Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.von Weibern. Soll ich Sie nachher mit einer gewissen Mademoiselle Philiberte bekannt machen, ja? Wie denken Sie darüber? Aber was ist Ihnen? Sie wollen mich nicht einmal ansehen… hm!«
Er wurde nachdenklich. Aber auf einmal hob er den Kopf in die Höhe, blickte mich bedeutsam an und fuhr fort:
»Sehen Sie, mein lieber Poet, ich will Ihnen ein Geheimnis der Natur enthüllen, das Ihnen anscheinend noch ganz unbekannt ist. Ich bin überzeugt, daß Sie mich in diesem Augenblick einen Sünder, vielleicht sogar einen Schurken, ein Monstrum von Ausschweifung und Lasterhaftigkeit nennen. Aber ich will Ihnen etwas sagen! Wenn es möglich wäre (was allerdings nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur niemals möglich sein wird), wenn es möglich wäre, daß ein jeder von uns sein ganzes geheimes Inneres schilderte und dabei ohne jede Scheu alles darlegte, was er sich sonst scheut, den Menschen zu sagen und ihnen um keinen Preis sagen würde, und alles, was er sich sonst scheut, seinen besten Freunden zu sagen, ja sogar das, was er sich mitunter scheut, sich selbst zu gestehen: dann würde sich in der Welt ein solcher Gestank erheben, daß wir alle ersticken müßten. Darum sind unsere konventionellen Verkehrsformen und Anstandsregeln so gut und nützlich. Es liegt in ihnen ein tiefer Sinn; ich will nicht gerade sagen, daß sie moralisch wären, aber sie wirken vorbeugend und tragen zur Behaglichkeit des Lebens bei, was natürlich noch besser ist, da auch die Moralität in Wirklichkeit nur auf die Behaglichkeit abzielt, das heißt einzig und allein zum Zweck der Behaglichkeit erfunden ist. Aber von den Anstandsregeln will ich nachher noch reden; ich schweife jetzt immer ab; erinnern Sie mich nachher an sie. Was ich meine, ist dies: Sie beschuldigen mich der Lasterhaftigkeit, der Ausschweifung, der Sittenlosigkeit; aber mein ganzes Vergehen besteht jetzt vielleicht nur darin, daß ich aufrichtiger bin als andere, weiter nichts; daß ich das nicht verheimliche, was andere sogar vor sich selbst verbergen, wie ich soeben gesagt habe… Daran handle ich ja verdreht; aber ich will einmal jetzt so handeln. Beunruhigen Sie sich übrigens nicht«, fuhr er mit einem spöttischen Lächeln fort; »ich habe gesagt ›Vergehen‹; aber ich bitte durchaus nicht um Verzeihung. Beachten Sie auch dies noch: Ich setze Sie nicht durch die Frage in Verlegenheit, ob auch Sie derartige Geheimnisse haben, um dann mich selbst mit Ihren Geheimnissen zu rechtfertigen. Ich handle anständig und vornehm. Überhaupt handle ich immer…«
»Sie sind einfach ins Schwatzen hineingeraten«, sagte ich, indem ich ihn verächtlich ansah.
»Ich bin ins Schwatzen hineingeraten, hahaha! Soll ich aber sagen, was Sie jetzt denken? Sie denken: »Warum hat er mich, mir nichts, dir nichts, hergeschleppt und entblößt sich nun so vor mir?« Ist es so?«
»Ja.«
»Nun, den Grund werden Sie nachher erfahren.«
»Die einfachste Erklärung für Ihre Offenherzigkeit ist, daß Sie beinah schon zwei Flaschen getrunken haben und… angeregt sind.«
»Das soll einfach heißen: betrunken. Auch das ist möglich. »Angeregt!« Das ist ein zarterer Ausdruck für »betrunken«. O Sie Muster von einem zartfühlenden Menschen! Aber es scheint, wir fangen wieder an, uns zu zanken, und begannen doch gerade von einem so interessanten Gegenstand zu sprechen. Ja, mein lieber Poet, wenn es noch auf der Welt etwas Angenehmes, Genußreiches gibt, so sind es die Weiber.«
»Wissen Sie, Fürst, ich begreife nur nicht, wie Sie auf den Einfall gekommen sind, gerade mich zum Vertrauten Ihrer Geheimnisse und erotischen Neigungen zu erwählen.«
»Hm!… Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie das nachher erfahren werden. Beunruhigen Sie sich darüber nicht; meinetwegen mögen Sie übrigens auch glauben, daß ich Sie nur so zufällig, ohne jeden Grund hergebracht habe; Sie sind ein Poet und imstande, mich zu verstehen; darüber habe ich ja schon mit Ihnen gesprochen. Es liegt ein besonderer Genuß in diesem plötzlichen Abreißen der Maske, in diesem Zynismus, mit dem jemand sich auf einmal vor einem anderen in einer solchen Weise ausspricht, als halte er ihn nicht einmal für wert, daß man sich vor ihm schäme. Ich werde Ihnen da ein Geschichtchen erzählen. Es lebte in Paris ein verrückter Beamter; er wurde nachher ins Irrenhaus gebracht, als man die volle Überzeugung gewonnen hatte, daß er geisteskrank war. Nun also, zu der Zeit, als er verrückt wurde, hatte er sich ein besonderes Vergnügen ersonnen: Er entkleidete sich zu Hause vollständig, wie Adam, behielt nur die Stiefel an, warf einen weiten, bis auf die Fersen reichenden Mantel um, hüllte sich in ihn ein und ging mit ernster, würdiger Miene auf die Straße hinaus. Na, wenn man ihn von der Seite sah, mußte man denken, das sei ein Mensch wie alle und er gehe zu seinem Vergnügen in einem weiten Mantel spazieren. Aber sobald ihm ein Passant an einer einsamen Stelle begegnete, wo weiter niemand ringsum zu sehen war, ging er, schweigend mit der ernstesten, tiefsinnigsten Miene auf ihn zu, blieb plötzlich vor ihm stehen, schlug seinen Mantel auseinander und präsentierte sich in seiner ganzen Nacktheit. Das dauerte nur einen Augenblick; dann wandte er sich schweigend, ohne mit einem Gesichtsmuskel zu zucken, ab und ging ruhig und würdevoll wie der Geist im »Hamlet« an dem vor Erstaunen starren Zuschauer vorüber. So verfuhr er mit allen, mit Männern, Frauen und Kindern, und darin bestand sein ganzes Vergnügen. Nun, sehen Sie: einen Teil eben dieses Vergnügens kann man auch empfinden, wenn man plötzlich so einem Schillerianer einen Keulenschlag versetzt und ihm die Zunge herausstreckt in einem Moment, wo er es am allerwenigsten erwartet. »Einen Keulenschlag versetzen« – wie gefällt Ihnen dieser Ausdruck? Ich habe ihn irgendwo in der modernen Literatur gelesen.«
»Nun, das war ein Irrsinniger; aber Sie…«
»Sie meinen: ich sei bei Verstand?«
»Ja.«
Der Fürst lachte auf.
»Sie urteilen ganz richtig, mein Lieber«, fügte er mit einem überaus frechen Gesichtsausdruck hinzu.
»Fürst«, sagte ich, aufgebracht über seine Unverschämtheit, »Sie hassen uns, und darunter auch mich, und rächen sich jetzt an mir für alles und für alle. Alles das geht bei Ihnen aus der kleinlichsten Eigenliebe hervor. Sie sind boshaft, in kleinlicher Weise boshaft. Wir haben Sie geärgert, und vielleicht ärgern Sie sich am allermeisten über jenen Abend. Natürlich konnten Sie es mir durch nichts so gut heimzahlen als dadurch, daß Sie mir so gründlich Ihre Verachtung bezeigen; Sie dispensieren sich sogar von der gewöhnlichen Höflichkeit, zu der wir alle im Verkehr miteinander verpflichtet sind. Dadurch, daß Sie sich so offen und unerwartet vor meinen Augen
Ihre widerwärtige Maske abreißen und sich in Ihrem moralischen Zynismus präsentieren, wollen Sie mir deutlich zum Ausdruck bringen, ich sei nach Ihrem Urteil nicht einmal wert, daß man sich vor mir schäme…«
»Wozu sagen Sie mir das alles?« fragte er in grobem Ton, indem er mich boshaft anblickte. »Um mir Ihren Scharfsinn zu beweisen?«
»Um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie durchschaue, und Ihnen das auszusprechen.«
»Quelle idée, mon cher«, fuhr er fort; aber er hatte seinen Ton plötzlich geändert und war zu dem früheren heiteren, gutmütigen Plauderton zurückgekehrt. »Sie haben mich jetzt nur von meinem Gegenstand abgelenkt. Buvons, mon ami; gestatten Sie, daß ich Ihnen eingieße! Ich war eben im Begriff, Ihnen ein reizendes, höchst interessantes Abenteuer zu erzählen. Ich erzähle es Ihnen nur in allgemeinen Zügen. Ich war einmal mit einer Dame bekannt; sie stand nicht mehr in der Blüte der Jugend, sondern mochte etwa sieben-oder achtundzwanzig Jahre alt sein; eine erstklassige Schönheit; welch eine Büste, welch eine Haltung, welch ein Gang! Sie hatte einen scharfen, adlerartigen Blick, der immer ernst und streng war; ihr Benehmen war majestätisch und unnahbar. Sie galt für so kalt wie der Winter in seiner kältesten Zeit und erschreckte alle durch ihre unerreichbare, grausame Tugend. Ja, »grausam«, das ist der richtige Ausdruck. Es gab in der ganzen Gegend keine so unnachsichtige Richterin wie sie. Sie verdammte an anderen Frauen nicht nur das Laster, sondern sogar die geringste Schwäche, und dieses Verdammungsurteil war unwiderruflich, und es gab von ihm keine Appellation. In ihrem Kreise besaß sie ein gewaltiges Ansehen. Die stolzesten und wegen ihrer Tugend am meisten gefürchteten alten Damen hatten den größten Respekt vor ihr und suchten sich sogar bei ihr einzuschmeicheln. Sie blickte auf alle kühl und streng herab wie die Äbtissin eines mittelalterlichen Klosters. Die jungen Frauen zitterten vor ihrem Blick und ihrem Urteilsspruch. Eine Bemerkung, eine Andeutung von ihr genügte, um einen Ruf zu vernichten; eine solche Position hatte sie sich in der besseren Gesellschaft erworben; sogar die