Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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Bald war der junge Sekretär imstande, die dem Marquis interessanten Stellen herauszufinden. Eine gewisse moderne Zeitung verabscheute der Marquis. Er hatte geschworen, sie nie zu lesen, sprach aber alle Tage davon. Julian lachte. Von der Gegenwart angewidert, ließ sich der Marquis aus Livius vorlesen. Julians Übersetzung aus dem Stegreif machte ihm Spaß.

      Eines Tages sagte der Marquis in seiner übertriebenen Höflichkeit, die Julian oft unangenehm war: »Erlauben Sie mir, mein lieber Sorel, daß ich Ihnen einen blauen Anzug verehre. Wenn Sie ihn annehmen und darin vor mir erscheinen wollen, werden Sie in meinen Augen der jüngere Bruder des Grafen von Chaulnes sein, das heißt der Sohn meines Freundes, des alten Herzogs.«

      Julian verstand zunächst nicht, worauf dies ausging. Noch am selben Abend versuchte er einen Besuch in dem blauen Anzuge. Der Marquis behandelte ihn wie seinesgleichen. Julians Herz vermochte echte Liebenswürdigkeit herauszufühlen, aber er verstand sich noch nicht auf die Nuancen. Vor diesem sonderbaren Einfall des Marquis hätte Julian geschworen, daß es unmöglich wäre, mit noch mehr Zuvorkommenheit von ihm behandelt zu werden. »Welch bewundernswerte Fähigkeit!« sagte er sich. Als er sich erhob, um zu gehen, sprach der Marquis sein Bedauern aus, daß er ihm seiner Gicht wegen nicht das Geleit geben könne.

      Julian hatte einen sonderbaren Gedanken. »Macht er sich vielleicht über mich lustig?« dachte er. Er ging zum Abbé Pirard, um sich Rats zu holen. Aber dieser war weniger höflich als der Marquis. Er pfiff vor sich hin und sprach von andern Dingen. Am nächsten Morgen erschien Julian vor dem Marquis wieder im schwarzen Anzug mit seiner Briefmappe. Er wurde in gewohnter Weise empfangen. Am Abend, als er im blauen Rocke kam, war der Ton völlig anders und ganz genauso freundlich wie am Abend zuvor.

      »Da Sie sich bei den Besuchen nicht zu sehr langweilen, die Sie so gütig sind, einem armen kranken Greise zu machen, sollten Sie ihm nun auch alle die kleinen Ereignisse Ihres Lebens berichten, aber ehrlich und ohne einen andern Hintergedanken als den, klar und amüsant erzählen zu wollen. Denn man muß sich amüsieren«, setzte der Marquis hinzu. »Das ist die Quintessenz des Lebens. Es kann mir nicht alle Tage einer im Gefecht das Leben retten oder eine Million schenken, aber wenn ich Rivarol hier neben meinem Lehnstuhl hätte, so würde er mir täglich eine Stunde Schmerz und Langeweile vertreiben. Ich habe ihn einst sehr gut gekannt. Das war in Hamburg während der Emigrationszeit.«

      Sodann erzählte der Marquis Rivarols Anekdote von den Hamburgern, die sich zu viert zusammentaten, um einen Witz zu verstehen.

      Herr von La Mole wollte den kleinen Abbé, auf dessen Gesellschaft er angewiesen war, etwas aufmuntern. Er stachelte Julians Ehrgeiz an. Da die Wahrheit von ihm verlangt wurde, entschloß sich Julian, alles zu sagen und nur zweierlei zu verschweigen: seine leidenschaftliche Bewunderung für Napoleon Bonaparte, den der Marquis nicht leiden konnte, und seinen vollkommenen Unglauben, der einem künftigen Pfarrer nicht gut stand. Sein kleiner Ehrenhandel mit dem Chevalier von Beauvaisis kam ihm sehr zustatten. Der Marquis lachte bis zu Tränen über die Szene im Café in der Rue Saint-Honoré, mit dem Kutscher, der Julian mit schmutzigen Schimpfworten überhäuft hatte. Das war eine Zeit der vollkommensten Freimütigkeit in den Beziehungen zwischen Vorgesetztem und Untergebenem.

      Herr von La Mole begann sich für Julians eigenartigen Charakter zu interessieren. Anfangs leistete er dem Lächerlichen an ihm Vorschub, um sich darüber zu ergötzen; doch bald fand er mehr Gefallen daran, die mangelhaften Manieren des jungen Mannes behutsam zu verbessern. »Im allgemeinen bewundern Provinzler, die nach Paris kommen, alles«, dachte der Marquis. »Der hier haßt alles. Die andern sind zu sehr geziert. Er ist es zu wenig. Dumme halten ihn für dumm.«

      Der Gichtanfall zog sich infolge des strengen Winters in die Länge und dauerte fast drei Monate.

      »Man hängt sein Herz an einen schönen Schäferhund«, sagte sich der Marquis. »Warum schäme ich mich so, daß ich eine Vorliebe für den kleinen Abbé habe? Er ist ein Original. Ich behandle ihn wie einen Sohn. Gut! Was ist da weiter dabei? Wenn meine Laune von Dauer ist, kostet sie mich höchstens ein Legat von zehntausend Franken in meinem Testament.«

      Als der Marquis den festen Charakter seines Schützlings einmal erkannt hatte, betraute er ihn täglich mit einem neuen Auftrage. Julian bemerkte mit Schrecken, daß es dem großen Herrn passierte, ihm manchmal widersprechende Weisungen über ein und denselben Gegenstand zu geben. Das konnte ihn ernstlich kompromittieren. Fortan arbeitete er mit ihm nie ohne ein Briefbuch, in dem er die Entscheidungen vermerkte und vom Marquis unterschreiben ließ. Auch hatte er sich einen Schreiber genommen, der die Entscheidungen über jede Angelegenheit in ein besondres Buch abschrieb, in das auch die Abschrift aller Briefe eingetragen wurde.

      Diese Neuerungen erschienen dem Marquis zunächst im höchsten Grade langweilig und lächerlich. Aber in kaum acht Wochen verspürte er ihre guten Seiten. Julian schlug ihm vor, einen Beamten aus einem Bankgeschäft anzunehmen, der über alle Einnahmen und Ausgaben aus den Gütern, die Julian zu verwalten hatte, doppelt Buch führen sollte. Diese Maßnahme klärte den Marquis über den Stand seiner eigenen Angelegenheiten derart auf, daß er sich das Vergnügen machen konnte, zwei oder drei neue Spekulationen zu unternehmen, ohne dabei einen Vermittler nötig zu haben, der ihn nur betrog.

      »Nehmen Sie dreitausend Franken für sich«, sagte er eines Tages zu seinem jungen Sekretär.

      »Exzellenz, man könnte mich verdächtigen!«

      »Was soll das heißen?« fragte der Marquis mißlaunig.

      »Daß ich Eure Exzellenz ganz gehorsamst bitte, gütigst die dreitausend Franken eigenhändig als an mich geschenkt hier in dieses Buch eintragen zu wollen. Übrigens ist Abbé Pirard der eigentliche Veranlasser dieses neuen Rechnungswesens.«

      Der Marquis erfüllte Julians Begehr sichtlich gelangweilt.

      Abends, wenn Julian im blauen Rock erschien, war niemals von Geschäften die Rede. Die Gunstbeweise des Marquis waren so schmeichelhaft für Julians stets leidende Eigenliebe, daß er bald gegen seinen Willen eine gewisse Zuneigung für den liebenswürdigen alten Herrn empfand. Julian war nicht gefühlvoll, wie man so sagt, aber er war auch kein Unmensch. Hatte doch seit dem Tode des alten Stabsarztes niemand so gütig mit ihm gesprochen. Zu seinem Erstaunen bemerkte er, daß der Marquis seine Eigenliebe aus Höflichkeit schonte, was der alte Feldscher niemals getan hatte. Auch erkannte er, daß der Stabsarzt stolzer auf sein schlichtes Kriegskreuz gewesen war als der Marquis auf sein breites blaues Ordensband. Leicht erklärlich: der Vater des Marquis war ein Grandseigneur.

      Eines Tages, nach dem geschäftlichen Vormittagsvortrag im schwarzen Anzug, unterhielt Julian den Marquis so gut, daß er ihn zwei Stunden lang zurückhielt und ihm durchaus einige Banknoten aufdrängen wollte, die ihm sein Agent von der Börse mitgebracht hatte.

      »Euer Exzellenz, ich hoffe, daß es nicht gegen den tiefen Respekt verstößt, den ich Eurer Exzellenz schulde, wenn ich untertänigst bitte, mir ein Wort zu erlauben.«

      »Ich bitte, Verehrter!«

      »Wollen Eure Exzellenz mir gnädigst erlauben, daß ich dies Geschenk ausschlage. Mir im schwarzen Rock gilt es nicht, und doch würde es zweifellos die Art und Weise beeinträchtigen, die Eure Exzellenz mir im blauen Rock allergütigst zugestanden haben.«

      Damit verbeugte er sich ehrerbietigst und ging hinaus, ohne sich umzusehen.

      Dieser Zug belustigte den Marquis. Er erzählte ihn am Abend dem Abbé Pirard.

      »Ich muß Ihnen endlich etwas gestehen, mein lieber Abbé. Mir ist nämlich Julians Herkunft bekannt. Ich ermächtige Sie, diese vertrauliche Mitteilung nicht geheimzuhalten.« Bei sich dachte La Mole: »Julians Verhalten heute vormittag war das eines Edelmannes. Machen wir ihn zum Edelmanne!«

      Nach einiger Zeit konnte der Marquis endlich wieder ausgehen.

      »Sie müssen auf zwei Monate nach London«, sagte er zu Julian.

      »Die Briefe, die hier eingehen, werden Ihnen mit meinen Bemerkungen versehen, expreß oder mit gewöhnlicher Post nachgesandt. Sie schreiben die Antworten und schicken mir alles zurück, immer Brief und Antwort zusammen. Ich habe mir ausgerechnet, daß der dadurch entstehende Zeitverlust nur fünf Tage betragen kann.«

      Während Julian in der Eilpost die Straße nach Calais dahinfuhr,


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