Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.sie wird jetzt gesund werden; aber dann wird sie sehr bald sterben.«
»Sterben? Aber warum denn?« rief ich, ganz starr über diesen Ausspruch.
»Ja, sie wird dann unfehlbar bald sterben. Die Patientin hat einen organischen Herzfehler und wird bei den geringsten ungünstigen Einwirkungen wieder bettlägerig werden. Vielleicht wird sie dann noch einmal genesen; aber darauf wird sie von neuem krank werden und schließlich sterben.«
»Und gibt es wirklich keine Möglichkeit, sie zu retten? Nein, es kann nicht sein!«
»Und doch muß es so kommen. Allerdings, wenn man alle ungünstigen Einwirkungen von ihr fernhielte, ihr ein ruhiges, stilles Leben verschaffte, ihr mehr Vergnügen bereitete, dann könnte die Patientin noch vor dem Tod bewahrt bleiben, und es kommen sogar Fälle vor… unerwartete, merkwürdige Ausnahmefälle… kurz, bei einer Vereinigung vieler günstiger Einwirkungen kann die Patientin sogar für lange Zeit gerettet werden; aber eine radikale Heilung ist ausgeschlossen.«
»Aber, mein Gott, was ist da zu tun?«
»Sie muß meine Weisungen befolgen, ein ruhiges Leben führen und die Pulver regelmäßig einnehmen/Ich habe gemerkt, daß dieses Mädchen launisch, von ungleichmäßigem Wesen und sogar sehr spottlustig ist; sie hat sehr wenig Lust, die Pulver regelmäßig einzunehmen, und hat das soeben deutlich bewiesen.«
»Ja, Doktor. Sie ist in der Tat ein eigentümliches Wesen; aber ich führe das alles auf ihre krankhafte Reizbarkeit zurück. Gestern war sie sehr folgsam; heute aber, als ich ihr die Arznei reichen wollte, stieß sie, wie unabsichtlich, an den Löffel, so daß alles verschüttet wurde. Und als ich ihr ein neues Pulver zurechtmachen wollte, riß. sie mir das ganze Schächtelchen weg und warf es auf den Fußboden; dann aber brach sie in Tränen aus… Aber anscheinend weinte sie nicht darüber, daß ich sie veranlassen wollte, die Pulver einzunehmen«, fügte ich nach kurzem Nachdenken hinzu.
»Hm! Irritation der Nerven. Das frühere große Unglück« (ich hatte dem Arzt eingehend und offenherzig vieles von Nellys Geschichte erzählt, und meine Erzählung hatte ihn sehr ergriffen), »all das hängt miteinander zusammen, und daher rührt auch ihre Krankheit. Vorläufig ist das einzige Mittel, daß sie die Pulver einnimmt; das muß sie unbedingt tun. Ich will noch einmal hingehen und ihr ernstlich auseinandersetzen, daß es ihre Pflicht ist, den ärztlichen Ratschlägen zu gehorchen und… ganz besonders… die Pulver zu nehmen.«
Wir verließen beide die Küche wieder, in welcher unser Gespräch stattgefunden hatte, und der Arzt näherte sich von neuem dem Bett der Kranken. Aber Nelly hatte, wie es schien, alles gehört: wenigstens hatte sie, während wir sprachen, den Kopf vom Kissen gehoben, ein Ohr nach unserer Seite hingewandt und die ganze Zeit über mit Anstrengung gelauscht; ich hatte das durch die Spalte der halbgeöffneten Tür bemerkt. Als wir aber zu ihr traten, war die Schelmin wieder unter die Decke geschlüpft und sah uns spöttisch lächelnd an. Das arme Kind war in diesen Tagen der Krankheit sehr abgemagert; ihre Augen waren ganz eingesunken, und die Fieberhitze war immer noch nicht gewichen. Um so seltsamer kontrastierte mit ihrem Gesicht der mutwillige Ausdruck und der streitsüchtig glänzende Blick, über den der Arzt, der gutmütigste aller Deutschen in Petersburg, sich nicht genug wundern konnte.
In ernster, eindringlicher Weise, obgleich bemüht, seiner Stimme einen möglichst milden, freundlichen, zärtlichen Klang zu geben, setzte er ihr auseinander, daß die Pulver notwendig und heilsam seien und folglich jeder Kranke die Pflicht habe, sie einzunehmen. Nelly hob schon den Kopf ein wenig in die Höhe; aber auf einmal stieß sie durch eine anscheinend ganz zufällige Bewegung des Armes an den Löffel, und die ganze Arznei floß wieder auf den Fußboden. Ich war überzeugt, daß sie es mit Absicht getan hatte.
»Das ist eine sehr unangenehme Unvorsichtigkeit«, sagte der alte Mann ruhig, »und ich vermute, daß Sie es mit Absicht getan haben, was sehr tadelnswert ist. Aber… wir können den Schaden reparieren und noch ein Pulver zurechtmachen.«
Nelly lachte ihm gerade ins Gesicht. Der Arzt wiegte langsam den Kopf hin und her.
»Das ist sehr häßlich«, sagte er, als er ein neues Pulver zurechtgemacht hatte, »sehr, sehr tadelnswert.«
»Ärgern Sie sich nicht über mich!« antwortete Nelly, die sich vergebens bemühte, nicht von neuem loszulachen; »ich werde die Pulver bestimmt einnehmen… Aber haben Sie mich lieb ?«
»Wenn Sie sich lobenswert betragen, werde ich Sie sehr liebhaben.«
»Sehr lieb?«
»Ja, sehr lieb.«
»Aber jetzt haben Sie mich nicht lieb?«
»O doch, auch jetzt.«
»Aber werden Sie mich küssen, wenn ich Sie küssen will?«
»Ja, wenn Sie es verdienen werden.«
Hier konnte Nelly sich wieder nicht mehr beherrschen und brach von neuem in ein Gelächter aus.
»Die Patientin hat ein heiteres Temperament; aber jetzt merken wir an ihr nur Nervosität und Launenhaftigkeit«, flüsterte mir der Arzt mit sehr ernstem Gesicht zu.
»Nun gut, ich werde das Pulver schlucken!« rief Nelly auf einmal mit ihrem schwachen Stimmchen. »Aber wenn ich erwachsen und groß bin, werden Sie mich dann auch heiraten?«
Wahrscheinlich gefiel ihr dieser neue mutwillige Einfall sehr; ihre Augen brannten nur so, und ihre Lippen zuckten vor Lachen in Erwartung der Antwort des etwas erstaunten Arztes.
»Nun ja«, antwortete er, über diesen neuen Einfall unwillkürlich lächelnd, »nun ja, wenn Sie ein gutes, wohlerzogenes Mädchen sein werden, und wenn Sie folgsam sein und…«
»… und die Pulver nehmen werden?« fiel Nelly ein.
»Ei, ei! Nun ja, auch die Pulver nehmen!« – »Ein prächtiges Mädchen«, flüsterte er mir von neuem zu; »in ihr steckt viel Herzensgüte und Verstand; aber, allerdings… heiraten… was für ein sonderbarer Einfall!«
Er brachte ihr von neuem die Medizin. Aber diesmal wandte Nelly nicht einmal List an, sondern stieß einfach mit der Hand von unten nach oben gegen den Löffel, so daß die ganze Medizin hinausflog, dem armen alten Mann gerade auf das Vorhemd und ins Gesicht. Nelly lachte laut auf, aber nicht mit dem früheren gutmütigen, heiteren Lachen. In ihrem Gesicht blitzte ein harter, böser Ausdruck auf. Diese ganze Zeit über hatte sie meinen Blick vermieden und nur den Arzt angesehen und wartete nun mit einem spöttischen Lächeln, durch das jedoch ihre innere Unruhe nur schlecht verdeckt wurde, was der ›komische Alte‹ jetzt tun werde.
»Oh! Also doch wieder!… Wie schade! Aber… ich kann ja noch ein Pulver zurechtmachen!« sagte der alte Mann, indem er sich mit dem Taschentuch das Gesicht und das Vorhemd abwischte.
Das machte auf Nelly einen starken Eindruck. Sie hatte erwartet, daß wir zornig werden würden; sie hatte gemeint, wir würden sie schelten und ihr Vorwürfe machen, und hatte dies vielleicht in diesem Augenblick unbewußtermaßen sogar gewünscht, damit sie einen Grund hätte, sogleich loszuweinen, krampfhaft loszuschluchzen, die Pulver wieder wie vorher zu verschütten, sogar vor Ärger etwas zu zerschlagen und durch all das ihrem launenhaften, kranken Herzchen eine Art von Erleichterung zu verschaffen. Solche Launen kommen vor, und nicht allein bei Kranken, und nicht allein bei Nelly. Wie oft bin ich im Zimmer auf und ab gegangen mit dem unbewußten Wunsch, es möchte mich doch jemand recht schnell beleidigen oder ein Wort sagen, das sich als Beleidigung auffassen ließe, damit ich recht schnell an etwas meinem Herzen Luft machen könnte! Frauen aber, die auf diese Weise `ihrem Herzen Luft machen’, vergießen die aufrichtigsten Tränen, und die gefühlvollsten unter ihnen verfallen sogar in Weinkrämpfe. Das ist ein sehr einfacher, ganz gewöhnlicher, überaus häufiger Vorgang, wenn ein anderer, oft niemandem bekannter Kummer im Herzen sitzt, den der Betreffende wohl aussprechen möchte, aber niemandem aussprechen darf.
Aber überrascht durch die engelhafte Güte des von ihr beleidigten alten Mannes und durch die Geduld, mit der er ihr von neuem ein drittes Pulver zurechtmachte, ohne ihr auch nur ein Wort des Vorwurfs zu sagen, wurde Nelly auf einmal sanft und still. Das spöttische Lächeln verschwand von ihren Lippen; eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht; die Augen