Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.Stimmung, in der sie in den letzten Tagen gelebt hatte.
Es sei ihr fester Entschluß gewesen, sich ihm ganz zu eigen zu geben, falls er den Mut hätte, auf der Leiter zu ihr zu kommen. Sie gestand ihm dies; aber nie sind vertraute Liebesdinge so kühl und höflich gesagt worden. Immer noch wehte um das Stelldichein Gletscherkälte, in der eher Haß als Liebe gedieh. In dieser Luft mußte die Moral über die jugendliche Unbesonnenheit siegen. Und das sollte der Lohn für eine geopferte Zukunft sein?
Mathilde kämpfte einen langen Kampf mit sich. Der Haß klopfte an die Pforte ihres Herzens. So sehr wehrt sich die Gefühlswelt eines Weibes gegen den eigenen festen Willen. Aber am Ende wurde sie Julians freudige Geliebte.
Und doch war ihre Hingabe immer noch ein wenig gewollt. Ihre Liebesleidenschaft war eine Nachahmung eines phantastischen Vorbildes, keine ganz echte Wirklichkeit. Mathilde glaubte, sich selbst wie ihrem Geliebten gegenüber eine Pflicht erfüllen zu müssen. »Der arme Junge«, sagte sie sich, »hat sich tadellos tapfer gezeigt. Er muß beglückt werden, oder ich habe wenig Charakter!« Trotzdem wäre sie bereit gewesen, sich gegen ewiges Leid aus ihrer Zwangslage loszukaufen.
So gräßliche Gewalt sie sich auch antat: sie blieb Herrin ihrer Worte. Kein Ausdruck der Reue und kein Vorwurf trübte die Nacht, die Julian eher seltsam denn glücklich dünkte. »Wie anders waren die letzten vierundzwanzig Stunden in Verrières!« dachte er. »In so vollendeter Kultur erstirbt also auch die Liebe …«, wähnte er in seiner grenzenlosen Ungerechtigkeit zu erkennen.
Solchen Betrachtungen überließ er sich, als er in einem der beiden großen Mahagonischränke stak, wo er sich am Morgen verbergen mußte. Mathilde ging mit ihrer Mutter zur Messe.
Sobald die Kammerjungfer das Zimmer auf eine Weile verließ, gelang es Julian ohne Schwierigkeit hinauszuschlüpfen.
Er ließ sich ein Pferd geben und ritt in die einsamsten Waldwinkel, die es um Paris gibt. Er war mehr erstaunt als glücklich. Wenn er es minutenlang war, so war das Glück, das seine Seele durchzog, ähnlich dem Glücke eines jungen Leutnants, der zum Lohne für eine besondere Heldentat mit einem Sprung zum Obersten befördert worden ist. Er kam sich wie auf schwindelnder Höhe vor. Alles, was gestern noch hoch über ihm gestanden hatte, war mit einem Male seinesgleichen oder gar unter ihm.
Je weiter er ritt, um so mehr wuchs langsam sein Glück.
Daß Mathildens Seele aller Zärtlichkeit ledig geblieben war, lag daran, daß sie unter der Zwangsvorstellung litt, Julian gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Was auch in dieser Nacht geschehen war, ihr hatte sie nichts Unvorhergesehenes gebracht, mit Ausnahme des Leids und der Scham, die sie statt der in den Romanen so viel gepriesenen Glückseligkeit gefunden hatte.
»Sollte ich mich getäuscht haben?« fragte sie sich. »Am Ende liebe ich Julian gar nicht?«
47. Kapitel
Zum Mittagessen erschien Mathilde nicht. Abends kam sie einen Augenblick in den Salon, hatte aber keine Augen für Julian. Das dünkte ihn sonderbar; doch sagte er sich: »Ich kenne ihre Gewohnheiten nicht. Sie wird mir ihr Verhalten gelegentlich erklären.« Immerhin war er äußerst neugierig und musterte ihre Mienen mit prüfenden Blicken. Sie sah unverkennbar hart und bös aus. Sichtlich war sie nicht mehr das Weib, das in der vergangenen Nacht die seligsten Wonnen empfunden oder zu empfinden geheuchelt hatte. Ihre Ekstase kam ihm hinterher als zu ungeheuer vor, um wahr zu sein.
Am nächsten und am übernächsten Tage sah er sich der nämlichen Kälte gegenüber. Sie blickte ihn keinmal an und nahm von seiner Anwesenheit keine Notiz. Julian wurde von brennender Ungewißheit verzehrt. Das Siegergefühl, das ihn am ersten Tage beseelt hatte, verflog gründlich. »Sollte sie zur Tugend zurückgekehrt sein?« fragte er sich. »Nein, die stolze Mathilde ist keine Spießbürgerin! Im Grunde ist sie nicht fromm. Sie sieht in der Kirche eine nützliche Einrichtung zur Erhaltung des Adels. Aber könnte sie die begangene Sünde nicht einfach aus Schamgefühl bereuen?« Julian war überzeugt, ihr erster Liebhaber zu sein.
Dann wiederum sagte er sich: »Es ist nicht im geringsten Naives, Schlichtes, Zärtliches in ihrem Benehmen. Sie ist hochmütiger denn je. Verachtet sie mich? Es sollte mich nicht wundern, wenn sie voll Reue wäre, nur weil ich ein Plebejer bin.«
Er verlor sich in literarische Reminiszenzen und in Erinnerungen an Verrières. Während er der Vision einer zärtlichen Geliebten nachhing, die von der Stunde an, da sie den Erkorenen beglückt hat, ihre eigene Existenz vergißt, grollte ihm Mathilde aus Eigenliebe.
Da sie sich seit acht Wochen kaum mehr langweilte, hatte sie auch keine Furcht mehr vor der Langenweile. Dadurch hatte Julian völlig ahnungslos seinen größten Vorteil verloren.
»Ich habe einen Herrn über mich gesetzt!« sagte sie sich in düsterster Melancholie. »Er ist zwar voll Ehrgefühl, – gut! – aber wenn ich seine Eitelkeit aufs äußerste reize, wird er aus Rache die Art unseres Verhältnisses ausplaudern …«
Sie hatte noch nie einen Geliebten gehabt. Aber gerade an dem Punkte des Lebens, wo selbst die dürrsten Seelen holde Illusionen hegen, war sie den qualvollsten Gedanken preisgegeben.
»Er hat Riesengewalt über mich, weil er mich durch Schreck und Angst regiert und mich furchtbar strafen kann, wenn ich ihn tödlich verletze.«
Der Gedanke reizte sie; sofort nahm sie sich vor, ihm Schimpf anzutun. Der Grundzug ihres Charakters war Tollkühnheit. Mit ihrer Existenz wagehalsig zu spielen machte sie rege und vertrieb ihr die Langeweile, die sie manchmal wieder verspürte.
Als sich Julian auch am dritten Tage keines Blickes von ihr gewürdigt sah, folgte er ihr nach der Mittagstafel in das Billardzimmer, obgleich er wohl merkte, daß sie es nicht wünschte.
Mit unverhohlenem Zorn fuhr sie ihn an: »Herr Sorel, Sie bilden sich wohl ein, wunder welche Rechte über mich zu haben? Sie wollen mich sprechen, obgleich ich es Ihnen deutlich genug zeige, daß ich es nicht will. Wissen Sie, daß sich das mir gegenüber noch niemand herausgenommen hat!«
Die darauf folgende Aussprache des Liebespaares war spaßhaft anzusehen. Ohne es zu ahnen, waren sie von starkem Haß gegeneinander erfüllt. Da keines geduldigen Gemüts war und sie beide obendrein an den herkömmlichen Gewohnheiten der guten Gesellschaft hafteten, so dauerte es nicht lange, bis sie sich klipp und klar erklärten, daß sie für immerdar miteinander gebrochen hätten.
»Ich schwöre Ihnen ewige Verschwiegenheit«, beteuerte Julian. »Am liebsten möchte ich Ihnen sogar schwören, nie wieder mit Ihnen zu sprechen. Aber ein so auffälliges verändertes Benehmen von mir müßte Sie bloßstellen.«
Er verneigte sich ehrerbietig und verschwand.
Damit vollzog er ohne besondre Selbstüberwindung, was er für seine Pflicht erachtete. Er dachte nicht im geringsten daran, daß er in Mathilde verliebt sein könnte. Unzweifelhaft hatte er sie vor drei Tagen, als er im Mahagonischrank stak, nicht geliebt. Aber sein Seelenzustand änderte sich mit einem Schlage, wie er sich von Mathilde für allezeit geschieden sah.
Zu seiner Qual führte ihm sein Gedächtnis bis in die winzigsten Kleinigkeiten jene Liebesnacht wieder vor, die ihn während der Wirklichkeit so kalt gelassen hatte. Schon in der ersten Nacht nach ihrer Entzweiung glaubte Julian verrückt zu werden. Er mußte sich eingestehen, daß er Fräulein von La Mole liebte. Dieser Entdeckung folgten furchtbare seelische Kämpfe. Sein Innenleben war gründlichst aus dem Gleichgewicht.
Am dritten Tage konnte er sich kaum davon zurückhalten, Herrn von Croisenois unter Aufgabe allen Stolzes weinend um den Hals zu fallen.
Im weiteren Laufe seines Herzeleids fiel ein Strahl von Vernunft in seine Seele. Er entschloß sich, nach dem Languedoc zu reisen, packte seinen Koffer und ging zur Posthalterei. Als er dort vernahm, daß ganz zufälligerweise ein Platz in der Post nach Toulouse für den nächsten Tag frei war, brach er beinahe zusammen. Er bestellte ihn und begab sich wieder nach dem Hotel de La Mole, um dem Marquis seine Abreise zu vermelden.
Herr von La Mole war ausgegangen. Mehr tot als lebendig begab sich Julian nach der Bibliothek, um dort zu warten. Er verlor seine Sinne, als er daselbst Mathilde fand.
Als sie ihn eintreten sah, zog sie eine niederträchtige Miene, die nicht mißzuverstehen