolutionäre ihr Volk durch Verbrechen bloßstellen sollen? Hätten sie alle Stellen im Heere und alle Orden selbst an Leute ohne Verdienst verteilen; den Schatz in Turin der Plünderung preisgeben sollen? Mit einem Worte, gnädiges Fräulein«, sagte er, indem er mit furchtbarem Blick näher an sie herantrat: »Soll der Mensch, der die Dummheit und das Verbrechen von der Erde vertilgen will, wie ein Sturmwetter daherbrausen und Unheil anrichten, wie es gerade kommt?«
Mathilde erschrak. Sie konnte seinen Blick nicht ertragen und wich etliche Schritte zurück. Einen Augenblick lang schaute sie ihn an. Dann schämte sie sich ihrer Furcht und verließ leichten Schrittes die Bibliothek.
40. Kapitel
Julian las seine Briefe noch einmal. Als es zu Tisch läutete, sagte er sich: »Wie lächerlich muß ich dieser Pariser Puppe erschienen sein! Welche Tollheit war es, ihr ehrlich zu sagen, was ich dachte? Aber vielleicht war die Tollheit nicht so groß. Die Wahrheit war in diesem Falle meiner würdig. Was hat sie mich über vertrauliche Dinge auszufragen? Das war taktlos von ihr. Gegen die gute Sitte. Meine Gedanken über Danton gehören nicht zu dem Amt, für das mich ihr Vater bezahlt.«
Als Julian in den Eßsaal trat, vergaß er seine schlechte Laune über der Verwunderung, Fräulein von La Mole in Trauerkleidung zu sehen, im übrigen aber niemanden von der Familie in Schwarz.
Nach der Tafel verspürte er nichts mehr von der Begeisterung, die ihn den Tag über erfüllt hatte. Zum Glück war der lateinkundige Akademiker Tischgast. »Dieser Mann wird sich am wenigsten über mich aufhalten«, dachte Julian, »wenn meine Frage über Fräulein von La Moles Trauer, wie ich vermute, eine Ungeschicklichkeit wäre.«
Mathilde sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Das ist wohl pariserische Koketterie, wie Frau von Rênal sie mir geschildert hat?« sagte er sich. »Ich war heute morgen nicht liebenswürdig gegen Mathilde. Ich bin auf ihre Laune, mit mir plaudern zu wollen, nicht eingegangen. Dadurch bin ich in ihrer Achtung gestiegen. Der Teufel kommt ja stets auf seine Rechnung. Gelegentlich wird sie sich durch hochmütige Geringschätzung schon zu rächen wissen. Ich traue ihr alles zu. Was für ein Unterschied gegen das, was ich verloren habe! Wie reizend natürlich war Luise! Wie harmlos! Ich kannte ihre Gedanken immer früher als sie selbst. Ich sah sie entstehen. Es war keine Gegenströmung in ihr, außer der Furcht, ihre Sünde könne sich an ihren Kindern rächen. Das war eine vernünftige, natürliche Zuneigung, eine Wonne selbst für mich, wiewohl ich darunter litt. Ich war ein rechter Tor! Die falsche Vorstellung, die ich mir damals von Paris machte, war schuld daran, daß ich dieses herrliche Weib nicht voll gewürdigt habe. Großer Gott, welch ein Unterschied! Was finde ich hier? Nichts als eisige, hochmütige Eitelkeit, alle Spielarten der Eigenliebe – und weiter nichts!«
Man stand vom Tisch auf.
»Daß mir nur mein Akademiker nicht weggeschnappt wird!« sagte sich Julian. Als man in den Garten ging, näherte er sich ihm, machte ein sanftmütiges und unterwürfiges Gesicht und teilte in dem sich entspinnenden Gespräche seine Wut ob des Erfolges von Viktor Hugos Hernani, der eben, im Februar des Jahres 1830, seine Uraufführung erlebt hatte.
»Lebten