Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.ekle mich vor mir, weil ich mich dem ersten besten hingegeben habe!« erwiderte Mathilde. In der Wut über sich selbst traten ihr Tränen in die Augen.
»Dem ersten besten!« schrie Julian und riß einen alten Degen von der Wand, der dort als mittelalterliche Antiquität hing. Er wähnte Tränen der Scham zu sehen. Das verhundertfachte seinen Schmerz, der ihm im Augenblicke, wo er Mathilden ansprach, schon grenzenlos erschienen war. Imstande zu sein, sie zu töten, wäre ihm das höchste Erdenglück gewesen. Der Degen ließ sich nur mit Mühe aus der Scheide ziehen.
Hoheitsvoll trat Mathilde ihm entgegen. Die Neuheit des Erlebnisses entzückte sie. Ihre Tränen waren versiegt.
Mit einem Male fiel ihm ein, daß er die Tochter seines Wohltäters vor sich hatte. »Ich seine Tochter töten? Grauenhaft!« rief er sich im Geiste zu und war eben im Begriffe, den Degen in die Ecke zu werfen. »Nur keine Operettengeste! Sie würde mich auslachen!«
Wieder voll bei Verstande, betrachtete er die Klinge sorgsam, als suche er Rostflecke darauf. Dann steckte er sie in die Scheide und hängte die Waffe mit der größten Ruhe an den vergoldeten Haken an der Wand.
Die ganze, gegen Ende langsame Szene hatte keine Minute gedauert. Mathilde sah Julian erstaunt an.
»Um ein Haar wäre ich also von meinem Liebhaber ermordet worden!« jubelte sie sich zu. Der Gedanke versetzte sie in die schönsten Zeiten Karls IX. und Heinrichs III. Unbeweglich stand sie vor Julian. Es lag nicht der geringste Haß mehr in ihrem Blicke. In diesem Augenblick sah sie verführerisch aus, ganz und gar nicht wie eine Pariser Puppe. (Das war der größte Vorwurf, den Julian den Pariserinnen machte.)
»Ich werde mich von neuem schwach gegen ihn zeigen«, befürchtete Mathilde. »Dann wird er sich erst recht für meinen Herrn und Gebieter halten.«
Sie entfloh.
»Bei Gott, sie ist wunderschön!« dachte Julian, als er sie enteilen sah. »Und dieses Geschöpf hat vor noch nicht acht Tagen liebestoll in meinen Armen gelegen! Ach, diese Stunden werden niemals wiederkehren! Und ich bin selber schuld daran! Im Augenblicke eines so großen seltsamen Erlebnisses war ich dafür unempfänglich… Ich muß gestehen: ich bin ein unseliger Alltagsmensch!«
Der Marquis erschien. Julian beeilte sich, ihm seine Abreise zu melden.
»Wohin?« fragte Herr von La Mole.
»Nach dem Languedoc.«
»Lassen Sie das, wenn ich bitten darf! Ich habe eine andre wichtigere Mission für Sie. Wenn es soweit ist, sollen Sie nach Norden gehen. Ja, militärisch ausgedrückt, erteile ich Ihnen sogar Stubenarrest. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie das Haus nie länger als zwei bis drei Stunden verlassen wollten. Ich kann Ihrer in jedem Augenblick bedürfen.«
Julian verbeugte sich und zog sich, ohne ein Wort zu sagen, zurück. Der Marquis sah ihm verwundert nach.
Julian war nicht imstande zu reden. Er schloß sich in sein Zimmer ein. Dort grübelte er fassungslos über sein bitteres Schicksal nach.
»Großer Gott!« klagte er. »Nicht einmal fort kann ich. Wer weiß, wie lange ich noch hier in Paris bleiben muß. Und ich habe keinen Freund, den ich um Rat fragen könnte!
Ich werde verrückt! Ich fühle es, ich werde verrückt. Wer steht mir bei? Was soll aus mir werden?«
48. Kapitel
Mathilde dachte voller Entzücken an nichts als an das Glück, beinahe ermordet worden zu sein. Sie verstieg sich soweit, daß sie sich sagte: »Er ist würdig, mein Gebieter zu sein, weil er mich beinahe getötet hat! Wie viele von den glänzenden jungen Herren der Gesellschaft müßte man zusammenschweißen, um einen so leidenschafts-durchloderten Mann zu bekommen! Ich muß gestehen, in dem Moment, wo er auf den Stuhl stieg, um den alten Degen peinlich genau wieder an seinen ihm vom Tapezierer angewiesenen malerischen Platz an der Wand zu hängen, da sah er allerliebst aus! Und trotz alledem war ich nicht toll genug, ihm um den Hals zu fallen.«
Wenn ihr in diesem Augenblick ein leidlich anständiger Weg erkennbar gewesen wäre, von neuem anzuknüpfen, so hätte sie ihn mit Freuden eingeschlagen.
Julian hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und rang mit der heftigsten Verzweiflung. In seinen wahnsinnigen Ideen wäre er Mathilden am liebsten zu Füßen gefallen. Wenn er, statt in seiner Klause zu grübeln, durch Haus oder Garten geirrt wäre, um die Gelegenheit dazu zu finden, so hätte sich sein düsteres Leid vielleicht rasch zu sonnigem Glück gewandelt.
Mathildens für Julian so günstige Laune hielt den ganzen Tag über an. Sie träumte sich in die flüchtigen Augenblicke zurück, in denen sie ihn geliebt hatte. Vor diesem verlockenden Traum sehnte sie sich nach ihnen zurück.
»Im Grunde«, sagte sie sich, »hat meine Leidenschaft für den armen Jungen nicht länger gedauert als von ein Uhr nachts, wo ich ihn mit seinen Pistolen in der Rocktasche auf der Leiter zu mir heraufklettern sah, bis zum andern Morgen acht Uhr. Schon eine Viertelstunde später, als ich in der Kirche Sainte-Valère die Messe hörte, fingen meine Bedenken an, er könne sich für meinen Gebieter halten und es versuchen, mich durch Schreckmittel zum Gehorsam zu zwingen.«
Nach Tisch wich sie ihm diesmal nicht aus; vielmehr redete sie ihn an und forderte ihn auf, sie in den Garten zu begleiten. Er tat es. Diese neue Prüfung hatte nur gefehlt. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, gab Mathilde der verliebten Regung nach, die sie von neuem für Julian empfand. Es war ihr ein großes Vergnügen, an seiner Seite zu wandeln. Neugierig betrachtete sie die Hände, die am Vormittag den Degen ergriffen hatten, um sie zu töten.
Nach einer solchen Tat und nach allem, was geschehen, konnte von einer Unterhaltung im früheren Tone keine Rede sein. Nach und nach begann Mathilde in vertraulicher Weise von ihrem Herzenszustande zu sprechen. Sie fand an dieser Art Plauderei eine seltsame Wollust. Schließlich bekannte sie ihm sogar, daß sie für den Marquis von Croisenois und den Grafen von Caylus eine flüchtige Schwärmerei gehabt habe.
»Was? Auch für Herrn von Caylus?« unterbrach Julian ihre Erzählung. Die volle bittere Eifersucht des verlassenen Liebenden klang aus seinen Worten heraus. Mathilde fühlte sich durchaus nicht beleidigt. Sie beurteilte seine jähe Frage richtig.
Sie fuhr fort, Julian zu quälen, indem sie ihre ehemaligen Gefühle auf das anschaulichste und bis in die Einzelheiten schilderte, immer im Tone des vertraulichsten Bekenntnisses. Er fühlte, daß sie das alles vor Augen haben mußte, was sie ihm so deutlich schilderte, und zu seinem Schmerze wurde er gewahr, daß sie beim Erzählen Entdeckungen in ihrem eigenen Herzen machte.
Das war der Gipfel unglücklicher Eifersucht. Der Argwohn, daß ein Rivale geliebt wird, ist schon grausam genug. Aber eine Liebesbeichte anhören zu müssen, in der einem die Angebetete haarklein darlegt, wie der andere auf sie wirkt, das ist das allergrößte Unglück. Jetzt ward Julian arg dafür gestraft, daß er insgeheim über seine Nebenbuhler triumphiert hatte. Jetzt in seinem echten schweren Kummer erschien ihm Mathilde herrlicher denn je, und um so heißer verachtete er sich selber.
Sie kam ihm unvergleichlich schön vor. Seine Bewunderung hatte keine Grenzen mehr. Ihr zur Seite schreitend, liebkosten seine Blicke ihre Hände, ihre Arme, ihre ganze königliche Gestalt. Vor Liebe und Leid haltlos, war er nahe daran, ihr zu Füßen zu sinken und Gnade! zu schreien.
»Ach«, seufzte er, »dieses herrliche, allen überlegene Weib, einst meine Geliebte, wird gewiß bald in den Armen des Herrn von Caylus liegen!«
Julian hatte keinen Grund, an Mathildens Wahrhaftigkeit zu zweifeln. Alles, was sie sagte, klang allzu aufrichtig. Mitunter schien es ihm sogar, als müsse sie Herrn von Caylus immer noch lieben. In ihren Worten zitterte etwas wie Verliebtheit. Julian glaubte sich hierin nicht zu täuschen. Er hätte weniger gelitten, wenn man ihm geschmolzenes Blei auf die nackte Brust gegossen hätte. Wie konnte er in seinem unsagbaren Kummer auch ahnen, daß Mathilde von La Mole nur deshalb so viel Genuß daran fand, alte Liebeleien zu beichten, weil sie mit ihm redete.
Julians Herzensnot war um so qualvoller, weil er diese ausführlichen Geständnisse der Liebe zu anderen in der nämlichen Lindenallee anhören mußte, wo er wenige Tage zuvor den Schlag der Uhr erwartet hatte, der