Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.So will ich nicht …«
»Warum denn nicht?«
Nelly schwieg. Ihre Lippen zuckten. Sie war nahe daran zu weinen.
»Der, den sie liebt, geht ja doch von ihr fort und läßt sie allein?« fragte sie endlich.
Ich war erstaunt.
»Woher weißt du das, Nelly?«
»Sie haben mir selbst alles gesagt, und vorgestern, als Alexandra Semjonownas Mann am Vormittag kam, habe ich ihn gefragt; er hat mir alles mitgeteilt.«
»Ist denn Masslobojew vorgestern vormittag hier gewesen?«
»Ja«, antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen.
»Aber warum hast du mir denn nichts davon gesagt, daß er hier war?«
»Einen Grund hatte ich weiter nicht …«
Ich dachte einen Augenblick nach. Gott mochte wissen, warum dieser Masslobojew mit seiner Geheimniskrämerei hier herumschlich! Was hatte er hier für Beziehungen angeknüpft? Ich mußte doch einmal mit ihm darüber reden.
»Nun, inwiefern berührt es denn dich, Nelly, wenn er sie verläßt?«
»Sie lieben sie ja sehr«, antwortete Nelly, ohne die Augen zu mir aufzuschlagen. »Und wenn Sie sie lieben, so werden Sie sie doch heiraten, sobald der andere fortgeht.«
»Nein, Nelly, sie liebt mich nicht so, wie ich sie liebe, und auch ich … Nein, das wird nicht geschehen, Nelly.«
»Ich würde Ihnen beiden als Magd dienen, und Sie würden ein frohes Leben führen«, sagte sie leise, fast flüsternd, ohne mich anzusehen.
»Was ist nur mit ihr, was ist nur mit ihr?« dachte ich und mir war, als ob sich mir das Herz schmerzlich herumdrehte. Nelly schwieg und redete den ganzen Abend über kein Wort mehr mit mir. Als ich aber wegging, fing sie an zu weinen, weinte, wie mir Alexandra Semjonowna berichtete, den ganzen Abend und schlief unter Tränen ein. Selbst in der Nacht, im Schlaf, weinte sie und redete irre Worte vor sich hin.
Aber von diesem Tag an wurde sie noch düsterer und schweigsamer und sprach mit mir gar nicht mehr. Allerdings fing ich zwei oder drei Blicke von ihr auf, die sie verstohlen auf mich richtete, und in diesen Blicken lag soviel Zärtlichkeit! Aber das verging im selben Augenblick wieder, und gleichsam dieser momentanen Weichheit zum Trotz wurde Nelly fast mit jeder Stunde finsterer, sogar dem Arzt gegenüber, der über diese Veränderung ihres Wesens erstaunt war. Inzwischen war sie schon fast ganz genesen, und der Arzt erlaubte ihr endlich, an die frische Luft zu gehen, aber nur sehr wenig. Das Wetter war warm und heiter. Es war in der Karwoche, die diesmal sehr spät fiel; ich ging am Vormittag aus, da ich notwendig bei Natascha sein mußte, nahm mir aber vor, recht früh nach Hause zurückzukehren, um mit Nelly spazierenzugehen; unterdessen ließ ich sie zu Hause allein.
Aber ich kann nicht schildern, welch ein Schlag mich zu Hause erwartete. Ich war schnell nach Hause gegangen, kam hinauf und sah, daß der Schlüssel von außen in der Tür steckte. Ich trat ins Zimmer: niemand da. Ich war starr. Ich blickte ringsumher: auf dem Tisch lag ein Blatt Papier, und auf diesem stand mit Bleistift in großer, unregelmäßiger Schrift geschrieben:
»Ich bin von Ihnen weggegangen und werde nie wieder zu Ihnen zurückkehren. Aber ich habe Sie sehr lieb. Ihre treue Nelly.«
Ich schrie vor Schreck auf und stürzte aus der Wohnung.
Viertes Kapitel
Ich war noch nicht auf die Straße gelangt und war noch nicht darüber ins klare gekommen, was ich jetzt tun solle, als ich auf einmal sah, daß vor unserem Tor eine Droschke anhielt und aus dieser Droschke Alexandra Semjonowna ausstieg, die Nelly an der Hand führte. Sie hielt sie fest, als fürchtete sie, daß sie zum zweitenmal davonlaufen könnte. Ich stürzte auf die beiden los.
»Nelly, Was ist nur mit dir!« rief ich. »Wo bist du hingegangen, und warum?«
»Warten Sie, keine Überhastung; kommen Sie so schnell wie möglich in Ihre Wohnung; da sollen Sie alles erfahren«, sagte Alexandra Semjonowna mit ihrem flinken Mundwerk. »Was ich Ihnen für Dinge erzählen werde, Iwan Petrowitsch!« flüsterte sie mir eilig im Gehen zu. »Sie werden staunen! … Kommen Sie nur; Sie sollen sogleich alles hören.«
Man konnte ihr am Gesicht ansehen, daß sie sehr wichtige Neuigkeiten zu erzählen hatte.
»Geh, Nelly, geh, leg dich ein bißchen hin!« sagte sie, als wir in die Wohnung traten. »Du bist gewiß müde; das ist keine Kleinigkeit, wieviel du umhergelaufen bist, und nach der Krankheit strengt das an; leg dich hin, liebes Kind, leg dich hin! Wir beide aber wollen ein Weilchen hinausgehen und sie nicht stören; mag sie schlafen!«
Sie blinzelte mir zu, ich möchte mit ihr hinauskommen, in die Küche.
Aber Nelly legte sich nicht hin; sie setzte sich auf das Sofa und verbarg das Gesicht in beiden Händen.
Wir gingen hinaus, und Alexandra Semjonowna erzählte mir geschwind, was sich zugetragen hatte. Später erfuhr ich noch weitere Einzelheiten. Das Ganze hatte sich folgendermaßen begeben.
Als Nelly zwei Stunden vor meiner Rückkehr aus meiner Wohnung weggegangen war und mir den Zettel zurückgelassen hatte, lief sie zuerst zu dem alten Arzt. Seine Adresse hatte sie schon vorher in Erfahrung gebracht. Der Arzt erzählte mir, er sei ganz starr gewesen, als er Nelly bei sich erblickt habe, und habe die ganze Zeit, während sie bei ihm gewesen sei, seinen Augen nicht getraut. »Ich glaube es auch jetzt noch nicht«, fügte er am Schluß seiner Erzählung hinzu, »und werde es niemals glauben.« Und doch war Nellys Besuch bei ihm eine Tatsache. Er saß ruhig in seinem Zimmer, in seinem Lehnstuhl, im Schlafrock, beim Kaffee, als sie hereingelaufen kam und, bevor er hatte zur Besinnung kommen können, sich an seine Brust warf. Sie weinte, umarmte und küßte ihn, küßte ihm die Hände und bat ihn inständig, wiewohl in unzusammenhängenden Worten, er möchte sie zu sich ins Haus nehmen; sie sagte, sie wolle und könne nicht mehr mit mir zusammen leben; daher sei sie von mir weggegangen; es sei ihr sehr schmerzlich; sie wolle sich nie mehr über ihn lustig machen und nie mehr von neuen Kleidern reden und werde sich gut betragen und aus den Büchern lernen und werde auch lernen, ihm seine Vorhemden zu waschen und zu plätten (wahrscheinlich hatte sie sich ihre ganze Rede unterwegs zurechtgelegt, vielleicht auch schon früher), und sie werde auch gehorsam sein und sogar jeden Tag so viele Pulver einnehmen, wie er wolle. Und wenn sie früher einmal gesagt habe, daß sie ihn heiraten wolle, so sei das nur Scherz gewesen; sie denke gar nicht daran. Der alte Deutsche war so betäubt, daß er die ganze Zeit über mit offenem Mund dasaß, die Hand, in der er die Zigarre hatte, in die Höhe hielt und die Zigarre vergaß, so daß sie ihm ausging.
»Mademoiselle«, sagte er endlich, nachdem er den Gebrauch seiner Zunge einigermaßen wiedererlangt hatte, »Mademoiselle, soweit ich Sie verstanden habe, bitten Sie mich, ich möchte Sie bei mir wohnen lassen. Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Sie sehen, ich wohne sehr beschränkt und habe keine große Einnahme … Und überhaupt, so plötzlich, ohne vorhergehende Überlegung … Es ist schrecklich! Und überhaupt sind Sie, soviel ich sehe, von zu Hause weggelaufen. Das ist sehr tadelnswert und unzulässig … Und überhaupt habe ich Ihnen nur erlaubt, ein wenig spazierenzugehen, bei heiterem Wetter, unter Aufsicht Ihres Wohltäters; und da verlassen Sie Ihren Wohltäter und kommen zu mir gelaufen, während Sie doch Ihre Gesundheit in acht nehmen sollten. Und überhaupt … überhaupt, ich verstehe die ganze Sache nicht …«
Nelly ließ ihn nicht ausreden. Sie fing von neuem an zu weinen und ihn anzuflehen; aber nichts half. Der Alte geriet in immer größeres Erstaunen und begriff die Geschichte immer weniger. Schließlich gab Nelly es auf, rief: »Ach, mein Gott!« und lief aus dem Zimmer. »Ich war den ganzen Tag krank«, fügte der Arzt am Schluß seiner Erzählung hinzu, »und mußte zur Nacht Medizin einnehmen.«
Nelly aber lief zu Masslobojews. Sie hatte sich auch deren Adresse vorher verschafft und fand zu ihnen hin, wiewohl nur mit Mühe. Masslobojew war zu Hause. Alexandra Semjonowna schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Nellys Bitte, sie zu sich zu nehmen, hörte. Auf ihre Fragen, warum sie das denn wolle, ob sie es denn bei mir so schlecht habe, gab Nelly keine Antwort und warf sich schluchzend auf einen Stuhl. »Sie schluchzte so furchtbar, so furchtbar«,