Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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acht lange Tage. Bald schien es ihm, als suche Mathilde die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, bald wieder, als entziehe sie sich ihr zum mindesten nicht. Und der Gegenstand ihrer Unterhaltung, auf den beide immer wieder mit schier grausamer Wollust zurückkamen, bestand in der Beschreibung der Gefühle, die Mathilde für andere empfunden hatte. Sie erzählte ihm von den Briefen, die sie geschrieben, wobei sie sich ihres Wortlautes entsann und ganze Sätze hersagte. Ihre Mienen dabei kamen ihm boshaft vor. Er litt maßlos, und sie hatte sichtlich ihre Freude daran.

      Julian hatte keine Lebenserfahrung; ja, er hatte nicht einmal aus Romanen gelernt. Wäre er ein wenig gewandter gewesen, so hätte er der Angebeteten, die ihm so sonderbare Bekenntnisse machte, einfach gesagt: »Gestehe nur: wenn ich auch nicht so vornehm bin wie jene Herren, so bin ich es doch, den du liebst!« Vielleicht wäre sie glücklich gewesen, daß er sie durchschaute. Zum mindesten hätte er unter Umständen Erfolg damit gehabt, je nach der netten Art und Weise, in der er dies gesagt, und je nach dem dazu gewählten Momente. In jedem Falle hätte er der Situation ein Ende gemacht, die Mathilden langweilig zu werden anfing. Damit hätte er einen Vorteil erreicht.

      So aber, nur sein Liebesleid empfindend, fragte er sie eines Tages: »Sie lieben mich nicht mehr, mich, der ich Sie anbete!«

      Das war ungefähr die größte Dummheit, die er begehen konnte. Seine Klage zerstörte mit einem Schlage das Vergnügen, das Fräulein von La Mole darin gefunden hatte, ihm von ihrem Herzenszustande zu erzählen. Nach allem, was vordem geschehen, war sie nachgerade verwundert, daß er ihre Geständnisse hinnahm, ohne sich empört zu zeigen. In dem Moment, ehe er ihr jene törichten Worte sagte, bildete sie sich sogar ein, Julian liebe sie nicht mehr.

      »Sicherlich hat der Stolz seine Liebe erstickt«, hatte sie sich gesagt. »Er ist nicht der Mann, der gemütlich zuschaut, wie ihm Leute wie Caylus, Luz und Croisenois vorgezogen werden, noch dazu, wo er selber gesteht, daß sie ihm weit überlegen sind. Nein! Ich werde ihn nie wieder in mich verliebt sehen …«

      In der Tat hatte Julian in den letzten Tagen mehrfach anerkennende, ja sogar übertreibende Bemerkungen über die glänzenden Eigenschaften der genannten Herren gemacht. Es war in der Naivität seines Schmerzes geschehen. Dieses Motiv blieb Mathilden verborgen. Gerade deshalb wunderte sie sich über sein Lob. Indem er in einer Bizarrerie seines Gemütes einen Nebenbuhler, an dessen Bevorzugung er glaubte, in den Himmel hob, sympathisierte er mit dem Glücklichen.

      Seine ebenso aufrichtigen wie dummen Worte änderten, wie gesagt, die ganze Lage mit einem Schlage. Mathilde, der Liebe Julians nun sicher, verachtete ihn jetzt gründlich. Sie ließ ihn mitten im Park stehen, und der letzte Blick, den sie ihm zuwarf, war voller Geringschätzung. Wieder im Salon, sah sie Julian den Rest des Abends nicht mehr an.

      Fortan stand ihr ganzes Denken und Trachten im Zeichen ihrer Verachtung. Acht Tage lang hatte es ihr so viel Freude bereitet, Julian als ihren vertrautesten Freund zu behandeln. Davon war keine Spur mehr vorhanden. Ihre Abneigung ging bis zum Widerwillen, und wenn er ihr vor die Augen kam, tat sie alles, um ihm ihre grenzenlose Verachtung kundzutun.

      Von dem, was in den letzten acht Tagen in Mathildens Herzen vorgegangen war, wußte und begriff Julian nichts. Nur die Verachtung verspürte er. Er war aber verständig; genug, sich ihr so selten wie nur möglich zu zeigen, und schaute sie keinmal an.

      Dadurch beraubte er sich unter großem Schmerze ihrer Gegenwart. Es kam ihm vor, als vermehre er dadurch sein Leid. »Tapferer kann kein Mann sein!« rief er sich zu. Stundenlang hockte er hinter dem sorglich verschlossenen Laden eines kleinen Fensters der Mansarde und betrachtete Mathilde, wenn sie im Garten war. Am wunderlichsten war ihm zumute, wenn er sah, wie sie von Caylus oder von einem der Herren begleitet wurde, mit denen sie einen Flirt gehabt haben wollte.

      Julian hatte bis dahin keine Ahnung, welche Abgründe der Schmerz hat. Er hätte laut aufschreien mögen. Seine so standhafte Seele war nun in ihren Grundfesten erschüttert. An etwas zu denken, was nicht mit Mathilde irgendwie zusammenhing, war ihm widerlich. Er war unfähig, die einfachsten Briefe zu schreiben.

      »Sie sind nicht bei Sinnen!« tadelte ihn der Marquis.

      Julian erschrak. Er bekam Angst, sich zu verraten, und entschuldigte sich damit, er fühle sich krank. Man glaubte ihm.

      Zum Glück für ihn machte Herr von La Mole einmal bei Tisch eine scherzhafte Anspielung auf seine bevorstehende Reise. Mathilde erfuhr, daß sie sehr lange dauern könne. Es war schon mehrere Tage her, daß Julian ihr auswich, und die vornehmen jungen Herren, die so ganz anders waren als das blasse düstere Wesen, das sie einst geliebt hatte, waren nicht mehr imstande, sie ihrer Traumwelt zu entreißen.

      Sie sagte sich: »Ein gewöhnliches Mädchen hätte sich für einen von diesen jungen Leuten entschieden, die im Salon aller Augen auf sich ziehen. Aber es gehört zur Genialität, nicht im alten Geleise der Allgemeinheit mitzutrotten. Wenn ich die Gefährtin eines Mannes bin, dem nichts fehlt als ein großes Vermögen (und das besitze ich ja!), dann werde ich von aller Welt fortgesetzt beobachtet und nie unbeachtet durch das Leben schreiten. Es fällt mir nicht ein, in einem fort Angst vor einer neuen Revolution zu haben wie meine Cousinen, die aus Furcht vor dem Pöbel kaum einem Postillion, der sie schlecht fährt, grob zu werden wagen. Ich bin überzeugt, daß ich eine Rolle in der Welt spielen werde, und zwar eine große Rolle, denn der Mann, den ich mir erkoren habe, hat festen Charakter und grenzenlosen Ehrgeiz. Was fehlt ihm? Beziehungen und Geld? Das kann ich ihm geben.«

      In ihren Gedanken behandelte sie Julian trotzdem als ein niedrigeres Wesen als sich selbst, als eins, von dem man sich lieben läßt, wenn es einem paßt.

      49. Kapitel

      Verloren in Grübeleien über die Zukunft und über die Rolle, die sie zu spielen hoffte, kam der Augenblick, wo sich Mathilde nach den nüchternen erdenfernen Gesprächen zurücksehnte, die sie oft mit Julian gepflogen hatte. Bisweilen auch, vom Fluge in die Höhen ermattet, wünschte sie sich die Augenblicke des Glücks zurück, die sie bei ihm gefunden hatte. Aber zu solchen Erinnerungen gesellte sich ihr stets die Reue. Mitunter litt sie arg darunter.

      »Auch in ihrer schwachen Stunde«, sagte sie sich, »darf sich eine junge Dame meiner Art höchstens einem hervorragenden Manne zuliebe vergessen. Man soll nicht sagen dürfen, sein hübsches Gesicht oder seine Schneidigkeit zu Pferd hätte mich verführt. Seine klugen Gespräche über Frankreichs Entwicklung und seine Gedanken über die Ähnlichkeit der Ereignisse, die am Horizonte lauern, mit der englischen Revolution von 1688, die sind daran schuld gewesen!« Und wenn sie Gewissensbisse verspürte, so sagte sie sich: »Ich bin verführt worden als ein schwaches Weib, aber nicht wie jedes beliebige Schäfchen durch äußere Vorzüge. Wenn wieder eine Revolution ausbricht, warum sollte Julian Sorel dann nicht die Rolle des Herrn Roland spielen und ich die der Frau Roland? Ihre Rolle wäre mir lieber als die der Frau von Staël. Amoralität im Wandel bringt einen im neunzehnten Jahrhundert in Verruf. Man soll mir gewiß keinen zweiten Fehltritt vorzuwerfen haben. Ich würde vor Scham –«

      Trotz solch ernster Grübeleien schaute sie Julian oft an und fand in seinen geringsten Betätigungen köstliche Grazie.

      Sie rühmte sich: »Zweifellos ist es mir gelungen, in ihm jedweden Gedanken an vermeintliche Rechte auf mich zu tilgen. Dies beweist mir übrigens der Schmerz und die tiefe Leidenschaftlichkeit, mit der mir der arme Junge vor acht Tagen seine Liebe gestanden hat. Ich muß freilich zugeben, daß es recht wunderlich von mir war, mich über einen Ausdruck von ihm zu ärgern, in dem ebensoviel Verehrung wie Leidenschaft lag. Bin ich nicht seine Frau? Es war ganz natürlich, daß er so gesagt hat, und im Grunde auch liebenswürdig. Obgleich ich ihm hundertmal und wirklich herzlos von dem oder jenem Flirt erzählt habe, der kein andres Motiv hatte als die pure Langeweile, so liebt er mich doch noch. Er ist auf diese Herren eifersüchtig. Ach, wenn er wüßte, wie ungefährlich sie mir sind! Und wie kümmerlich sie sich neben ihm ausnehmen, alle einander gleich, einer wie der andre!«

      Unter solcherlei Gedanken kritzelte sie aufs Geratewohl Linien auf ein Blatt ihres Notizbuches. Eins der entstandenen Profile überraschte und entzückte sie: es hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Julians Gesichtsschnitt.

      »Ein Wunder der Liebe!« frohlockte Mathilde. »Unbewußt habe ich sein Bildnis gezeichnet.«

      Sie eilte in ihr Zimmer,


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