Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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dicke Hand des alten Mannes, hob langsam den Kopf in die Höhe und blickte ihm in die Augen.

      »Sie … sind mir gewiß böse, weil ich so schlecht bin«, begann sie, konnte aber nicht weiterreden, kroch unter die Bettdecke, verbarg ihr Köpfchen und fing laut und krampfhaft zu schluchzen an.

      »O mein Kind, weinen Sie nicht … das tut nichts … das sind die Nerven; trinken Sie etwas Wasser!« Aber Nelly hörte nicht auf ihn.

      »Beruhigen Sie sich; regen Sie sich nicht so auf!« fuhr er fort; er beugte sich über sie und schluchzte selbst beinah; denn er war ein sehr gefühlvoller Mensch. »Ich verzeihe Ihnen und werde Sie heiraten, wenn Sie sich gut betragen werden und ein braves Mädchen sein und …«

      »… die Pulver nehmen werden!« erscholl es unter der Bettdecke hervor mit einem seinen, wie ein Glöckchen klingenden, nervösen, von Schluchzen unterbrochenen, mir wohlbekannten Lachen.

      »Ein gutes, dankbares Kind!« sagte der Arzt triumphierend und fast mit Tränen in den Augen. »Armes Mädchen!«

      Seitdem bildete sich zwischen ihm und Nelly eine seltsame, wunderliche Freundschaft heraus. Mir gegenüber wurde Nelly dagegen immer finsterer, nervöser und reizbarer. Ich wußte nicht, worauf ich das zurückführen sollte, und wunderte mich darüber, um so mehr, da dieser Umschwung in ihrem Verhalten ganz plötzlich erfolgt war. In den ersten Tagen ihrer Krankheit hatte sie sich gegen mich überaus zärtlich und freundlich benommen; sie schien sich an mir gar nicht satt sehen zu können, ließ mich nicht von ihrer Seite, ergriff meine Hand mit ihrem heißen Händchen, zog mich auf den Stuhl neben ihrem Bett nieder, und wenn sie bemerkte, daß ich finster und aufgeregt war, so bemühte sie sich, mich zu erheitern, scherzte und spielte mit mir und lächelte mir zu, indem sie augenscheinlich ihre eigenen Leiden unterdrückte. Sie wollte nicht, daß ich nachts arbeitete oder aufsaß, um sie zu warten, und wurde traurig, als sie sah, daß ich nicht auf sie hörte. Manchmal bemerkte ich an ihr eine sorgenvolle Miene; sie fragte mich über mich selbst aus, warum ich traurig sei und was ich auf dem Herzen hätte; aber merkwürdig: sobald das Gespräch auf Natascha kam, verstummte sie sofort oder begann von etwas anderem zu reden. Sie vermied es anscheinend, von Natascha zu sprechen, und das überraschte mich. Wenn ich nach Hause kam, freute sie sich. Wenn ich nach meinem Hut griff, so machte sie ein betrübtes Gesicht und verfolgte mich in eigentümlicher Weise, gewissermaßen vorwurfsvoll, mit den Augen.

      Am vierten Tag ihrer Krankheit saß ich den ganzen Abend über und sogar noch lange nach Mitternacht bei Natascha. Wir hatten damals etwas miteinander zu besprechen. Als ich von zu Hause wegging, hatte ich meiner Patientin gesagt, ich würde sehr bald zurückkommen; denn ich hatte selbst damit gerechnet. Als es sich nun zufällig so traf, daß ich länger bei Natascha bleiben mußte, war ich wegen Nelly beruhigt: sie war nicht allein geblieben. Alexandra Semjonowna saß bei ihr. Diese hatte von Masslobojew, der auf einen Augenblick zu mir gekommen war, erfahren, daß Nelly krank sei und ich, so vollständig allein, viel Mühe und Sorge hätte. O Gott, in welche Aufregung die gute Alexandra Semjonowna da geriet!

      »Dann wird er also auch nicht zum Mittagessen zu uns kommen! … Ach, mein Gott! Und er ist ganz allein, der arme Mensch, ganz allein! Nun, da wollen wir uns ihm jetzt behilflich zeigen. Jetzt bietet sich eine Gelegenheit; die dürfen wir nicht unbenutzt lassen.«

      Sogleich erschien sie bei uns und brachte in der Droschke ein ganz großes Bündel mit. Nachdem sie mir schnell mit kurzen Worten erklärt hatte, sie werde jetzt nicht wieder fortgehen und sei gekommen, um mir zu helfen, band sie das Bündel auf. Darin waren Obstgelees, Eingemachtes, wie es eine Kranke essen kann, junge Hühner und eine Henne, für den Fall, daß die Kranke zu genesen beginne, Äpfel zum Braten, Apfelsinen, Kiewer getrocknete Früchte (falls der Arzt es erlauben sollte), endlich Wäsche, Bettücher, Servietten, Frauenhemden, Binden, Kompressen – als sollte ein ganzes Lazarett damit versorgt werden.

      »Wir haben ja bei uns zu Hause alles vorrätig«, sagte sie eilig und geschäftig zu mir, als ob sie schnell wieder irgendwo anders hin müßte. »Na, und Sie leben hier so als Junggeselle und haben von alledem gewiß wenig. Also erlauben Sie mir schon … auch Filipp Filippowitsch hat es befohlen. Nun, was soll ich jetzt zuerst … nur schnell, nur schnell! Was muß jetzt getan werden? Was macht sie? Ist sie bei Bewußtsein? Ach, wie schlecht sie liegt; das Kissen muß in Ordnung gebracht werden, damit sie mit dem Kopf niedriger liegt. Aber wissen Sie: wäre nicht das beste ein Lederkissen? Leder kühlt. Ach, wie dumm ich bin! Daß es mir nicht eingefallen ist, eins mitzubringen! Ich werde hinfahren und es holen … Muß nicht Feuer gemacht werden? Ich werde Ihnen meine Alte herschicken. Ich habe eine zuverlässige alte Magd. Sie haben ja hier gar keine weibliche Bedienung … Nun, was soll ich jetzt tun? Was ist das? Wohl Brusttee, den der Arzt verschrieben hat? Ich will gleich Feuer anmachen.«

      Aber ich beruhigte sie, und sie war sehr erstaunt und sogar betrübt darüber, daß überhaupt nicht so viel zu tun war. Übrigens ließ sie sich dadurch ganz und gar nicht die Laune verderben. Sie befreundete sich sehr bald mit Nelly und half mir während der Krankheit derselben viel; sie besuchte uns fast täglich und kam immer mit einer Miene, als ob etwas vergessen oder verabsäumt sei und so schnell wie möglich nachgeholt werden müsse. Sie fügte immer hinzu, auch Filipp Filippowitsch habe es befohlen. Nelly fand an ihr großes Gefallen. Sie gewannen einander lieb wie Schwestern, und ich glaube, daß Alexandra Semjonowna in vieler Hinsicht noch ein ebensolches Kind war wie Nelly. Sie erzählte ihr allerlei Geschichten, brachte sie zum Lachen, und Nelly fühlte sich nachher oft einsam, wenn Alexandra Semjonowna nach Hause gefahren war. Ihr erstes Erscheinen bei uns erregte die Verwunderung meiner Kranken; aber sie erriet sogleich, warum der uneingeladene Gast gekommen war, machte nach ihrer Gewohnheit sogar ein finsteres Gesicht und wurde schweigsam und unfreundlich.

      »Warum ist sie denn zu uns gekommen?« fragte Nelly mit unzufriedener Miene, als Alexandra Semjonowna wieder weggefahren war.

      »Um dir zu helfen, Nelly, und dich zu pflegen.«

      »Aber wofür will sie sich damit bedanken? Ich habe ihr ja doch nichts Gutes getan.«

      »Gute Menschen warten nicht, bis man ihnen zuerst Gutes tut, Nelly. Sie helfen auch ohne das gern denen, die der Hilfe bedürfen. Glaube nur, Nelly: es gibt auf der Welt sehr viele gute Menschen. Es ist dein besonderes Unglück gewesen, daß du mit solchen nicht zusammengekommen bist, nicht damals mit ihnen zusammengekommen bist, als es nötig war.«

      Nelly schwieg; ich trat von ihr weg. Aber eine Viertelstunde darauf rief sie mich selbst mit schwacher Stimme zu sich, bat mich, ihr zu trinken zu geben, umarmte mich plötzlich herzlich, drückte sich an meine Brust und ließ mich lange Zeit nicht aus ihren Armen. Als Alexandra Semjonowna am anderen Tag wiederkam, empfing Nelly sie mit freudigem Lächeln, aber als wenn sie sich immer noch über etwas schäme.

      Drittes Kapitel

      An diesem Tag war ich den ganzen Abend über bei Natascha. Ich kam erst spät nach Hause. Nelly schlief. Alexandra Semjonowna war ebenfalls sehr schläfrig, saß aber doch noch wachend bei der Kranken und wartete auf mich. Sogleich erzählte sie mir eilig flüsternd, Nelly sei zuerst sehr vergnügt gewesen und habe sogar viel gelacht; aber dann sei eine Verstimmung über sie gekommen, und als sie gesehen habe, daß ich nicht zurückkam, sei sie schweigsam und nachdenklich geworden. »Dann klagte sie über Kopfschmerz, fing an zu weinen und schluchzte so, daß ich gar nicht mehr wußte, was ich mit ihr machen sollte«, fuhr Alexandra Semjonowna fort. »Sie fing mit mir von Natalja Nikolajewna an zu sprechen; aber ich konnte ihr über diese nichts sagen; da hörte sie auf zu fragen und weinte dann immer; so ist sie auch unter Tränen eingeschlafen. Na, nun leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch; es ist ihr jetzt doch leichter ums Herz, wie ich gemerkt habe; ich muß aber nach Hause; so hat es auch Filipp Filippowitsch befohlen. Ich muß Ihnen bekennen, er hat mich diesmal nur für zwei Stunden beurlaubt, und ich bin auf eigene Faust hiergeblieben. Aber das macht nichts; beunruhigen Sie sich nicht um mich; er wird es nicht wagen, böse zu werden … Nur vielleicht …Ach Gott, liebster Iwan Petrowitsch, was soll ich nur machen: er kommt jetzt immer betrunken nach Hause! Er ist mit etwas sehr beschäftigt, redet nicht mit mir, ist verdrießlich; er hat eine wichtige Sache im Kopf, das sehe ich wohl; abends aber ist er immer betrunken … Ich denke nur: wenn er jetzt nach Hause gekommen ist, wer bringt ihn da zu Bett? Na, ich gehe, ich gehe; leben Sie wohl! Leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch!


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