Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.zu erzählen, alles, bis auf die geringsten Einzelheiten, und ihn dann in sein Kämmerchen zu führen und ihm in der Ecke in der Höhlung die Wertsachen zu zeigen. Der Drang, dies zu tun, war so stark, daß er schon aufstand, um es auszuführen. ›Ob ich nicht gut täte, es wenigstens noch einen Augenblick zu überlegen?‹ ging es ihm durch den Kopf. ›Nein, ich tue es lieber ohne jedes Besinnen; dann bin ich die Last los.‹ Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch redete eifrig zu Ilja Petrowitsch, und er hörte folgende Worte:
»Es geht nicht; sie müssen beide freigelassen werden. Erstens spricht alles gegen ihre Schuld; urteilen Sie selbst: Welchen Anlaß hatten sie, den Hausknecht zu holen, wenn sie die Tat begangen hatten? Um sich selbst zu denunzieren? Oder aus Schlauheit? Nein, das wäre nun doch schon überschlau! Und dann: den Studenten Pestrjakow haben die beiden Hausknechte und eine Bürgerfrau dicht am Torwege gesehen, gerade in dem Augenblicke, als er hineinging; er kam mit drei Freunden und trennte sich von ihnen unmittelbar beim Torwege, und dann erkundigte er sich bei den Hausknechten nach der Wohnung, während seine Freunde noch dabeistanden. Na, wie wird sich denn einer nach der Wohnung erkundigen, wenn er mit solcher Absicht kommt! Und Koch, der hat, bevor er zu der Alten ging, eine halbe Stunde unten bei dem Goldschmied gesessen und ist genau um dreiviertel acht von ihm zu der Alten hinaufgegangen. Nun halten Sie das einmal zusammen …«
»Aber erlauben Sie, wie erklärt sich denn der Widerspruch in ihren Angaben: sie sagen selbst, sie hätten geklopft, und die Tür sei von innen zugesperrt gewesen und als sie drei Minuten nachher mit dem Hausknecht hinaufkamen, stellte es sich heraus, daß die Tür offen war!«
»Das ist ja eben der Witz! Der Mörder saß jedenfalls drinnen und hatte den Riegel vorgelegt; und er wäre sicher dort abgefaßt worden, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte, auch noch hinunterzugehen, um den Hausknecht zu holen. Und gerade diese Zwischenzeit hat der Mörder benutzt, um die Treppe hinunterzugehen, und er hat es auf irgendeine Weise fertiggebracht, an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzigt sich mit beiden Händen und sagt: ›Wenn ich dageblieben wäre, dann wäre er herausgesprungen und hätte mich mit dem Beile totgeschlagen.‹ Er will ein Dankgebet für seine Rettung abhalten lassen, ha-ha-ha! …«
»Und den Morder hat niemand gesehen?«
»Wie soll man da einen sehen? Das Haus ist die reine Arche Noah«, bemerkte der Sekretär, der von seinem Platze aus zugehört hatte.
»Die Sache ist ganz klar, ganz klar!« rief Nikodim Fomitsch eifrig.
»Nein, die Sache ist sehr unklar!« entgegnete der hartnäckige Ilja Petrowitsch.
Raskolnikow ergriff seinen Hut und ging nach der Tür zu, aber er erreichte sie nicht …
Als er wieder zu sich kam, sah er, daß er auf einem Stuhle saß, daß ihn von rechts jemand stützte und auf der linken Seite ein andrer mit einem gelblichen Glase voll gelblichen Wassers stand und daß Nikodim Fomitsch vor ihm stand und ihn aufmerksam anblickte. Er stand vom Stuhle auf.
»Was ist denn mit Ihnen? Sind Sie krank?« fragte Nikodim Fomitsch in ziemlich scharfem Tone.
»Schon als er vorhin nachschrieb, konnte er kaum die Feder halten«, bemerkte der Sekretär, indem er sich wieder an seinen Platz setzte und sich von neuem an seine Papiere machte.
»Sind Sie schon lange krank?« rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze aus, wo er nun gleichfalls in seinen Papieren kramte.
Auch er hatte natürlich den Kranken betrachtet; während dieser in Ohnmacht lag, war aber sofort wieder zurückgetreten, als er zu sich kam.
»Seit gestern«, murmelte Raskolnikow.
»Sind Sie gestern aus dem Hause gegangen?«
»Ja.«
»Krank?«
»Ja.«
»Zu welcher Zeit?«
»Zwischen sieben und acht Uhr abends.«
»Und wohin, wenn man fragen darf?«
»Auf die Straße.«
»Nun, Sie antworten ja sehr kurz und klar.«
Raskolnikow hatte seine Antworten in scharfem Tone hervorgestoßen; er war leichenblaß, schlug aber seine schwarzen, entzündeten Augen vor Ilja Petrowitschs Blick nicht nieder.
»Er kann sich kaum auf den Beinen halten, und Sie …« wollte Nikodim Fomitsch einwenden.
»Das tut nichts!« erwiderte Ilja Petrowitsch mit auffälliger Betonung.
Nikodim Fomitsch beabsichtigte, noch etwas hinzuzufügen; aber als er den Sekretär ansah, der gleichfalls seinen Blick unverwandt auf ihn richtete, schwieg er. Auf einmal schwiegen alle. Das machte einen seltsamen Eindruck.
»Nun gut«, schloß Ilja Petrowitsch. »Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«
Raskolnikow ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Fortgehen sofort ein lebhaftes Gespräch begann, aus welchem Nikodim Fomitschs fragende Stimme am lautesten heraustönte …. Sobald er auf der Straße war, kam er wieder völlig zu sich. ›Eine Haussuchung, eine Haussuchung; sie werden sofort eine Haussuchung vornehmen!‹ sprach er vor sich hin und beeilte sich, nach Hause zu kommen. ›Die Kanaillen haben Verdacht auf mich!‹ Wieder packte ihn die Angst und schüttelte ihn vom Kopf bis zu den Füßen.
II
›Aber wenn nun die Haussuchung schon stattgefunden hat? Wenn ich sie gerade in meiner Kammer antreffe?‹
Indes, da war er ja schon in seiner Kammer. Nichts war vorgefallen; niemand war da; niemand hatte einen Blick hineingeworfen. Auch Nastasja hatte nichts angerührt. Aber, o Gott! Wie hatte er nur vorhin alle diese Wertsachen in dieser Höhlung liegen lassen können!
Er stürzte nach der Ecke hin, steckte die Hand unter die Tapete, holte die einzelnen Gegenstände heraus und stopfte sie sich in die Taschen. Es waren zusammen acht Stück: zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas Ähnlichem (genau sah er es nicht an), ferner vier kleine Etuis aus Saffian. Ein Kettchen war einfach in Zeitungspapier gewickelt. Und dann noch etwas in Zeitungspapier, anscheinend ein Orden.
Er brachte alles in den verschiedenen Taschen unter, in den Paletottaschen und in der heil gebliebenen rechten Hosentasche, und achtete darauf, daß es nicht auffällig aussähe. Auch den Beutel nahm er, mit den Wertsachen zusammen, mit. Dann ging er aus dem Zimmer; diesmal ließ er die Tür absichtlich weit offen stehen.
Er ging schnellen, festen Schrittes, und obgleich er sich ganz erschöpft fühlte, so war doch sein Denken klar. Er fürchtete Verfolgung, fürchtete, daß vielleicht schon in einer halben, in einer Viertelstunde Befehl erteilt werden würde, ihn zu beobachten, also mußte er unter allen Umständen vorher noch alle Spuren vertilgen. Er mußte das erledigen, solange ihm noch ein Rest von Kraft und von Überlegung zur Verfügung stand … Wohin sollte er nun gehen?
Das stand bei ihm schon längst fest: ›Ich werfe alles in den Kanal; dann kräht kein Hahn mehr danach, und die Sache ist zu Ende.‹ Dazu hatte er sich bereits in der Nacht, als er im Fieber lag, entschlossen, in den Momenten, wo er (das war ihm erinnerlich) ein paarmal hatte aufspringen und weggehen wollen: ›Nur schnell, nur schnell, und alles wegwerfen!‹ Aber es zeigte sich jetzt, daß das Wegwerfen nicht so leicht war.
Er ging schon eine halbe Stunde, vielleicht auch länger, am Ufer des Katharinenkanals entlang und blickte prüfend nach den zum Kanal hinabführenden Treppen, an denen er vorbeikam. Aber an eine Ausführung seiner Absicht war gar nicht zu denken: entweder lagen unmittelbar am Fuße der Treppen Flöße, auf denen Waschfrauen ihre Wäsche wuschen, oder es hatten dort Kähne angelegt, und überall wimmelte es nur so von Menschen. Von den Ufern aus konnte man von überall, von allen Seiten, zu ihm hinsehen: wenn da ein Mensch ohne verständlichen Anlaß hinunterging, sich hinstellte und etwas ins Wasser warf, so mußte das ja Verdacht erwecken. Und wie, wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf schwammen? Und das hielt er für sehr wahrscheinlich. Dann sah es jeder. Ohnedies sahen ihn alle Begegnenden schon so an und betrachteten ihn, als ob sie sich um weiter nichts als um ihn zu kümmern hätten. ›Woher das nur kommt?‹ dachte er. ›Oder ob es mir nur so scheint?‹
Schließlich