Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.Adel des Blutes. Ja, sie glaubte nicht einmal, daß er sie wirklich liebe.
Gegen diesen letzten qualvollen Zweifel empörte sich ihr weiblicher Stolz. Unduldsam rief sie aus: »Im Schicksal eines Mädchens, wie ich eins bin, muß alles einzigartig und seltsam sein!« Jetzt rang der Hochmut, der ihr von frühester Kindheit anerzogen war, mit der wahren Weibestugend.
So standen die Dinge, als Julians Abreise die plötzliche Entscheidung brachte. Spät am Abend war Julian so teuflisch, einen schweren Koffer zum Pförtner hinunterschaffen zu lassen. Damit beauftragte er einen Diener, der mit Mathildens Kammerjungfer zarte Beziehungen hatte.
»Ich weiß nicht, ob dieses Manöver Erfolg hat«, sagte sich Julian. »Aber wenn es ihn hat, so glaubt sie, ich sei abgereist.«
Höchst vergnügt über diese Farce schlief er ein. Mathilde schloß die ganze Nacht kein Auge.
Am andern Morgen verließ er frühzeitig und unbemerkt das Haus. Kurz vor acht Uhr kehrte er wieder. Kaum war er in der Bibliothek, da erschien Fräulein von La Mole in der Tür. Julian überreichte ihr seine Antwort. Er dachte, es sei seine Pflicht, auch ein paar Worte zu sagen. Zum mindesten bot sich die Gelegenheit dazu. Aber Mathilde hatte keine Lust, ihn anzuhören, und verschwand. Julian war darob hocherfreut. Er hätte ihr nichts zu sagen gewußt.
»Wenn hinter dem allem nicht ein abgekartetes Spiel zwischen ihr und Norbert steckt«, kalkulierte Julian, »so müssen meine kalten Blicke die Ursache der bizarren Verliebtheit sein, die dieses hohe Edelfräulein für mich zu verspüren geruht. Ich wäre dümmer, als es erlaubt ist, wenn ich mich jemals dazu hinreißen ließe, an dieser großen blonden Puppe Geschmack zu finden.«
Diese Überlegung machte ihn kühler und mathematischer denn je.
»In der Schlacht, die sich entwickelt«, dachte er weiter, »wird Mathildens Adelsstolz die Bedeutung einer dominierenden Höhe haben. Um diesen Punkt werden wir fechten. Es ist ein strategischer Fehler auf meiner Seite, in Paris zu verbleiben. Wenn alles nur Spiel ist, setzt mich der Aufschub der Reise in Nachteil und Gefahr. «Wäre ich abgereist, was hätte ich dabei riskiert? Ich hätte mich über meine Gegner lustig gemacht, wenn sie sich über mich lustig machen. Angenommen aber, Mathildens Neigung zu mir sei keine Komödie, so hätte ich sie verhundertfacht.«
Mathildens Brief hatte ihm derart stark die Freude der Eitelkeit zuteil werden lassen, daß er vor lauter Lust nicht daran gedacht hatte, die Zweckmäßigkeit einer Reise gründlich zu erwägen. Es war nun aber ein verhängnisvolles Element seines Charakters, daß er gegen sich selbst wegen begangener Fehler grenzenlos nachträglich war. Darum ärgerte ihn dieser Fehler dermaßen, daß er den erstaunlichen Sieg, der seiner kleinen Niederlage vorangegangen war, so gut wie gänzlich vergaß. In diesem Moment, gegen neun Uhr vormittags, erschien Fräulein von La Mole abermals auf der Schwelle der Bibliothekstüre, warf ihm einen zweiten Brief zu und entschwand wieder.
»Das wird offenbar ein Roman in Briefen!« lachte Julian und hob den eben gekommenen auf. »Der Feind macht eine Scheinbewegung. Ich werde den kalten Tugendbold markieren!«
Im Briefe ward um eine entscheidende Antwort gebeten, und zwar in einer schmerzlichen Art, die seiner Seele Heiterkeit erhöhte. Er machte sich den Spaß, die Personen, die ihn (seiner Vermutung nach) zum Narren hielten, in einer zwei Seiten langen Antwort zu mystifizieren. Am Schlüsse zeigte er mit einer scherzhaften Wendung seine Abreise für den nächsten Morgen an. Als der Brief geschrieben war, sagte er sich: »Ich kann ihn ihr im Garten geben«, und ging hinab.
Er blickte nach Mathildens Fenster. Ihr Zimmer war neben den Gemächern ihrer Mutter, im ersten Stock, unter dem sich ein Zwischenstock befand. Als Julian, den Brief in der Hand, die Lindenallee betrat, die am Hause begann, war er von Mathildens hochgelegenem Fenster aus nicht zu sehen. Das Blätterwerk der alten sorgfältig beschnittenen Bäume vereitelte es.
»Unglaublich!« sagte sich Julian ärgerlich. »Schon wieder unüberlegt! Wenn man sich einen Scherz mit mir leistet, so muß ich meinen Feinden schon den Spaß machen, mit einem Briefe in der Hand aufzutauchen!«
Norberts Zimmer lag genau über dem seiner Schwester. Sobald Julian unter dem Deckung bietenden Laubdache der Lindenallee hervorkam, trat er in das Gesichtsfeld seiner vermutlichen Gegner, des Grafen Norbert und seiner Kameraden.
Fräulein von La Mole zeigte sich hinter den Scheiben ihres Fensters. Er ließ seinen Brief flüchtig sehen. Sie nickte. Julian ging in das Haus zurück und begegnete der schönen Mathilde wie zufällig auf der Haupttreppe. Ihre Augen lachten, als sie behend den Brief ergriff.
»Welche Leidenschaft glühte in den Augen der lieben Frau von Rênal, wenn sie einen Brief von mir in Empfang zu nehmen wagte, selbst noch, als unsre Beziehungen bereits ein halbes Jahr vertraut waren«, dachte Julian bei sich, als er in sein Zimmer hinaufging. »Ich glaube, sie hat mich kein einziges Mal mit lachenden Augen angesehen.«
Über das, was er fernerhin dachte, ward er sich nicht so klar wie hierüber. Vielleicht schämte er sich, daß kleinliche Motive darin auftauchen könnten. »Aber wie anders ist Mathilde in ihrer eleganten Morgenkleidung und in ihrem ganzen Wesen. Auf dreißig Schritt Entfernung sieht ihr jeder Kenner ihren gesellschaftlichen Rang an. Das ist ein unleugbarer Vorzug an ihr.«
Trotz all seiner Ironie war Julian vor sich selber noch nicht ganz ehrlich. Frau von Rênal hatte ihm keinen Marquis von Croisenois zu opfern gehabt. Bei ihr hatte er als Nebenbuhler nur den unnoblen Landrat Charcot, der sich »von Maugiron« nannte, dieweil die Maugirons ausgestorben sind.
Um fünf Uhr erhielt Julian einen dritten Brief. Er flog ihm durch die Tür der Bibliothek zu.
»Immer wieder reißt sie aus. Die wahre Schreibwut!« lachte er. »Wie unsinnig, wenn man sich so bequem sprechen kann! Der Feind will unbedingt Briefe von mir haben, und zwar mehrere!«
Er nahm sich mit dem Lesen Zeit. »Doch wieder nur mondäne Phrasen!« dachte er. Er ward aber blaß, als er las. Es waren nur wenige Zeilen:
»Ich muß Sie sprechen, und zwar unbedingt heute nacht. Seien Sie im Garten, wenn es ein Uhr schlägt. Nehmen Sie die große Leiter des Gärtners, die am Brunnen liegt, legen Sie sie unter meinem Fenster an und kommen Sie zu mir herauf. Es ist Mondenschein, das tut nichts.«
45. Kapitel
»Die Sache wird ernst!« sagte sich Julian und wurde nachdenklich. »Aber ich falle nicht darauf hinein. Das holde Fräulein kann mich in voller Freiheit in der Bibliothek sprechen. Der Marquis kommt nie dahin, aus Angst, ich könne ihm Geschäftsbücher vorlegen. Er und Graf Norbert, die einzigen Menschen, die diesen Raum überhaupt betreten, sind fast den ganzen Tag außer dem Hause. Man kann leicht aufpassen, wann sie heimkehren. Und da verlangt die erhabene Mathilde, der ein regierender Fürst noch zuwenig wäre, ich solle die tollste Unvorsichtigkeit begehen!
Es ist klar, man will mich zum Narren halten oder ins Verderben stürzen. Erst sollten mich meine Briefe zugrunde richten. Ich war zu vorsichtig. Jetzt suchen sie mich zu einer Tat zu verleiten, die niemand mißdeuten kann. Aber diese lieben Leutchen halten mich doch für gar zu dumm oder gar zu eitel. Teufel noch einmal! Bei hellichtem Mondschein auf einer Leiter sieben Meter hoch in den ersten Stock hinaufklettern, damit mich alle Welt, sogar in den Nachbarhäusern, sieht! Das wird ein Schauspiel ohnegleichen!«
Er ging auf sein Zimmer und packte, dabei pfeifend, seinen Koffer. Er war entschlossen abzureisen, ohne überhaupt zu antworten.
Aber dieser weise Entschluß brachte seinem Herzen keinen Frieden. Als sein Koffer zugemacht war, sagte er sich plötzlich: »Wenn Mathilde nun aber kein falsches Spiel treibt, dann bin ich in ihren Augen ein kompletter Feigling! Ich bin kein Aristokrat von Geburt; somit muß ich große Eigenschaften besitzen, und zwar ordentlich und ehrlich, nicht bloß auf einem geschmeichelten Bilde. Und ich muß sie durch eine drastische Tat beweisen …«
So grübelte er eine Viertelstunde lang. »Warum soll ich mir etwas vorlügen?« sagte er sich endlich. »Ich werde in ihren Augen ein Feigling sein. Damit verliere ich nicht nur den Stern der ersten Gesellschaft – wie man sie neulich auf dem Ballfeste des Herzogs von Retz genannt hat –, sondern auch die Götterfreude, mich dem Marquis von Croisenois vorgezogen zu sehen, dem Sohne eines Herzogs und selber künftigem Herzog,