Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.hatte seine Abreise geheimgehalten, doch Mathilde wußte so gut wie er, daß er am nächsten Morgen Paris für lange Zeit verlassen sollte. Ein heftiges Kopfweh, das in der trocknen Hitze des Salons noch schlimmer geworden wäre, kam ihr zu Hilfe. Sie wandelte fast den ganzen Tag im Garten auf und ab. Ihrem Bruder samt seinen Freunden Croisenois, Caylus, Luz und etlichen andern Mittagsgästen im Hause La Mole setzte sie so lange mit ihren bösen Scherzen zu, bis sie gingen. In diesem Moment ward Julian ein seltsamer Blick zuteil.
»Dieser Blick ist vielleicht Komödie«, dachte Julian. »Aber ihr wogender Busen und ihre sichtliche Verwirrung? Unsinn! Bin ich denn der Mann, der dies alles beurteilen kann? Hier stehe ich dem Erzraffinement der wunderbarsten aller Pariserinnen gegenüber! Die Atemnot, die mich um ein Haar gerührt hätte, hat sie gewiß der Leontine Fay abgeguckt, für die sie so schwärmt!«
Sie waren allein. Die Unterhaltung stockte. »Nein, Julian fühlt nichts für mich!« sagte sich Mathilde, wahrhaft unglücklich.
Als er Abschied von ihr nahm, drückte sie seine Hand heftig.
»Sie werden heute abend einen Brief von mir bekommen …«, sagte sie in so verändertem Tone, daß Julian den Eindruck wie von einer ganz fremden Stimme hatte.
Dieser Umstand stimmte Julian urplötzlich um.
»Mein Vater«, fuhr sie fort, »ist mit Ihnen dermaßen zufrieden, daß er Ihnen nicht gleich etwas übelnimmt. Sie dürfen morgen nicht abreisen! Finden Sie einen Vor wand!«
Damit lief sie weg.
Julian schaute ihr nach. Sie sah reizend aus. Unmöglich konnte es niedlichere Füße geben. Sie eilte so graziös dahin, daß Julian entzückt war. Und doch war sein erster Gedanke, als sie verschwunden war, eine Bizarrerie. Er war gekränkt über den gebieterischen Ton, mit dem sie ihm gesagt hatte: Sie dürfen nicht! War nicht selbst König Ludwig XV. tief verletzt, als er im Sterben lag und sein Leibarzt ungeschickterweise das Wort müssen gebrauchte! Und Ludwig XV. war alles andre denn ein Emporkömmling!
Eine Stunde darauf brachte ihm ein Lakai einen Brief, eine regelrechte Liebeserklärung.
»Stilistisch nicht allzu geziert!« sagte Julian sich, um mit dieser literarischen Kritik die Freude zu dämpfen, die ihm die Backen kitzelte und ihn wider Willen zum Lachen zwang.
»Na also!« rief er plötzlich aus. Seine Aufregung war zu groß, als daß er sich noch länger bezwingen konnte. »Da habe ich armer Plebejer die Liebeserklärung einer großen Dame!«
»Kein übler Erfolg!« fuhr er fort, indem er sich weitere Mühe gab, seine Freude einzudämmen. »Ich habe die Würde meiner Individualität zu wahren gewußt.«
Er begann die Schriftzüge zu studieren. Fräulein von La Mole hatte eine nette niedliche englische Handschrift. Julian hatte eine Beschäftigung mit Äußerlichkeiten nötig, um vor Freude nicht toll zu werden.
»Ihre Abreise zwingt mich zu sprechen… Es geht über meine Kraft, Sie nicht mehr zu sehen …«
Ein Gedanke kam ihm plötzlich wie eine Offenbarung. Er ließ ab, Mathildens Brief zu studieren. Seine Freude verdoppelte sich.
»Ich siege über den Marquis von Croisenois!« rief er aus. »Ich mit meinen immer ernsten Gesprächen! Und Croisenois ist so hübsch; er trägt einen Schnurrbart und eine prächtige Uniform; er weiß immer im rechten Augenblick ein geistreiches feines Wort zu sagen …«
Julian hatte einen köstlichen Augenblick. Toll vor Glück irrte er planlos durch den Garten.
Später ging er in sein Arbeitszimmer und ließ sich beim Marquis anmelden. Glücklicherweise war Herr von La Mole nicht ausgegangen. An der Hand einiger aus der Normandie eingegangenen Schriftstücke, die ein paar dort geführte Prozesse betrafen, legte er ihm ohne Mühe dar, daß er seine Reise nach dem Languedoc aufschieben müsse.
»Es freut mich, daß Sie nicht abreisen«, sagte der Marquis, als die geschäftliche Besprechung zu Ende war. »Ich habe Sie gern um mich.«
Julian ging. Die letzten Worte des Marquis bedrückten ihn. »Und ich Schelm will seine Tochter verführen! Vielleicht ihre Heirat mit Croisenois vereiteln, die dem Marquis das Glück der Zukunft ist! Denn wenn er selber nicht Herzog wird, so will er wenigstens seine Tochter im Besitze der Herzogskrone sehen.«
Einen Augenblick dachte Julian daran, nach dem Languedoc abzureisen, trotz Mathildens Brief, trotz der dem Marquis gegebenen Erklärung. Aber bald verflackerte dieser letzte Funke von Pflichtgefühl.
»Eigentlich bin ich doch ein guter Kerl«, sagte er sich. »Ich, der Plebejer, habe Mitleid mit einer hocharistokratischen Familie! Ich, der ich in den Augen des Herzogs von Chaulnes ein Domestik bin! Der Marquis ist ein Krösus. Und wie vermehrt er sein Riesenvermögen? Wenn er im Schloß munkeln hört, daß anderntags ein Staatsstreich stattfindet, verkauft er seine Staatspapiere. Und ich, den eine stiefmütterliche Vorsehung in die niedrigste Klasse der Gesellschaft gestellt hat, ich habe ein edles Herz, aber keine tausend Franken Zinsen im Jahre. Das heißt, ich bin bettelarm, jawohl, buchstäblich bettelarm! Und da sollte ich mir ein Vergnügen versagen, das sich mir bietet? Soll vorbeigehen an einem klaren Quell, der meinen Durst stillen kann in der Glut der Wüste der Mittelmäßigkeit, durch die ich mich mühselig schleppe! Hol mich der Teufel! So dumm bin ich nicht. Jeder für sich in dieser Wüste des Egoismus, die man das Leben nennt!«
Er erinnerte sich gewisser verächtlicher Blicke der Marquise von La Mole und besonders ihrer Freundinnen. Und die Freude, über den Marquis von Croisenois zu triumphieren, tat das übrige, um seiner Moralanwandlung den Todesstoß zu geben. »Es wäre mir ein Genuß, ihn gereizt zu sehen!« dachte Julian. »Mit welcher Sicherheit würde ich ihm jetzt einen Degenstich beibringen!« Dabei machte er die Bewegung eines Sekundenstoßes. »Bisher war ich ein armseliges Schreiberlein, das sein bißchen Mut ruhmlos vergeudete! Nach diesem Briefe bin ich seinesgleichen.*
»Ja«, sagte er sich in unendlicher Wonne, wobei er jedes einzelne Wort Silbe für Silbe betonte, »meine und des Marquis Verdienste lagen auf einer Waage, und der arme Müllerssohn aus dem Jura hat den Sieg davongetragen.«
»Famos!« rief er aus. »Das ist ein Gedanke! In diesem Sinne werde ich die Antwort abfassen! Bilden Sie sich nicht ein, Fräulein von La. Mole, daß ich mein Plebejertum je vergesse! Ich werde es Ihnen immer wieder vorhalten und fühlbar machen, daß Sie einen Nachkommen des berühmten Veit von Croisenois, der mit Ludwig dem Heiligen in den Kreuzzug ging, an den Sohn eines Sägemüllers verraten!«
Julian konnte sich in seiner Freude nicht mehr halten. Er mußte in den Garten hinuntergehen. Sein Zimmer, in das er sich eingeschlossen hatte, kam ihm zu eng vor.
»Ich, der arme Bauernjunge aus dem Jura«, wiederholte er sich unaufhörlich, »ich, der ich dazu verurteilt bin, ewig diesen traurigen schwarzen Kittel zu tragen! Ach, zwanzig Jahre früher hätte ich einen Feldrock getragen wie Croisenois und seine Kameraden. Ein Mann meines Schlages wäre vor dem Feind gefallen oder mit sechsunddreißig Jahren General geworden!«
Der Brief, den er krampfhaft in der Hand hielt, gab ihm die Miene und die Haltung eines Helden. »Heutzutage freilich«, sagte er sich, »hat man im besten Falle mit vierzig Jahren ein Einkommen von hunderttausend Franken – in diesem schwarzen Rocke …«
»Tritt gefaßt!« setzte er mit mephistophelischem Auflachen hinzu. »Ich habe mehr Geist als diese Landsknechte! Ich erkenne die Uniform meines Jahrhunderts!«
Und er fühlte fast körperlich, wie sein Ehrgeiz und seine Liebe zum geistlichen Stand schwollen. »Wie viele Kardinäle, noch niedriger geboren als ich, haben doch regiert, mein Landsmann Granvella zum Beispiel!«
Nach und nach legte sich seine Aufregung. Die Vorsicht gewann wieder die Oberhand. Mit seinem Meister Tartüff, dessen Rolle er auswendig konnte, rief er laut aus:
»Ich darf in ihren Worten List nur sehn,
Und traue eher nicht dem süßen Klange,
Als bis von all der Gunst, die ich begehre,
Ein wenig mir das ganze Glück verheißt.
Auch Tartüff ist durch eine Frau zugrunde gegangen, obgleich er seine