Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.da und schrieb und zerfloß dabei in Tränen. »Was für ein geschäftliches Schreiben faßt man denn in dieser Weise ab?« dachte ich. »Grämt er sich vielleicht so um unser Gut Ichmenewka? Wir haben also wohl unser liebes Ichmenewka endgültig verloren!« Während ich das so bei mir dachte, sprang er auf einmal vom Tisch auf, stieß mit der Feder auf den Tisch, wurde ganz rot im Gesicht, seine Augen funkelten, er griff nach seinem Hut und kam zu mir heraus. »Ich komme bald wieder zurück, Anna Andrejewna«, sagte er. Sowie er weg war, lief ich sogleich zu seinem Schreibtisch; er hat da infolge unseres Prozesses eine Unmasse von Papieren liegen, erlaubt mir aber nicht, sie anzurühren. Wie oft habe ich ihn gebeten: »Laß mich wenigstens einmal die Papiere aufheben, damit ich den Staub vom Tisch abwischen kann!’ Aber nein; er fängt an zu schreien und fuchtelt mit den Armen herum: er ist überhaupt hier in Petersburg so nervös und zänkisch geworden. Also ich trat an den Schreibtisch heran und suchte, was das für ein Schriftstück sein mochte, das er soeben geschrieben hatte. Denn ich wußte genau, daß er es nicht mit sich genommen, sondern beim Aufstehen vom Tisch unter die anderen Papiere geschoben hatte. Na, hier, lieber Iwan Petrowitsch, ist das, was ich gefunden habe; sieh es dir mal an!«
Sie reichte mir ein Blatt Briefpapier, das zur Hälfte vollgeschrieben war, aber mit so vielen Ausstreichungen, daß man es an manchen Stellen gar nicht entziffern konnte. Der arme alte Mann! Gleich aus den ersten Zeilen konnte ich entnehmen, was er geschrieben hatte und an wen. Es war ein Brief an Natascha, an seine geliebte Natascha. Der Briefschreiber begann warm und zärtlich; er bot ihr seine Verzeihung an und forderte sie auf, zu ihm zurückzukehren. Es war schwer, den ganzen Brief zu verstehen, da er widerspruchsvoll und unzusammenhängend geschrieben und durch zahllose Ausstreichungen entstellt war. Man konnte nur erkennen, daß das warme Gefühl, das ihn veranlaßt hatte, die Feder zu ergreifen und die ersten, herzlichen Zeilen niederzuschreiben, schnell nach diesen ersten Zeilen in ein anderes übergegangen war: der Alte machte nun seiner Tochter Vorwürfe, malte ihr ihr Verbrechen mit grellen Farben hin, erinnerte sie mit Entrüstung an ihre Hartnäckigkeit und schalt sie wegen ihrer Gefühllosigkeit, weil sie vielleicht nicht, ein einziges Mal daran gedacht habe, was sie ihrem Vater und ihrer Mutter antue. Für ihren Stolz drohte er ihr mit Bestrafung und mit seinem Fluch und schloß mit der Forderung, sie solle ohne Verzug demütig nach Hause zurückkehren; »dann, erst dann, nach einem ergebungsvollen, musterhaften Leben im Schoß der Familie, werden wir uns vielleicht dazu entschließen können, dir zu verzeihen«, schrieb er. Es war deutlich, daß er sein ursprüngliches hochherziges Gefühl nach einigen Zeilen für Schwäche gehalten, sich desselben geschämt, dann die Qualen des gekränkten Stolzes empfunden und mit Zornesausbrüchen und Drohungen geschlossen hatte. Die alte Frau stand mit gefalteten Händen vor mir und wartete voller Angst, was ich nach dem Durchlesen des Briefes sagen würde.
Ich sagte ihr alles offen heraus, so wie es mir erschien. Nämlich: der Alte sei nicht mehr imstande gewesen, ohne Natascha zu leben, und man könne positiv sagen, daß eine baldige Versöhnung der beiden eine Notwendigkeit sei; indessen hänge doch alles von den Umständen ab. Ich setzte ihr ferner meine Vermutung auseinander, daß der üble Ausgang des Prozesses ihn wahrscheinlich stark angegriffen und erschüttert habe, um gar nicht davon zu reden, wie sehr sein Ehrgefühl durch den Triumph des Fürsten über ihn verletzt sei, und in welche Empörung ihn eine solche Entscheidung des Prozesses versetzt habe. In solchen Augenblicken verlange die Seele nach Teilnahme, und er denke um so lebhafter an diejenige, die er immer über alles in der Welt geliebt habe. Endlich komme vielleicht auch das noch hinzu: da er den Gang von Nataschas Angelegenheit verfolge und über alles unterrichtet sei, so habe er wahrscheinlich gehört, daß Aljoscha sie bald verlassen werde. Er könne sich vorstellen, wie ihr jetzt zumute sei, und habe aus eigener Erfahrung ein Gefühl dafür, wie sehr sie des Trostes bedürfe. Aber dennoch könne er sich nicht überwinden, da er von seiner Tochter beleidigt und unwürdig behandelt zu sein glaube. Es sei ihm gewiß der Gedanke gekommen, daß sie trotzdem nicht aus eigener Initiative zu ihm kommen werde und vielleicht überhaupt nicht an ihre Eltern denke und kein Bedürfnis nach Versöhnung empfinde. »So wird er gedacht haben«, schloß ich die Darlegung meiner Ansicht, »und darum hat er den Brief nicht zu Ende geschrieben, und es werden vielleicht aus alledem noch neue Kränkungen hervorgehen, die er noch stärker empfinden wird als die ersten, und wer weiß, ob nicht die Versöhnung dadurch noch auf lange hinausgeschoben werden wird …«
Die alte Frau hörte mit Tränen an, was ich ihr sagte. Zuletzt, als ich ihr erklärte, ich müsse unbedingt sofort zu Natascha gehen und hätte mich schon durch diesen Besuch verspätet, fing sie an zu zittern und kam damit heraus, daß sie gerade die Hauptsache noch vergessen hätte mir mitzuteilen. Als sie den Brief aus den Papieren herausgenommen habe, hätte sie zufällig das Tintenfaß über ihn umgestoßen. In der Tat war eine ganze Ecke mit Tinte begossen, und die alte Frau ängstigte sich nun schrecklich, der Alte werde an diesem Fleck merken, daß sie während seiner Abwesenheit in seinen Papieren gekramt und den Brief an Natascha gelesen habe. Ihre Furcht war sehr begründet: schon allein der Umstand, daß wir sein Geheimnis kannten, konnte ihn veranlassen, vor Beschämung und Ärger in seinem Groll zu verharren und aus Stolz die Versöhnung hartnäckig zu verweigern.
Aber nach näherer Überlegung konnte ich der Alten zureden, sich nicht weiter zu beunruhigen. Ich sagte ihr, er sei von dem Brief in solcher Erregung aufgestanden, daß er sich unmöglich aller Einzelheiten erinnern könne und jetzt wahrscheinlich denken werde, daß er den Brief selbst beschmutzt und es dann vergessen habe. Nachdem ich Anna Andrejewna auf diese Weise getröstet hatte, legten wir den Brief behutsam wieder an seinen früheren Platz. Beim Weggehen fiel mir noch ein, mit ihr ein ernstes Wort über Nelly zu reden. Es schien mir, daß die arme, verlassene Waise, deren Mutter ebenfalls von ihrem Vater verflucht worden war, vielleicht imstande sein werde, durch die traurige, tragische Erzählung von ihrem früheren Leben und von dem Tod ihrer Mutter den alten Mann zu rühren und zu großmütigen Empfindungen hinzuleiten. Alles war dazu bereit; alles war in seinem Herzen zur Reife gelangt; die Sehnsucht nach seiner Tochter begann bereits über seinen Stolz und über sein gekränktes Ehrgefühl die Oberhand zu gewinnen. Es fehlte nur noch ein Anstoß, ein letzter geeigneter Anlaß, und die Stelle dieses geeigneten Anlasses konnte Nelly ersetzen. Die alte Frau hörte mich mit größter Aufmerksamkeit an: ihr ganzes Gesicht belebte sich von entzückter Hoffnung. Sofort machte sie mir Vorwürfe: warum ich ihr das nicht schon längst gesagt hätte; sie begann, mich ungeduldig über Nelly auszufragen, und versprach zuletzt feierlich, sie werde jetzt selbst ihren Mann bitten, die Waise ins Haus zu nehmen. Sie fing schon an, Nelly herzlich zu lieben, bedauerte, daß diese krank sei, erkundigte sich nach der Art der Krankheit, nötigte mir für Nelly ein Glas mit Eingemachtem auf, das sie selbst eilig aus der Speisekammer holte, brachte mir fünf Rubel in der Voraussetzung, daß ich kein Geld für den Arzt hätte, und als ich sie nicht annahm, fand sie nur mit Mühe eine Beruhigung und einen Trost in dem Gedanken, daß Nelly ja doch auch Kleider und Wäsche brauche und sie ihr somit in dieser Weise nützlich sein könne. Infolgedessen machte sie sich sofort daran, ihren Kasten zu durchwühlen, all ihre Kleider auszubreiten und aus ihnen diejenigen auszuwählen, die sie ›der lieben kleinen Waise‹ schenken könne.
Ich aber ging zu Natascha. Als ich die letzte Treppe hinaufstieg, die, wie ich schon früher gesagt habe, eine Wendeltreppe war, bemerkte ich an ihrer Tür jemand, der sich schon anschickte, anzuklopfen, aber innehielt, weil er meine Schritte hörte. Schließlich gab er, wahrscheinlich nach einigem Schwanken, seine Absicht plötzlich auf und stieg wieder hinunter. Ich stieß mit ihm auf dem letzten Stück der Treppe zusammen, und wie groß war mein Erstaunen, als ich Ichmenew erkannte. Auf der Treppe war es auch bei Tag sehr dunkel. Er lehnte sich an die Wand, um mich vorbeizulassen, und ich erinnere mich an den seltsamen Glanz seiner Augen, die mich unverwandt anblickten. Es kam mir so vor, als sei er sehr rot geworden; mindestens war er furchtbar verlegen, ja geradezu fassungslos.
»Ah, Wanja, du bist es!« sagte er mit unsicherer Stimme. »Ich wollte hier zu jemand … zu einem Schreiber … immer in meiner Prozeßangelegenheit … er ist kürzlich umgezogen … irgendwohin hier in der Gegend … aber er scheint hier nicht zu wohnen. Ich habe mich geirrt. Leb wohl!«
Er ging schnell die Treppe hinunter.
Ich beschloß, Natascha von dieser Begegnung vorläufig nichts zu sagen, ihr aber unbedingt sogleich davon Mitteilung zu machen, sobald sie nach Aljoschas Abreise werde allein zurückgeblieben sein. Augenblicklich