Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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mit verhaltener Wut. »Dagegen werden wir uns schützen, indem wir zu Anfang unsrer Antwort die lebhaftesten Wendungen aus dem Briefe der erhabenen Mathilde einfach wiederholen. Ja, aber vier Lakaien des Marquis von Croisenois werden sich auf mich stürzen und mir das Original entreißen. Erfolglos … Ich bin wohlbewaffnet und im Schießen auf Domestiken bekanntlich kein Anfänger. Gewiß! Aber schließlich kriegt mich einer doch unter. Man hat ihm eine hohe Belohnung versprochen … Ich verwunde oder töte ihn … Das will man ja gerade! Dann komme ich mit Fug und Recht in Untersuchungshaft; vor den Richter und ins Zuchthaus … Dort liege ich dann unter vierhundert Lumpen aller Art… Und ich wollte Mitleid mit diesen Leuten haben!«

      Er sprang empört auf. »Mitleid! Haben sie vielleicht Mitleid mit unsereinem, wenn man in ihrer Gewalt ist?«

      Mit diesem Aufschrei erstarb der Rest von Dankbarkeit gegen Herrn von La Mole, die ihn gegen seinen Willen gequält hatte.

      »Nicht so eilig, Ihr Herren Edelleute! Ich begreife diese kleine Betätigung des Machiavellismus. Der Abbé Maslon oder Herr Castanède vom Seminar hätten es nicht besser gemacht. Man wird mir den provozierenden Brief nicht lassen. Einen Augenblick! Zunächst will ich den fatalen Brief in Sicherheit bringen. Ich werde ihn wohlversiegelt an Pirard, nein lieber an Fouqué schicken.«

      Julians Blick war unheimlich; sein Ausdruck abscheulich. Er war in Verbrecherstimmung. Ein unglücklicher Mensch allein im Kampfe mit der ganzen Gesellschaft!

      »Zur Attacke!« rief Julian.

      Mit einem Satz sprang er die Freitreppe hinunter, eilte zu einem protestantischen Buchhändler, kaufte eine dicke Bibel, in deren Einband er Mathildens Brief sehr geschickt verbarg. Dann ließ er sie verpacken und schickte das Paket mit der Eilpost an Fouqué.

      Frohgemut schlenderte er in das Palais zurück.

      »Jetzt kommen wir daran!« rief er aus, indem er sich in sein Zimmer einschloß und seinen Rock abwarf.

      »Gnädiges Fräulein«, schrieb er an Mathilde. »Was soll das? Fräulein von La Mole schickt durch Arsen, ihres Vaters Lakaien, einen allzu verführerischen Brief an einen armen Müllerssohn aus den Bergen, ohne Zweifel, um mit seiner Einfalt zu spielen …«

      Im weiteren wiederholte er die verfänglichsten Sätze aus ihrem Briefe.

      Julians Antwort hätte selbst der diplomatischen Vorsicht eines Chevaliers von Beauvaisis Ehre gemacht.

      Es war erst zehn Uhr. In seinem Glückstaumel und seinem, für einen armen Teufel so ungewohnten Machtgefühl ging Julian in die Oper. Freund Geronimo sang. Noch nie hatte ihn Musik so berauscht. Er fühlte sieh wie ein Gott.

      44. Kapitel

      Mathilde hatte nicht ohne innere Kämpfe an Julian geschrieben. Welcher Art auch ihre Neigung zu ihm anfangs gewesen sein mochte, bald triumphierte sie über den Hochmut, der in ihrem Herzen die Alleinherrschaft gehabt, solange sie sich kannte. Ihre kühle stolze Seele fühlte sich zum erstenmal im Leben von einer Leidenschaft getrieben. Aber wenn diese ihren Hochmut auch bändigte, so blieb Mathilde doch den Gewohnheiten ihres Stolzes treu. Erst acht Wochen voller Seelenkämpfe und nie geahnter Empfindungen gossen ihren inneren Menschen sozusagen um.

      Mathilde bildete sich ein, das Glück gefunden zu haben. Dieser Glaube ist in mutigen Herzen, wenn sich ein höherer Geist dazu gesellt, allmächtig. Er war es, der den langen Kampf mit der Dezenz und den tausend Dingen des herkömmlichen Pflichtgefühls in ihr geführt hatte. Eines Morgens war sie bereits um sieben Uhr in das Zimmer ihrer Mutter gekommen und hatte um die Erlaubnis gebeten, sich nach Villequieur zurückziehen zu dürfen. Die Marquise würdigte sie keiner Antwort und gab ihr den Rat, sich wieder ins Bett zu legen. Das war die letzte starke Äußerung der gewöhnlichen Sittsamkeit und des Hanges an der hergebrachten Moral.

      Die Furcht, etwas Unschickliches zu tun und die geheiligte Lebensanschauung ihres Kreises zu verletzen, hatte nur geringe Macht über ihre Seele. Menschen wie Croisenois, Caylus und Luz hielt Mathilde nicht für geschaffen, sie zu verstehen. Sie schienen ihr gut, wenn man einen Ratgeber braucht, ehe man einen Wagen oder Landgut kauft. Im Grunde fürchtete sie nichts, als daß Julian unzufrieden mit ihr sein könne.

      Mangel an Charakter war ihr abscheulich. Das war das einzige, was sie gegen die eleganten und vornehmen jungen Herren ihrer Umgebung einzuwenden hatte. Je mehr sie sich in ihrer witzelnden Weise über alles lustig machten, was nicht im Geleise der Mode trottete oder davon abirrte, desto mehr verloren sie in ihren Augen.

      Sie hatten Schneid. Das war aber auch alles. »Übrigens: gibt es heutzutage eigentlich noch Tapferkeit?« fragte sie sich weiter. »Beim Duell? Das Duell ist nur noch eine Zeremonie. Man weiß dabei alles im voraus, sogar was man zu sagen hat, wenn man fällt. Wenn man auf dem Rasen liegt, drückt man seine Hand aufs Herz, verzeiht großmütig seinem Gegner und schickt einen letzten Gruß an seine Dame, oft nur an eine erdachte, oder an eine, die am Todestage auf den Ball geht, um jeden Verdacht abzulenken. Und die soldatische Tapferkeit? Man reitet vor der Front einer in Stahl blinkenden Schwadron frohgemut der Todesgefahr entgegen. Aber wer will etwas zu schaffen haben mit der Gefahr, die einsam, ungewöhnlich, unvorhergesehen und im häßlichsten Gewande erscheint?«

      Mathilde seufzte tief auf.

      »Ach, am Hofe Heinrichs III. gab es noch Männer, von Charakter groß wie von Geburt. Ja, wenn Julian bei Jarnac oder bei Moncontour gefochten hätte, wäre ich nicht mehr im Zweifel. Dazumal, in jenen Zeiten der Größe und Kraft, waren die Franzosen keine Puppen. Am Tage einer Schlacht gab es am allerwenigsten Hast und Unruhe. Damals waren die Menschen noch nicht Mumien, noch nicht alle in eine ewig gleiche Schale eingezwängt. Damals gehörte mehr Mut dazu, um elf Uhr abends aus dem Palast Soissons, wo Katharina von Medici wohnte, hinauszugehen, als heutzutage eine Reise nach Timbuktu zu unternehmen. Damals war das Leben eines Mannes eine Kette von Zufällen. Jetzt hat die Zivilisation den Zufall verjagt. Es gibt nichts Unverhofftes mehr. In der Ideenwelt verspottet man es. Wo im wirklichen Leben Zufälle auftauchen, entstehen Paniken. Jede Feigheit, jede Torheit, angesichts eines Zufalles begangen, findet Entschuldigung. Das ist die entartete langweilige moderne Zeit! Was würde der geköpfte Bonifaz von La Mole gesagt haben, wenn er, wiederauferstanden von den Toten, hätte mitansehen können, wie sich Anno 1793 siebzehn Träger seines Namens wie die Schafe gefangennehmen ließen, um auf die Guillotine geschleppt zu werden? Der Tod war ihnen sicher, aber es galt für unschicklich, sich zu wehren und wenigstens noch einen oder zwei Jakobiner niederzuschlagen. Ach, lebten wir in einer Heldenzeit, so führte Julian ein Fähnlein Reiter, und Norbert wäre Priester und regelrechter Verkünder von Sittsamkeit und Alltagsweisheit…«

      Noch vor wenigen Monaten hatte Mathilde daran gezweifelt, je einen Menschen zu finden, der von der allgemeinen Schablone einigermaßen abwich. Es war ihr ein gewisser Genuß gewesen, den jungen Herren ihres Kreises Briefe zu schreiben. Für eine junge Dame war das eine kecke Verletzung der Schicklichkeit, deren Bekanntgabe sie in den Augen des alten Herrn von Croisenois geradezu entehrt hätte. Damals konnte sie an den Tagen, wo sie einen Brief abgeschickt hatte, nachts nicht schlafen. Und doch waren das nur Antworten gewesen. Jetzt hatte sie es gewagt, von ihrer Liebe zu schreiben! Sie hatte (entsetzlich!) zuerst an einen Menschen geschrieben, der gesellschaftlich tief unter ihr stand. Wenn das an den Tag kam, war sie auf ewig in Verruf. Keine der Damen, die mit ihrer Mutter verkehrten, würde dies entschuldigen. Sprechen galt schon fast für unschicklich. Aber schreiben! Napoleon hat einmal gesagt (als er die Kapitulation von Baylen erfuhr): » Es gibt Dinge, die man nicht schreibt!« Und gerade diesen Ausspruch hatte Julian ihr gelegentlich erzählt, gleichsam zur Belehrung im voraus.

      Aber über dies hinaus hatte Mathildens Furcht noch andre Ursachen. An die schlimmen Folgen ihrer Handlung in gesellschaftlicher Hinsicht, an die unheilbare Schande und die allgemeine Verachtung, die ihr da drohten (denn sie hatte ihre Kaste beschimpft!), dachte sie gar nicht. Sie dachte nur daran, daß sie es mit einem Ausnahmemenschen zu tun hatte.

      Julian hatte einen unergründlichen, geheimnisvollen Charakter. Mit ihm in oberflächliche Beziehung zu kommen, war schon schrecklich. Und jetzt stand Mathilde im Begriffe, ihn zu ihrem Geliebten zu machen, vielleicht zu ihrem Herrn und Gebieter!

      »Was wird er alles beanspruchen, wenn er alle Macht über mich hat?« fragte sie sich. »Mag es werden, wie es will! Mit


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