Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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Abend über niemand weiter. Ich suchte mit den Augen Katerina Fjodorowna; sie war mit Aljoscha im Nebenzimmer, kam aber, als sie von unserem Kommen hörte, sogleich zu uns herein. Der Fürst küßte ihr liebenswürdig die Hand; die Gräfin aber machte ihr eine auf mich hinweisende Handbewegung, worauf uns der Fürst sofort miteinander bekannt machte. Ich betrachtete sie mit ungeduldiger Aufmerksamkeit: Sie war eine zarte Blondine, weiß gekleidet, von kleiner Statur, mit stillem, ruhigem Gesichtsausdruck, mit unwahrscheinlich blauen Augen, wie Aljoscha gesagt hatte, mit der Schönheit der Jugend, weiter nichts. Ich hatte erwartet, ein Ideal von Schönheit zu sehen; aber eigentliche Schönheit besaß sie nicht. Ein regelmäßiges, fein gezeichnetes Gesichtsoval, sehr regelmäßige Züge, dichtes, wirklich schönes Haar, eine schlichte Frisur fürs Haus, ein stiller, fester Blick – wäre ich ihr irgendwo begegnet, so wäre ich an ihr vorbeigegangen, ohne ihr irgendwelche besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden; aber das war nur der Eindruck beim ersten Blick, und ich lernte sie später, im Verlauf dieses Abends, wesentlich besser kennen. Schon allein die Art, wie sie mir die Hand reichte und mir mit naiver, gespannter Aufmerksamkeit in die Augen sah, ohne ein Wort zu sagen, überraschte mich durch ihre Seltsamkeit, und unwillkürlich lächelte ich sie an. Ich hatte die bestimmte Empfindung, ein Wesen mit wahrhaft reinem Herzen vor mir zu haben. Die Gräfin verwandte kein Auge von ihr. Nachdem Katja mir die Hand gedrückt hatte, ging sie mit einer gewissen Hast von mir weg und setzte sich am anderen Ende des Zimmers mit Aljoscha zusammen hin. Aljoscha hatte mir bei der Begrüßung zugeflüstert: »Ich bleibe hier nur einen Augenblick; dann gehe ich gleich dorthin.«

      Der ›Diplomat‹ (ich kenne seinen Familiennamen nicht und nenne ihn daher, um ihn irgendwie zu bezeichnen, den Diplomaten) entwickelte in ruhiger, würdevoller Redeweise irgendeine Idee. Der Fürst lächelte zustimmend in schmeichelhafter Weise; der Redende wandte sich häufig an ihn, wahrscheinlich weil er ihn für einen würdigen Zuhörer erachtete. Es wurde mir Tee gereicht, und dann ließ man mich in Ruhe, womit ich sehr zufrieden war. Inzwischen musterte ich die Gräfin. Mein erster Eindruck war der, daß sie mir sozusagen wider meinen Willen gefiel. Sie war vielleicht in Wirklichkeit nicht mehr jung; aber mir schien sie nicht älter als achtundzwanzig Jahre zu sein. Ihr Gesicht sah noch frisch aus und war früher einmal, in ihrer ersten Jugend, gewiß sehr hübsch gewesen. Das dunkelblonde Haar war noch recht dicht; ihr Blick war außerordentlich gutmütig, hatte aber etwas Flatterhaftes, Mutwilliges, Spöttisches. Jetzt jedoch suchte sie sich aus irgendeinem Grund zu beherrschen. In diesem Blick kam auch viel Verstand zum Ausdruck, aber vor allem Gutherzigkeit und Heiterkeit. Ihre Haupteigenschaften waren, wie es mir schien, ein gewisser Leichtsinn, Vergnügungssucht und ein gutmütiger Egoismus, letzterer vielleicht sogar von bedeutender Dimension. Sie stand ganz unter der Botmäßigkeit des Fürsten, der auf sie einen außerordentlich großen Einfluß ausübte. Ich wußte, daß sie ein Verhältnis miteinander hatten, und hatte auch gehört, daß er, während sie sich beide im Ausland aufhielten, für einen Liebhaber recht wenig eifersüchtig gewesen war; aber es wollte mir immer scheinen (und es scheint mir auch jetzt so), daß es, abgesehen von ihren früheren Beziehungen, noch ein anderes einigermaßen geheimnisvolles Band zwischen ihnen gab, eine Art von wechselseitiger Verpflichtung, die auf irgendwelcher Spekulation beruhte; kurz, etwas in dieser Art mußte vorliegen. Ich wußte auch, daß der Fürst im gegenwärtigen Augenblick ihrer überdrüssig war, daß ihre Beziehungen aber trotzdem nicht abgebrochen worden waren. Vielleicht bildeten das Bindemittel damals besonders gewisse Pläne in bezug auf Katja, Pläne, zu denen die Initiative natürlich auf den Fürsten zurückging. Auf dieser Grundlage war der Fürst auch von einer Heirat mit der Gräfin losgekommen; die Gräfin hatte tatsächlich verlangt, daß er sie heirate; er aber hatte sie überredet, dazu mitzuwirken, daß eine Ehe Aljoschas mit ihrer Stieftochter zustande käme. Das hatte ich wenigstens aus den früheren naiven Mitteilungen Aljoschas geschlossen, der doch etwas davon hatte merken müssen. Es schien mir auch, zum Teil auf Grund ebenderselben Mitteilungen, daß der Fürst, obwohl die Gräfin vollständig unter seiner Herrschaft stand, doch irgendwelchen Grund hatte, sie zu fürchten. Selbst Aljoscha hatte das bemerkt. Ich erfuhr später, daß der Fürst sehr wünschte, die Gräfin mit jemandem zu verheiraten, und daß er mit in dieser Absicht sie zu der Reise nach dem Gouvernement Simbirsk überredet hatte, weil er in der Provinz einen passenden Mann für sie zu finden hoffte.

      Ich saß und hörte zu und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich es möglich machen könnte, recht bald mit Katerina Fjodorowna unter vier Augen zu reden. Der Diplomat antwortete auf eine Frage der Gräfin nach dem derzeitigen Stand der Dinge im Staat, nach den beginnenden Reformen und ob man sie fürchten müsse oder nicht. Er redete viel und lange, in ruhigem, autoritativem Ton. Er entwickelte seinen Gedanken scharfsinnig und klug; aber der Gedanke selbst war widerwärtig. Er behauptete namentlich, dieser ganze Geist der Reformen und Verbesserungen werde sehr bald bestimmte Früchte zeitigen; wenn man dann diese Früchte sehe, werde man wieder zur Vernunft kommen, und dieser neue Geist werde nicht nur in der Gesellschaft (selbstverständlich meinte er damit nur einen gewissen Teil derselben) wieder vergehen, sondern man werde auch durch diese Erfahrung den begangenen Irrtum erkennen und dann mit verdoppelter Energie die alten Einrichtungen aufrechterhalten. Das jetzige Experiment, so traurig es an sich sei, werde sich doch als sehr nützlich erweisen; denn es werde lehren, daß man die allein Rettung bringenden alten Einrichtungen aufrechterhalten müsse, und werde dafür neue Mittel an die Hand geben; mithin müsse man sogar wünschen, daß jetzt so bald wie möglich mit den Reformen bis zum äußersten Grad der Unvorsichtigkeit vorgegangen werde. »Ohne uns geht es nicht«, schloß er; »ohne uns hat noch nie ein sozialer Zustand Dauer gehabt. Wir werden nicht verlieren, sondern im Gegenteil noch gewinnen; wir werden wieder obenauf kommen, und unsere Devise muß im jetzigen Augenblick sein: Pire ça va, mieux ça est!« Der Fürst lächelte ihm beifällig zu; es war ein widerliches Lächeln. Der Redner war mit sich völlig zufrieden. Ich war so dumm, daß ich etwas darauf erwidern wollte; denn in mir kochte es. Aber ein boshafter Blick des Fürsten hielt mich zurück; dieser Blick glitt flüchtig nach der Gegend hin, wo ich saß, und es schien mir, als erwarte der Fürst tatsächlich einen absonderlichen, jünglingshaften Gefühlsausbruch von meiner Seite; er wünschte das sogar vielleicht, um sich daran zu ergötzen, wie ich mich bloßstellte. Zugleich war ich fest davon überzeugt, daß der Diplomat unfehlbar meine Erwiderung und vielleicht sogar mich selbst unbeachtet lassen werde. Es wurde mir zu einer wahren Pein, mit diesen Menschen zusammenzusitzen; aber Aljoscha wurde mein Retter.

      Er trat sachte zu mir heran, berührte mich an der Schulter und bat mich, auf ein paar Worte mitzukommen. Ich erriet, daß er von Katja geschickt war. So war es auch. Einen Augenblick darauf saß ich bereits neben ihr. Anfangs blickte sie mich nur unverwandt an, wie wenn sie im stillen sagte: ›Also so siehst du aus!‹, und im ersten Augenblick fanden wir beide nicht die richtigen Worte, um das Gespräch zu beginnen. Ich war jedoch überzeugt, daß sie nur anzufangen brauchte, um dann nicht wieder aufzuhören, und wenn es bis zum anderen Morgen dauerte. Es huschte mir ein Gedanke an das ›fünf-bis sechsstündige Gespräch‹ durch den Kopf, das Aljoscha einmal erwähnt hatte. Aljoscha saß bei uns und wartete mit Ungeduld darauf, daß wir anfangen würden zu reden.

      »Warum redet ihr denn nicht?« fragte er, indem er uns lächelnd anblickte. »Nun sind sie zusammengekommen und schweigen!«

      »Ach, Aljoscha, wie du auch bist … wir werden gleich miteinander reden«, antwortete Katja. »Wir haben ja so vieles zusammen zu besprechen, Iwan Petrowitsch, daß ich gar nicht weiß, womit ich anfangen soll. Wir sind sehr spät miteinander bekannt geworden; es hätte schon viel früher geschehen sollen; ich kenne Sie allerdings schon lange. Und ich habe so sehr gewünscht, Sie zu sehen. Ich habe sogar schon daran gedacht, Ihnen einen Brief zu schreiben …«

      »Worüber denn?« fragte ich, unwillkürlich lächelnd. »Über alles mögliche«, antwortete sie ganz ernsthaft. »Zum Beispiel darüber, ob es richtig ist, was er von Natalja Nikolajewna erzählt, daß sie es nicht übelnimmt, wenn er sie gerade in dieser Zeit allein läßt. Nun, darf sich denn jemand so benehmen, wie er es tut? Nun, warum sitzt du denn hier, sag doch mal!«

      »Ach, mein Gott, ich werde ja gleich hinfahren. Ich habe ja gesagt, daß ich nur noch einen Augenblick hierbleiben und sehen will, wie ihr beide miteinander redet, und dann will ich sofort hin.«

      »Aber was tun wir beide denn hier zusammen, was dich so interessiert? Nun, da sitzen wir, hast du es gesehen? Und so ist er


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