Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.war jetzt Dandy und verstand sich auf die Kunst, in Paris zu leben. Er war gegen Fräulein von La Mole von vollkommener Kühle und schien nicht die geringste Erinnerung an die Zeit bewahrt zu haben, wo sie sich so fröhlich nach den Einzelheiten seines Herunterfalls vom Pferde erkundigte.
Fräulein von La Mole fand ihn größer und blasser geworden. Seine Haltung und sein Benehmen hatten nichts Kleinstädtisches mehr. Anders seine Unterhaltung. Es war noch zu viel Ernst, zu viel Positivismus darin. Trotz dieser schulmeisterlichen Eigenschaften lag nichts Unterwürfiges in seinem Gespräche. Dazu war er zu stolz. Man fühlte nur, daß er noch zu vielerlei als wichtig betrachtete. Aber man sah, daß er ein Mann war, der für seine Meinung einstand.
»Es fehlt ihm an Leichtigkeit, nicht an Geist«, sagte Fräulein von La Mole zu ihrem Vater, als sie mit ihm über den Orden scherzte, den er Julian verschafft hatte. »Mein Bruder hat dich anderthalb Jahre darum bitten müssen: und er ist ein La Mole.«
»Ja, aber Julian hat unerwartete Einfalle. Die hat der La Mole, von dem du sprichst, nicht.«
Der Herzog von Retz wurde gemeldet.
Mathilde fühlte sich von unüberwindlichem Gähnenmüssen befallen, als sie die alten Vergoldungen und die alten Stammgäste des väterlichen Salons wiedersah. Sie machte sich ein trostlos langweiliges Bild von dem Leben, das ihrer in Paris von neuem harrte.
»Und dabei bin ich neunzehn Jahre!« dachte sie. »Das ist das Alter des Glücks, singen alle die Idioten in Goldschnitt!« Sie blätterte in den acht bis zehn neuen Gedichtbänden, die sich während ihrer Reise nach der Provence auf dem Spiegeltische des Salons angesammelt hatten. Es war ihr Unglück, mehr Geist zu besitzen als Croisenois, Caylus, Luz und ihre andern Freunde. Im voraus wußte sie, was sie ihr alles sagen würden: über den schönen Himmel der Provence, die Poesie des Südens usw. Ihre schönen Augen, in denen der gründlichste Überdruß lag, ja, mehr noch, die Hoffnungslosigkeit, je Vergnügen zu finden, blieben auf Julian haften. Er war wenigstens nicht aus demselben Holze wie die andern geschnitzt.
»Herr Sorel«, sagte sie mit dem kurzen, lebhaften und so ganz unweiblichen Tone, dessen sich die jungen Damen der höchsten Gesellschaft zu bedienen pflegen: »Herr Sorel, kommen Sie heute abend auf den Ball beim Herrn von Retz?«
»Gnädiges Fräulein, ich habe nicht die Ehre, bei Seiner Durchlaucht eingeführt zu sein.«
Sie hatte den Eindruck, daß es dem hochmütigen Provinzler schwerfiel, diese Worte und Titulaturen herauszubringen.
»Er hat meinem Bruder aufgetragen, Sie mitzubringen, und wenn Sie mitgehen wollen, könnten Sie mir Näheres über Villequier erzählen. Es ist die Rede davon, daß wir es im Frühjahr aufsuchen. Ich möchte wissen, ob das Schloß wohnlich ist und die Umgegend wirklich so reizend, wie man sagt. Es gibt ja so manchen unverdienten Ruf.«
Julian schwieg.
»Kommen Sie mit meinem Bruder auf den Ball!« schloß sie, in sehr trocknem Tone.
Julian verneigte sich respektvoll. »Also selbst auf dem Balle bin ich jedwedem Familienmitgliede Bericht schuldig. Werde ich doch bezahlt wie ein lumpiger Rechtsanwalt.« Und mißlaunig brummte er weiter: »Wenn ich nur wenigstens wüßte, ob das, was ich der Tochter sagen werde, den Plänen des Vaters, der Mutter oder des Bruders nicht zuwiderläuft. Es geht hier wahrlich wie am Hofe eines regierenden Fürsten zu. Man muß eine vollkommene Null sein, dabei doch ein kleiner Machiavell.«
»Dies große Mädel gefällt mir nicht«, dachte er, wie er Fräulein von La Mole nachsah. Sie war von ihrer Mutter gerufen worden, damit sie sich etlichen Freundinnen der Marquise zeige. »Sie übertreibt alle Moden. Ihr Kleid entgleitet den Schultern. Sie sieht noch blasser aus als vor ihrer Reise. Ihre Haare sind wie farblos, so blond sind sie. Man möchte meinen, daß das Licht hindurchscheint. Welcher Hochmut in ihrer Art zu grüßen und im Blick! Dazu die Gesten einer Königin!«
Fräulein von La Mole rief ihren Bruder, als er gerade den Salon verlassen wollte.
Graf Norbert kam auf Julian zu.
»Mein lieber Sorel«, sagte er, »wo darf ich Sie um Mitternacht zum Balle bei Herrn von Retz abholen? Er hat mir ausdrücklich aufgetragen, Sie mitzubringen.«
»Ich weiß wohl, wem ich so viel Güte verdanke«, antwortete Julian mit einer übertrieben tiefen Verbeugung. Da er an dem Höflichkeit und sogar Anteilnahme bezeigenden Tone Norberts nichts auszusetzen fand, so nörgelte er in seiner üblen Laune an der eignen Antwort, die er auf diese verbindliche Aufforderung gegeben hatte. Er fand ein Körnchen Gemeinheit darin.
Abends, als er auf den Ball kam, war er vom Prunk des Retzschen Hauses wie geblendet. Den Hof vor dem Eingang überspannte ein riesiges purpurrotes Segeltuch mit goldenen Sternen. Ein köstlicher Anblick! Der Hof unter diesem Zeltdache war in einen Hain von Orangen-und Rosen-Lorbeerbäumen verwandelt. Die Töpfe und Kübel waren so tief eingegraben, daß die Bäume aus dem Boden zu wachsen schienen. Die Auffahrt war mit Sand bestreut.
Die ganze Szenerie kam dem Provinzler wie ein Märchenbild vor. Er hatte solche Herrlichkeit noch nie geschaut, und im Nu hatte seine entflammte Einbildungskraft seine vorherige üble Laune verjagt. Im Wagen, als sie zum Ball fuhren, war Norbert fröhlich gewesen; Julian aber sah alles gleichsam durch eine schwarze Brille. Kaum waren sie im Hofe, als sie die Rollen tauschten.
Norbert hatte nur Augen für einige kleine Mängel, die all der Prachtentfaltung untergelaufen waren. Er veranschlagte die Kosten der ganzen Ausschmückung bis ins einzelne, und je höher seine Berechnung stieg, desto schlechter ward seine Laune. Julian bemerkte dies. Es kam ihm vor, als sei Norbert beinahe eifersüchtig. Er hingegen war wie berauscht. Voller Bewunderung und vor Erregung fast befangen trat er in den ersten Saal, in dem getanzt ward. Alles drängte zur Tür nach dem zweiten Raume. Die Menge der Geladenen war so groß, daß es Julian unmöglich war, weiter vorzudringen. Die Ausschmückung des zweiten Saales stellte die Alhambra von Granada vor.
»Sie ist die Ballkönigin! Das muß man ihr lassen!« meinte ein schnurrbärtiger junger Herr, dessen Schulter im Gewühle gegen Julians Brust gedrückt ward.
Sein Nachbar antwortete dem Sprecher: »Fräulein Fourmont, den ganzen Winter die Schönste, begreift offenbar, daß sie auf den zweiten Platz verdrängt ist. Sieh nur ihre sonderbare Miene!«
»Tatsächlich, sie gibt sich die allergrößte Mühe, Eindruck zu machen! Sieh bloß, dies holde Lächeln in dem Augenblick, wo sie im Contre allein tanzt. Auf Ehre, unbezahlbar!«
»Fräulein von La Mole dagegen drückt ihre Freude über ihren unverkennbaren Triumph nach außen nieder. Es macht beinahe den Eindruck, als fürchte sie, dem zu gefallen, mit dem sie spricht.«
»Sehr gut! Das ist die höhere Verführungskunst!«
Julian machte vergebliche Anstrengungen, die Verführerische zu erblicken. Sechs oder acht Herren verdeckten sie ihm.
»Keine üble Koketterie, diese vornehme Zurückhaltung!« sagte der junge Herr mit dem Schnurrbart.
»Und diese großen blauen Augen, die sie so langsam niederschlägt, gerade wenn man glaubt, daß sie sich verraten werden«, erwiderte der Nachbar. »Wahrlich, größere Raffinerie gibt’s nicht!«
»Sieh nur, wie gewöhnlich die schöne Fourmont neben ihr aussieht!« bemerkte ein dritter.
»Ihre zurückhaltende Miene bedeutet: Welche Liebenswürdigkeit würde ich entfalten, wenn du der Mann wärest, der meiner würdig ist!«
»Und wer wäre der himmlischen Mathilde würdig?« sagte der erste. »Irgendein souveräner Fürst, schön, geistreich und wohlgestaltet, ein Held im Kriege und höchstens zwanzig Jahre alt.«
»Der natürliche Sohn des russischen Zaren, oder aber – der Graf von Thaler, der Bauer im Frack!«
Die Tür wurde frei; Julian konnte hindurchgehen.
»Da sie in den Augen dieser Laffen für etwas so Besonderes gilt, ist es schon der Mühe wert, daß ich sie mir daraufhin einmal ansehe«, dachte er. »Ich werde dadurch lernen, was in den Augen dieser Leute Vollkommenheit ist.«
Als er Mathilde mit den Augen suchte, sah sie ihn an.