Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.gegen ihn ein – und dabei begehrte er auf, weil ich mir in seiner hohen Gegenwart eine Zigarette angesteckt hatte! Und er selbst läßt sich eine ganz gemeine Handlungsweise zuschulden kommen! Sehen Sie ihn nur an: da steht er in seiner ganzen verlockenden Pracht!«
»Armut ist keine Schande, liebster Freund! Aber ich weiß schon, wie’s zusammenhängt. Sie sind ja bekanntlich das reine Schießpulver und sind mal gleich wieder bei einem scharfen Worte aufgeflammt.« Hier wendete sich Nikodim Fomitsch in liebenswürdigstem Tone zu Raskolnikow: »Sie haben ihm wahrscheinlich etwas übelgenommen und sich dann selbst nicht beherrschen können. Aber zum Übelnehmen hatten Sie keinen Anlaß; denn ich kann Ihnen sagen, er ist der netteste, anständigste Mensch der Welt, aber freilich Schießpulver, das reine Schießpulver! Gleich gerät er in Wut, braust auf, wird hitzig – aber dann ist’s auch wieder zu Ende, alles wieder vorbei! Die Hauptsache aber bleibt doch immer sein goldenes Herz! Auch beim Regimente nannten sie ihn ›Leutnant Schießpulver‹ …«
»Und was war das für ein feines Regiment!« rief Ilja Petrowitsch, höchst befriedigt, daß man ihn so angenehm gekitzelt hatte, aber immer noch ein bißchen schmollend.
Es wandelte Raskolnikow die Lust an, ihnen allen etwas besonders Angenehmes zu sagen.
»Aber ich bitte Sie, Herr Hauptmann«, begann er, zu Nikodim Fomitsch gewendet, in sehr ungezwungenem Tone, »versetzen Sie sich einmal in meine Lage. Ich bin gern bereit, den Herrn um Entschuldigung zu bitten, wenn ich meinerseits einen Verstoß begangen haben sollte. Ich bin ein armer, kranker Student; die Armut drückt mich ganz zu Boden. Ich mußte die Universität verlassen, weil ich jetzt die Ausgaben nicht bestreiten kann; aber ich werde wieder Geld erhalten. Ich habe eine Mutter und eine Schwester im Gouvernement R…, diese werden mir Geld schicken, und ich werde bezahlen. Meine Wirtin ist eine brave Frau; aber weil ich meine Privatstunden verloren und ihr nun schon seit mehr als drei Monaten nichts bezahlt habe, ist sie so böse geworden, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr schickt. Und ich begreife gar nicht, was sie mit diesem Schuldschein will. Jetzt verlangt sie von mir Zahlung auf Grund dieses Schuldscheins; aber wie kann ich denn zahlen, sagen Sie selbst!«
»Aber das geht uns nichts an …«, warf der Sekretär wieder dazwischen.
»Gestatten Sie gütigst, gestatten Sie gütigst, ich bin ja darin ganz Ihrer Meinung, aber gestatten Sie mir gütigst, Ihnen darzulegen«, unterbrach ihn Raskolnikow wieder; er wendete sich aber dabei nicht an den Sekretär, sondern immer an Nikodim Fomitsch und bemühte sich, soviel er nur vermochte, seine Worte auch an Ilja Petrowitsch zu richten, obgleich sich dieser hartnäckig so stellte, als krame er in den Akten herum und beachte ihn in geringschätziger Weise gar nicht, »gestatten Sie auch mir gütigst, Ihnen meinerseits darzulegen, daß ich schon ungefähr drei Jahre bei ihr wohne, gleich von meiner Ankunft aus der Provinz an, und daß ich früher … früher … nun, warum soll ich es nicht eingestehen? Ich habe gleich am Anfange das Versprechen gegeben, ihre Tochter zu heiraten, ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen; … sie war ein junges Mädchen, … übrigens, sie gefiel mir sogar ganz gut, … wiewohl ich nicht eigentlich verliebt war, … mit einem Worte: die Jugend, die Jugend! Ich wollte also sagen, daß meine Wirtin mir damals viel Kredit gab und daß ich … nun ja, daß ich etwas leichtsinnig lebte…«
»Solche intimen Mitteilungen verlangen wir von Ihnen gar nicht, mein Herr, und wir haben auch keine Zeit, dergleichen anzuhören!« unterbrach ihn Ilja Petrowitsch grob und triumphierend; aber Raskolnikow in seinem Eifer ließ sich nicht hemmen, obwohl ihm jetzt auf einmal das Reden außerordentlich schwerfiel.
»Gestatten Sie mir bitte, Ihnen alles zu erzählen, … wie alles zusammenhing, und … der Reihe nach … Allerdings ist es eigentlich unnötig, das hier zu erzählen; darin bin ich ganz Ihrer Meinung … Aber vor einem Jahre starb dieses junge Mädchen am Typhus, und ich blieb wohnen, wie vorher, und als die Wirtin in ihre jetzige Wohnung zog, da sagte sie mir, und zwar freundschaftlich, sie schenke mir volles Vertrauen usw. …, aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein über einhundertundfünfzehn Rubel ausstellen wolle; so hoch berechnete sie meine Schuld. Bitte zu beachten: sie sagte ausdrücklich, wenn ich ihr einen solchen Schein ausstellte, so werde sie mir wieder so viel Kredit gewähren, wie ich nur irgend wünschte, und niemals, niemals – das waren ihre eigenen Worte – werde sie von diesem Papiere Gebrauch machen, bis ich von selbst zahlen würde … Und jetzt, wo ich meine Privatstunden verloren und nichts zu essen habe, beantragt sie die Beitreibung. Was soll man dazu sagen?«
»Alle diese gefühlvollen Einzelheiten berühren uns hier gar nicht, mein Herr!« Damit schnitt ihm Ilja Petrowitsch in brutalem Tone das Wort ab. »Sie müssen eine Erklärung abgeben und eine Verpflichtung übernehmen; ob Sie aber verliebt waren, und überhaupt all diese pathetischen Erörterungen, das geht uns gar nichts an.«
»Na, seien Sie nur nicht zu hart«, murmelte Nikodim Fomitsch, setzte sich an einen Tisch und begann Schriftstücke zu unterschreiben. Er schien sich wegen der Schroffheit des andern zu schämen.
»Nun, dann schreiben Sie!« sagte der Sekretär zu Raskolnikow.
»Was soll ich schreiben?« fragte dieser recht grob.
»Ich werde es Ihnen diktieren.«
Raskolnikow hatte den Eindruck, als ob jetzt, nach seiner Beichte, der Sekretär ihn nachlässiger und geringschätziger behandelte; aber seltsam! ihm selbst war es auf einmal völlig gleichgültig geworden, was jemand über ihn dachte, und dieser Umschwung hatte sich in einem Nu, in einem Moment vollzogen. Hätte er nur ein wenig nachdenken mögen, so würde er sich sicherlich darüber gewundert haben, wie er eine Minute vorher mit ihnen in dieser Weise hatte sprechen und sich ihnen sogar mit seinen Gefühlen hatte aufdrängen können. Und ferner: wie war er denn überhaupt zu dieser gefühlvollen Stimmung gekommen? Jetzt dagegen – selbst wenn das Zimmer auf einmal mit seinen besten Freunden statt mit Polizeibeamten gefüllt gewesen wäre, auch dann hätte er wohl kaum ein vertrauliches Wort für sie in seinem Innern gefunden, so leer war plötzlich sein Herz geworden. Ein düsteres Gefühl qualvoller, grenzenloser Vereinsamung und Fremdheit hatte auf einmal von seiner Seele Besitz ergriffen. Nicht daß er sich durch seine Herzensergießungen vor Ilja Petrowitsch so erniedrigt hatte, nicht daß dieser Polizeileutnant in so demütigender Weise über ihn triumphiert hatte – das war es nicht, wodurch diese schnelle Umwandlung seiner Seelenstimmung herbeigeführt war. Oh, was kümmerte ihn jetzt sein eigenes, unwürdiges Benehmen und alles Ehrgefühl, was kümmerten ihn alle Polizeileutnants, deutschen Weiber, Geldbeitreibungen, Polizeibureaus usw. Und wenn man ihn jetzt zum Scheiterhaufen verdammt hätte, auch dann hätte er sich nicht gerührt, auch dann hätte er sogar kaum einmal das Urteil aufmerksam mit angehört. In ihm hatte sich etwas ihm ganz Unverständliches, Neues, Plötzliches und noch nie Dagewesenes vollzogen. Aber wenn ihm auch das Verständnis dafür abging, so empfand er doch klar und deutlich und mit aller Kraft des Empfindens, daß es ihm nicht mehr möglich war, sich mit gefühlvollen Mitteilungen oder überhaupt mit irgendwelchen Äußerungen an diese Leute im Polizeibureau zu wenden, und daß, selbst wenn er lauter eigene leibliche Brüder und Schwestern und keine Polizeileutnants um sich hätte, er sich nicht zu ihnen aussprechen dürfte, nie, wie auch immer sich das weitere Leben gestalten mochte; er hatte bis zu diesem Augenblicke noch nie eine derartige seltsame und fürchterliche Empfindung durchgemacht. Und was das Qualvollste dabei war: es war mehr Empfindung als Bewußtsein oder Erkenntnis; es war eine ganz unmittelbare Empfindung, peinvoller als alle, die ihm das Leben bisher gebracht hatte.
Der Sekretär begann, ihm das Schema der in solchem Falle üblichen Erklärung folgenden Inhalts zu diktieren: Ich kann nicht zahlen; ich verspreche, es dann und dann zu tun; ich werde die Stadt nicht verlassen, meine Habe weder verkaufen noch verschenken usw.
»Aber Sie sind ja gar nicht imstande zu schreiben; die Feder fällt Ihnen ja aus der Hand«, bemerkte der Sekretär und blickte Raskolnikow verwundert an. »Sind Sie krank?«
»Ja, … mir ist schwindlig … Diktieren Sie weiter!«
»Es ist zu Ende. Unterschreiben Sie.«
Der Sekretär nahm das Schriftstück hin und beschäftigte sich wieder mit seinen andern Papieren.
Raskolnikow legte die Feder hin; aber statt aufzustehen und wegzugehen, setzte er beide Ellbogen auf den Tisch und preßte die Hände