Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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gab ihr einen Wink mit den Augen, sie möchte nicht weiter fragen, und sie verstand mich. Ich nahm zärtlich Abschied von Nelly, die immer noch bitterlich weinte, und bat die gute Alexandra Semjonowna, bis zu meiner Rückkehr bei ihr zu bleiben; ich selbst aber lief zu Natascha. Ich hatte mich verspätet und beeilte mich daher.

      An diesem Abend entschied sich unser Schicksal: ich hatte zwar vieles mit Natascha zu besprechen, kam aber doch auch auf Nelly zu reden und erzählte ihr alles Vorgefallene mit den geringsten Einzelheiten. Meine Erzählung interessierte Natascha sehr und machte ihr sogar einen tiefen Eindruck.

      »Weißt du was, Wanja?« sagte sie nach kurzem Nachdenken; »ich glaube, sie liebt dich.«

      »Was? Wie meinst du das?« fragte ich erstaunt.

      »Ja, das ist der Anfang der Liebe, der weiblichen Liebe …«

      »Was redest du, Natascha! Ich bitte dich! Sie ist ja noch ein Kind!«

      »Das bald vierzehn Jahre alt ist. Diese Verbitterung kommt daher, daß du ihre Liebe nicht verstehst und sie sich vielleicht selbst nicht versteht; es steckt in dieser Verbitterung viel Kindisches; aber doch ist sie eine ernstliche Qual. Die Hauptsache ist: sie ist auf mich eifersüchtig und gönnt dich mir nicht. Du liebst mich so, daß du dir sicherlich auch zu Hause nur um mich Sorgen machst, nur an mich denkst, nur von mir redest und ihr darum nur wenig Aufmerksamkeit zuwendest. Sie hat das gemerkt und fühlt sich dadurch gekränkt. Sie möchte vielleicht mit dir reden; sie fühlt das Bedürfnis, dir ihr Herz zu erschließen, weiß das aber nicht anzufangen, schämt sich, versteht sich selbst nicht, wartet auf eine Gelegenheit; du aber, statt ihr diese Gelegenheit möglichst bald zu bieten, ziehst dich von ihr zurück, läufst von ihr weg zu mir und hast sie sogar, als sie krank war, ganze Tage lang allein gelassen. Sie weint darüber; sie fühlt, daß sie ohne dich nicht leben kann, und am schmerzlichsten ist es ihr, daß du das nicht bemerkst. Auch jetzt, in einem solchen Augenblick, hast du sie um meinetwillen allein gelassen. Morgen wird sie davon krank sein. Und wie hast du sie auch verlassen können? Geh so schnell wie möglich zu ihr!«

      »Ich hätte sie auch nicht verlassen, aber …«

      »Nun ja, ich hatte dich selbst gebeten, zu mir zu kommen. Jetzt aber geh hin!«

      »Ich will hingehen; aber selbstverständlich glaube ich nichts von dem, was du gesagt hast.«

      »Das kommt daher, daß sie sich anders benimmt als andere Menschen. Aber erinnere dich an ihr Vorleben, halte alles zusammen, und du wirst mir glauben. Sie ist anders aufgewachsen als du und ich …«

      Es war trotz aller Eile doch schon spät, als ich zurückkehrte. Alexandra Semjonowna erzählte mir, Nelly habe wieder wie an jenem Abend sehr viel geweint und sei wie damals unter Tränen eingeschlafen.

      »Aber nun will ich weggehen, Iwan Petrowitsch; so hat es auch Filipp Filippowitsch befohlen. Er wartet auf mich, der Arme.«

      Ich dankte ihr und setzte mich an das Kopfende von Nellys Bett. Ich machte mir selbst Vorwürfe darüber, daß ich sie in einem solchen Augenblick hatte verlassen können. Lange, bis spät in die Nacht hinein, saß ich so neben ihr und überließ mich meinen Gedanken … Es war eine verhängnisvolle Zeit.

      Aber ich muß erzählen, was in diesen vierzehn Tagen geschehen war.

      Fünftes Kapitel

      Nach dem für mich denkwürdigen Abend, den ich mit dem Fürsten im B.schen Restaurant zugebracht hatte, war ich mehrere Tage hintereinander in beständiger Angst um Natascha. »Womit hat dieser abscheuliche Fürst sie bedroht, und womit wollte er sich eigentlich an ihr rächen?« fragte ich mich alle Augenblicke und erging mich in allerlei Vermutungen. Ich kam schließlich zu dem Resultat, daß seine Drohungen nicht leeres Gerede und bloße Renommage gewesen seien und daß der Fürst, solange sie mit Aljoscha zusammen lebe, tatsächlich imstande sei, ihr viele Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ich sagte mir, daß er kleinlich, rachsüchtig, boshaft und berechnend sei. Es war schwer zu glauben, daß er eine Beleidigung vergessen und eine Gelegenheit zur Rache unbenutzt lassen könne. In jedem Fall hatte er mich auf einen bestimmten Punkt in dieser ganzen Angelegenheit hingewiesen und sich hinsichtlich dieses Punktes ziemlich deutlich ausgesprochen: er verlangte hartnäckig einen Bruch zwischen Aljoscha und Natascha und erwartete von mir, daß ich die letztere auf die nahe Trennung vorbereitete, und zwar so, daß es »keine gefühlvollen Szenen setze«. Natürlich lag ihm ganz besonders viel daran, daß Aljoscha mit ihm zufrieden blieb und fortfuhr, ihn für einen zärtlichen Vater zu halten; denn das war für ihn die notwendige Voraussetzung, um in der Folge nach Gefallen über Katjas Geld verfügen zu können. Somit erwuchs mir die Aufgabe, Natascha auf die nahe Trennung vorzubereiten. Aber an Natascha bemerkte ich eine starke Veränderung; von ihrer früheren Offenherzigkeit mir gegenüber war keine Spur mehr vorhanden; ja sie schien sogar ein Mißtrauen gegen mich zu hegen. Meine Versuche, sie zu trösten, empfand sie als eine Qual; meine Fragen hatten mehr und mehr die Wirkung, sie ärgerlich, ja zornig zu machen. Ich saß mitunter bei ihr und sah sie nur an. Sie ging mit verschränkten Armen im Zimmer von einer Ecke zur anderen, finster und blaß, als ob sie alles um sich herum, auch meine Anwesenheit, vergessen hätte. Wenn sie mich aber dabei zufällig einmal ansah (sie suchte aber sogar meine Blicke zu vermeiden), so prägte sich auf ihrem Gesicht plötzlich ein Gefühl von ungeduldigem Ärger aus, und sie wandte sich rasch ab. Ich merkte, daß sie selbst wohl einen eigenen Plan für den nahe bevorstehenden Bruch ersann, und konnte sie das ohne Schmerz und ohne bitteres Leid? Ich war überzeugt, daß sie sich zum Bruch bereits fest entschlossen hatte; trotzdem aber quälte und ängstigte mich ihre finstere Verzweiflung. Überdies wagte ich manchmal gar nicht, mit ihr zu reden und sie zu trösten, und wartete daher voller Angst, wie sich das alles entwickeln werde.

      Was ihr finsteres, unzugängliches Wesen mir gegenüber betraf, so beunruhigte und quälte mich das allerdings; aber ich glaubte doch felsenfest an das Herz meiner Natascha: ich sah, daß sie schwer litt und sich in einer schrecklichen Gemütsverfassung befand. Jede fremde Einmischung diente nur dazu, sie verdrießlich und böse zu machen. In solcher Lage ist uns gerade die Einmischung nahestehender Freunde, die unsere Geheimnisse kennen, am allerunangenehmsten. Aber ich wußte auch sehr gut, daß im letzten Augenblick Natascha von selbst wieder zu mir kommen und gerade an meinem Herzen Erleichterung für ihren Gram suchen werde.

      Von meinem Gespräch mit dem Fürsten sagte ich ihr selbstverständlich nichts: meine Erzählung hätte sie nur noch mehr verstimmt und aufgeregt. Ich erwähnte nur so beiläufig, ich sei mit dem Fürsten bei der Gräfin gewesen und hätte die Überzeugung gewonnen, daß er ein nichtswürdiger Schurke sei. Aber sie fragte mich gar nicht weiter nach ihm, worüber ich sehr froh war; dafür hörte sie begierig alles an, was ich ihr von meinem Zusammensein mit Katja erzählte. Nachdem sie alles gehört hatte, sagte sie auch von ihr keine Silbe; aber eine dunkle Röte bedeckte ihr sonst so blasses Gesicht, und sie befand sich fast diesen ganzen Tag über in besonderer Aufregung. Ich verheimlichte ihr nichts, was Katja betraf, und gestand ihr offen, daß Katja sogar auf mich einen sehr angenehmen Eindruck gemacht hatte. Und wozu hätte ich auch versuchen sollen, es ihr zu verheimlichen? Sie hätte ja doch gemerkt, daß ich es verheimlichen wollte, und wäre mir deshalb nur böse geworden. Daher erzählte ich ihr absichtlich alles möglichst eingehend und bemühte mich, allen ihren Fragen zuvorzukommen, um so mehr, da es ihr selbst in ihrer Lage schwer ankam, mich zu befragen; und es war auch wahrlich keine leichte Aufgabe für sie, sich mit gleichmütiger Miene nach den vortrefflichen Eigenschaften ihrer Nebenbuhlerin zu erkundigen.

      Ich glaubte, sie wisse noch nicht, daß Aljoscha auf die ausdrückliche Anordnung des Fürsten hin die Gräfin und Katja aufs Land begleiten sollte, und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich ihr das beibringen könne, um den Schlag für sie möglichst zu mildern. Aber wie groß war mein Erstaunen, als mich Natascha gleich bei den ersten Worten unterbrach und mir sagte, sie bedürfe keiner Tröstungen; sie wisse das schon seit fünf Tagen.

      »Mein Gott!« rief ich. »Wer hat es dir denn gesagt?«

      »Aljoscha.«

      »Wie? Er hat es dir bereits gesagt?«

      »Ja, und ich bin zu allem entschlossen, Wanja«, fügte sie mit einer Miene hinzu, in der für mich die deutliche, ungeduldige Weisung lag, dieses Gespräch nicht fortzusetzen.

      Aljoscha


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