Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.es sei in jedem Falle bequemer und vor allen Dingen von dem Stadtteil, in dem er wohnte, weiter entfernt. Er wunderte sich, wie er eine halbe Stunde voll Angst und Unruhe in dieser gefährlichen Gegend hatte herumwandern können und ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen war. Und nur deshalb hatte er schon eine halbe Stunde nutzlos vergeudet, weil er sich das nun einmal im Halbschlaf, in seinem Fieberzustande so zurechtgelegt hatte. Er war sehr zerstreut und vergeßlich geworden und war sich dessen bewußt! Eile war unbedingt nötig!
Er ging den Wosnessenskij-Prospekt entlang nach der Newa zu. Aber unterwegs stellte er doch noch wieder eine andre Überlegung an. ›Warum muß ich denn gerade nach der Newa gehen und es ins Wasser werfen? Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit wegzugehen, etwa nach den »Inseln«, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle im Walde, unter einem Strauche oder Baume, alles zu vergraben und sich den Platz zu merken?‹ Und obwohl er fühlte, daß er in diesem Augenblicke nicht imstande war, alles klar und vernünftig zu erwägen, so erschien ihm dieser Gedanke doch als ein sehr glücklicher.
Aber auch nach den »Inseln« zu gelangen war ihm nicht beschieden, sondern es ereignete sich etwas anderes. Als er vom Wosnessenskij-Prospekt auf einen freien Platz heraustrat, sah er links den Eingang zu einem Hofe, der von ganz fensterlosen Mauern umgeben war. Rechts, gleich vom Tore an, zog sich die fensterlose, ungestrichene Seitenwand des vierstöckigen Nachbarhauses weit in den Hof hinein. Links, parallel mit der fensterlosen Hauswand und gleichfalls gleich vom Tore an, erstreckte sich ein Bretterzaun etwa zwanzig Schritte weit in den Hof und machte dann einen Knick nach links. Der Hof war ein nur durch dieses Tor zugänglicher umzäunter Raum, auf dem allerlei Baumaterialien lagerten. Weiter hinten im Hofe blickte hinter dem Zaune eine Ecke eines niedrigen, verräucherten, gemauerten Gebäudes hervor, wahrscheinlich einer Werkstatt. Es mochte hier wohl ein Wagenbauer oder ein Schlosser oder ein anderer derartiger Handwerker hausen; denn überall, fast vom Torweg an, war alles schwarz von Kohlenstaub. ›Hier könnte man es heimlich hinwerfen und dann davongehen!‹ dachte er plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte, schlüpfte er durch das Tor hindurch. Gleich dicht am Tore erblickte er eine an den Zaun angenagelte Rinne (wie sie oft in solchen Häusern angebracht werden, wo es viele Arbeiter, Gesellen, Kutscher usw. gibt), und über der Rinne war am Zaune der an solchen Orten überall zu findende Witz mit Kreide angeschrieben: »Hir ist es ferbohten stehen zu bleiben.« Auch das traf sich also gut: es konnte keinen Verdacht erregen, daß er hier hereingegangen und stehengeblieben war. ›Hier will ich schnell alles zusammen irgendwo hinwerfen und weggehen‹, sagte er sich.
Er blickte sich noch einmal um und steckte bereits die Hand in die Tasche, da bemerkte er an der Außenmauer, zwischen dem offenstehenden Torflügel und der Rinne, wo der Abstand nur etwa zwei Fuß betrug, einen großen, unbehauenen Stein, der wohl einen halben Zentner schwer sein mochte und sich unmittelbar gegen diese nach der Straße zu gelegene Mauer lehnte. Auf der andern Seite dieser Mauer war die Straße, das Trottoir; man konnte die Schritte der hier immer recht zahlreichen Passanten hören; aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht etwa jemand von der Straße hereinkam. Da dies sich indes sehr leicht ereignen konnte, mußte er sich beeilen.
Er bückte sich zu dem Steine nieder, faßte ihn mit beiden Händen fest am oberen Ende, nahm alle seine Kraft zusammen und kippte den Stein um. Unter dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; schleunigst warf er den ganzen Inhalt seiner Taschen dort hinein. Der Beutel kam obenauf zu liegen; es blieb aber doch noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein von neuem und kippte ihn mit einem Ruck wieder nach der Mauer zu, so daß er genau wieder auf seine frühere Stelle zu liegen kam, nur daß er ein klein wenig höher schien. Aber er scharrte Erde zusammen und trat sie an den Rändern des Steines mit dem Fuße fest. Es war nichts mehr zu bemerken.
Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder bemächtigte sich seiner für einen Augenblick ein starkes, kaum zu ertragendes Gefühl der Freude, gerade wie vorher auf dem Polizeibureau. ›Nun ist alles beseitigt! Wem in aller Welt kann es in den Sinn kommen, unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt da vielleicht schon seit der Erbauung des Hauses und wird vielleicht noch ebensolange daliegen. Und selbst wenn es gefunden wird, wer kann auf mich verfallen? Alles ist erledigt. Es sind keine Beweise vorhanden.‹ Er lachte auf. Ja, er erinnerte sich später deutlich an dieses nervöse, unhörbar leise, lange Lachen, und daß er die ganze Zeit über gelacht hatte, während er über den Platz ging. Aber als er auf den K…-Boulevard gelangte, wo er vor zwei Tagen das junge Mädchen getroffen hatte, brach sein Lachen plötzlich ab. Andre Gedanken kamen ihm in den Sinn. Er hatte die Empfindung, daß es ihm jetzt gräßlich zuwider sein würde, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals, nachdem das junge Mädchen weggegangen war, gesessen und nachgedacht hatte, und daß er sich auch sehr darüber ärgern würde, jenem schnurrbärtigen Schutzmann wieder zu begegnen, dem er damals die zwanzig Kopeken gegeben hatte. ›Hol ihn der Teufel!‹
Er ging und blickte zerstreut und verdrießlich um sich. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um den einen Hauptpunkt, und er fühlte selbst, daß dies der Hauptpunkt war und daß er jetzt, gerade jetzt, gleichsam Auge in Auge diesem Hauptpunkte gegenüberstand, und daß dies sogar das erstemal in diesen zwei Monaten war.
›Ach was, hol der Teufel die ganze Geschichte!‹ dachte er plötzlich in einem Anfalle maßloser Wut. ›Na, da es nun einmal angefangen hat, ist nichts weiter zu machen; hol der Teufel das neue Leben! O Gott! wie dumm das alles ist! Und wieviel habe ich heute schon gelogen, und wie unwürdig habe ich mich benommen! In wie gemeiner Weise habe ich vorhin vor diesem garstigen Ilja Petrowitsch geliebedienert und zu ihm freundlich getan! Übrigens ist auch das eine Dummheit, daß ich mich darüber ärgere. Ganz egal sollten sie mir alle sein, und ganz egal sollte es mir auch sein, daß ich geliebedienert und freundlich getan habe. Es handelt sich um anderes, um ganz anderes.‹
Plötzlich blieb er stehen; eine ganz unerwartet auftauchende, überaus einfache Frage versetzte ihn in Verwirrung und peinliches Staunen:
›Wenn du wirklich diese ganze Tat als denkender Mensch und nicht als Narr ausgeführt hast, wenn du wirklich ein bestimmtes, festes Ziel hattest, warum hast du denn dann bis jetzt nicht einmal in den Beutel hineingeblickt und weißt gar nicht, was dir in die Hände gefallen ist und weswegen du alle diese Qualen auf dich genommen und dich auf eine so gemeine, garstige, niedrige Tat mit vollem Bewußtsein eingelassen hast? Du wolltest ihn ja noch soeben ins Wasser werfen, diesen Beutel, mitsamt all den andern Sachen, die du auch noch nicht angesehen hattest. Wie geht denn das zu?‹
Ja, das war richtig, ganz richtig. Übrigens war er sich dieses Widerspruchs schon früher bewußt geworden, und diese Frage war für ihn keineswegs neu. Dieser Gedanke war ihm schon in der Nacht gekommen, als er sich ohne alles Schwanken und Widerstreben dafür entschieden hatte, sich der Sachen zu entäußern, wie wenn das so sein müßte und gar nicht anders sein könnte. Ja, er wußte das alles und erinnerte sich daran; ja, er hatte sich beinahe gestern schon dafür entschieden, in dem Augenblicke, wo er neben der Truhe saß und die Etuis hervorholte … Jawohl, so war es! …
›Das kommt alles nur daher, weil ich sehr krank bin‹, sagte er sich schließlich ingrimmig; ›ich habe mich selbst gepeinigt und gemartert und weiß gar nicht mehr, was ich tue. Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit her habe ich mich gepeinigt … Ich werde wieder gesund werden, und dann werde ich mit dieser Selbstquälerei aufhören … Aber wenn ich nun gar nicht wieder gesund werde? O Gott, wie mir das alles zum Ekel geworden ist! …‹ Er ging weiter, ohne nur einmal stehenzubleiben. Er hätte sich sehr gern irgendeine Zerstreuung verschafft; aber er wußte nicht, was er zu diesem Zwecke tun und beginnen sollte. Eine neue, unbezwingbare Empfindung gewann in ihm mit jedem Augenblick immer mehr die Herrschaft: es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel gegen alles, was ihm entgegentrat und ihn umgab, ein heftiger, mit Grimm und Haß gepaarter Ekel. Widerwärtig waren ihm alle Begegnenden, ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Hätte ihn jemand angeredet, er hätte ihn geradezu angespien, wohl gar gebissen.
Er blieb stehen, als er zu der Uferstraße an der Kleinen Newa, auf der Wassilij-Insel nahe bei der Brücke, gelangt war. ›Hier wohnt er ja, hier, in diesem Hause‹, dachte er. ›Wie kommt das, ich bin doch nicht mit Absicht zu Rasumichin gegangen! Wieder dieselbe Geschichte wie damals … Es wäre mir doch interessant, zu wissen: bin ich mit Absicht hergegangen, oder bin ich nur einfach so gegangen und hierher geraten? Aber das