Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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als es sich für seine Stellung geziemte. Ohne die besondere Bevorzugung von Mathildens Seite und ohne die Neugier, die ihm das Ganze einflößte, wäre er den eleganten jungen Offizieren niemals in den Garten gefolgt, wenn sie Fräulein von La Mole nach Tisch dorthin begleiteten.

      »Ich kann mich dem unmöglich noch verschließen!« sagte sich Julian. »Fräulein von La Mole wirft mir eigentümliche Blicke zu. Aber selbst wenn ihre schönen blauen Augen mit der größten Selbstvergessenheit auf mir ruhen, erkenne ich doch tief in ihnen immer etwas Lauerndes, Kaltblütiges, Boshaftes. Kann das Liebe sein? Wie ganz anders waren Frau von Rênals Blicke!«

      Einmal nach Tisch hatte Julian den Marquis in sein Arbeitszimmer begleitet, war dann aber schnell in den Garten gegangen. Als er sich der Gruppe um Mathilde unversehens näherte, fing er ein paar sehr laut gesprochene Worte auf. Mathilde hatte ein Wortgefecht mit ihrem Bruder. Deutlich hörte Julian seinen Namen zweimal fallen. Als man sein Nahen wahrnahm, entstand sofort Totenstille. Vergeblich machte man Versuche, sie zu verscheuchen. Fräulein von La Mole und ihr Bruder hatten sich allzusehr ereifert, als daß sie sofort einen andern Gesprächsstoff gefunden hätten. Zugegen waren Caylus, Croisenois, Luz und einer ihrer Freunde. Alle kamen sie Julian eisig vor. Da entfernte er sich wieder.

      43. Kapitel

      Am nächsten Tage überraschte Julian den Grafen Norbert und seine Schwester abermals, wie sie gerade von ihm sprachen. Bei seinem Erscheinen trat das nämliche Todesschweigen ein wie am Abend zuvor. Nunmehr war er grenzenlos mißtrauisch. »Sollten sich die sonst so liebenswürdigen jungen Menschen vorgenommen haben, mich lächerlich zu machen?« fragte sich Julian. »Ich muß gestehen, daß dies viel wahrscheinlicher und viel natürlicher wäre als die vermeintliche Leidenschaft des Fräuleins von La Mole für einen armen Schelm von Sekretär. Gibt es in diesen Leuten überhaupt Leidenschaften? Ist ihr Hauptvergnügen nicht vielmehr Spiel und Spott? Sie gönnen mir meine armselige theoretische Überlegenheit nicht. Eifersucht ist eine ihrer Schwächen. So erklärt sich alles. Fräulein von La Mole will mir einreden, daß sie mich gern habe, ganz einfach, um ihren Zukünftigen durch eine kleine Komödie zu belustigen …«

      Dieser qualvolle Verdacht änderte Julians inneren Zustand bis in den Grund und zerstörte mit Leichtigkeit die in seinem Herzen keimende Liebe. Sie verdankte ihre Lebenskraft lediglich Mathildens seltener Schönheit oder, genauer gesagt, ihrem hoheitsvollen Wesen und der erlesenen Art, sich zu kleiden. Insofern war Julian Emporkömmling. Eine hübsche Dame der großen Welt macht auf einen geistvollen Mann aus dem Volke, dem sich die ersten Gesellschaftskreise erschließen, immer den größten Eindruck. Es war durchaus nicht Mathildens Charakter, der Julian bis dahin bezaubert hatte. Er war vernünftig genug, einzusehen, daß er ihren Charakter überhaupt noch nicht kannte. Alles, was er davon zu sehen bekam, konnte immerhin nur Schein sein.

      Beispielsweise hätte Mathilde um nichts in der Welt die Sonntagsmesse versäumt. Sie begleitete ihre Mutter fast alle Tage in die Kirche. Wenn im Hause La Mole irgendein Unvorsichtiger vergaß, wo er sich befand, und sich den geringsten Scherz über die wahren oder angeblichen Interessen von Thron und Altar erlaubte, so legte Mathilde sofort ein eisiges Wesen an den Tag. Ihr sonst so prickelnder Blick nahm plötzlich ganz und gar den gefühllosen Hochmut eines alten Ahnenbildes an.

      Hinwiederum hatte sich Julian vergewissert, daß sie in ihrem Zimmer stets zwei oder drei philosophische Werke von Voltaire hatte. Er selbst holte sich nämlich oft heimlich ein paar der prachtvoll gebundenen Bände der in der Bibliothek vorhandenen Luxusausgabe, wobei er die übrigen Bände etwas auseinanderrückte, so daß die Lücken nicht auffielen. Dabei merkte er, daß noch jemand anders den Voltaire las. Oft waren Bände wochenlang verschwunden.

      Herr von La Mole ärgerte sich über seinen Buchhändler, der ihm alle möglichen unechten Denkwürdigkeiten schickte, und beauftragte Julian mit der Anschaffung aller einigermaßen pikanten Neuerscheinungen. Damit sich solches Gift aber nicht im Hause verbreitete, hatte der Sekretär Befehl, diese Bücher in einen besondern Bücherschrank zu stellen, der im Arbeitszimmer des Marquis stand. Julian hatte auch hier sehr bald die Gewißheit, daß solche Neuigkeiten, sofern sie sich gegen die Interessen von Thron und Altar richteten, unverzüglich verschwanden. Norbert las sie gewiß nicht.

      Julian überschätzte die Bedeutung dieser Tatsache und bildete sich ein, Fräulein von La Mole habe die Zweizüngigkeit eines Machiavell. Gleichwohl sah er in dieser vermeintlichen Verdorbenheit einen Reiz mehr, ja fast den einzigen nicht körperlichen Reiz, den Mathilde in seinen Augen hatte. Sein Ekel vor Scheinheiligkeit und Tugendgeschwätz verführte ihn zu dieser Übertreibung. Er erhitzte seine Einbildungskraft, ohne daß ihn wirkliche Liebe ergriff. Erst nachdem er sich so in eine gewisse Vergötterung von Mathildens eleganter Figur, ihres ausgezeichneten Geschmacks in Dingen der Mode, ihrer weißen Hände, ihrer schönen Arme und der Disinvoltura aller ihrer Bewegungen hineingeträumt hatte, fühlte er sich verliebt. Um ihren Reizen die Krone aufzusetzen, hielt er sie nun für eine Katharina von Medici. Für den Charakter, den er ihr so verliehen, war nichts geheimnisvoll oder ruchlos genug. Sie war ihm die Inkarnation des Ideals seiner Jugend, mit einem Worte: die ideale Pariserin. Er ahnte nicht, daß es nichts Lächerlicheres gibt, als dem Pariser Charakter eine Tiefe zuzutrauen, die jenseits von Gut und Böse liegt.

      »Es ist sehr wohl möglich, daß sich dieses Trio über mich lustig macht«, dachte Julian. Fortan begegnete er Mathildens Blicken mit finstern kalten Augen. Voll bittrer Ironie stieß er die Freundschaftsbezeigungen zurück, die sie ihm, darob verwundert, zwei-oder dreimal gönnte.

      Diese plötzliche Wunderlichkeit reizte die Sinne der von Natur kalten, gelangweilten und mehr für intellektuelle Reize empfänglichen jungen Dame so stark, als es bei ihr überhaupt möglich war. Immerhin herrschte noch viel von ihrem alten Stolze in Mathildens Seele, und die in ihr glühende Verliebtheit, die ihr Glück von einem andern abhängig machte, war von dumpfem Leid durchdrungen.

      Julian hatte schon genug Erfahrung, seit er in Paris weilte, um zu unterscheiden, daß diese Schwermut nicht der öde Trübsinn der Langenweile war. Statt wie sonst auf Gesellschaften, Theater und Zerstreuungen aller Art begierig zu sein, mied Mathilde alles das sichtlich.

      Von französischen Sängern gesungene Musik langweilte sie in den Tod. Gleichwohl bemerkte Julian, der es sich immer noch zur Pflicht machte, dem Herauskommen der vornehmen Welt aus der Oper beizuwohnen, daß sie sich so oft wie möglich dahin führen ließ. Er glaubte wahrzunehmen, daß sie ihr ehedem in jeder Beziehung vollkommenes seelisches Gleichgewicht teilweise verloren hatte, öfters gab sie ihren Freunden Antworten, deren scharfe Ironie verletzen mußte. Insbesondere schien es Julian, als wenn sie den Marquis von Croisenois zur Zielscheibe nähme. »Der junge Offizier muß das Geld wahnsinnig hochschätzen, wenn er von Mathilde mitsamt ihrem Reichtum immer noch nicht abläßt!« dachte Julian. Eine solche Verhöhnung der Manneswürde empörte ihn, und so war er gegen sie von verdoppelter Kälte. Bisweilen ließ er es in seinen Antworten sogar an der nötigen Höflichkeit fehlen.

      So entschlossen Julian war, sich nicht in die vermutete Falle locken zu lassen, Mathildens Gunstbeweise waren an manchen Tagen so auffällig, daß ihm allmählich die Augen aufgingen. Jetzt fand er Mathilde so verführerisch, daß er zuweilen vor ihr in Verwirrung geriet.

      »Die Gewandtheit und die Ausdauer dieser weltmännischen jungen Leute wird schließlich doch über meine geringe Erfahrung triumphieren!« warnte er sich. »Ich muß verreisen und all dem ein Ende machen!«

      Der Marquis hatte ihm gerade die Verwaltung einer Anzahl von kleinen Gütern und Häusern in Nieder-Languedoc überlassen. Eine Reise dahin war nötig. Ungern gab ihm der Marquis Urlaub. Abgesehen von seinen hohen politischen Plänen war ihm sein Sekretär zum andern Ich geworden.

      »Schließlich haben sie mich doch nicht gefangen!« frohlockte Julian, als er sich zur Abreise rüstete. »Mag die Harlekinade, die Fräulein von La Mole ihren Kurmachern vorgeführt hat, ernst gemeint oder nur dazu bestimmt gewesen sein, mich vertrauensselig zu machen: ich habe meinen Spaß daran gehabt.

      Wenn keine Verschwörung gegen den Müllerssohn dahintersteckt, dann ist Fräulein von La Mole eine Sphinx, und zwar für den Marquis von Croisenois nicht minder wie für mich. Gestern zum Beispiel war ihre schlechte Laune durch und durch echt, und ich habe den Genuß gehabt, als Favorit einen jungen Herrn aus dem Felde zu schlagen,


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