Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.um und sah, daß er sein Kopfkissen an der einen unteren Ecke auftrennte und vier Rubel herausnahm. Als er sie herausgenommen hatte, brachte er sie mir und sagte: ›Das ist für dich allein.‹ Ich wollte das Geld schon nehmen; aber dann bedachte ich mich und sagte: ›Wenn es für mich allein sein soll, dann nehme ich es nicht.‹ Der Großvater wurde auf einmal zornig und sagte: ›Nun, dann nimm es und mach damit, was du willst! Geh weg!‹ Ich ging hinaus, und er küßte mich diesmal nicht. Als ich nach Hause kam, erzählte ich alles Mama. Mit Mama aber wurde es immer schlechter und schlechter. Zu dem Sargtischler kam ein Student der Medizin; der behandelte Mama ärztlich und verschrieb ihr etwas zum Einnehmen.
Ich aber ging häufig zum Großvater: Mama wünschte es. Der Großvater kaufte ein Neues Testament und ein Geographiebuch und unterrichtete mich; manchmal erzählte er mir auch, was für Länder es auf der Erde gibt und was für Menschen darin wohnen und was für Meere es gibt und was früher alles geschehen ist und wie Christus uns alle erlöst hat. Wenn ich selbst ihn nach etwas fragte, so freute er sich sehr; darum fragte ich ihn auch häufig, und er erzählte mir alles und sprach auch viel von Gott. Manchmal aber lernten wir nicht, sondern spielten mit Asorka: Asorka hatte mich sehr liebgewonnen, und ich lehrte ihn, über den Stock zu springen, und der Großvater lachte und streichelte mir immer den Kopf. Aber lachen tat der Großvater nur selten. Manchmal sprach er viel; aber dann verstummte er plötzlich wieder und saß da, als ob er eingeschlafen wäre; aber die Augen waren offen. So saß er bis zur Dämmerung; in der Dämmerung aber sah er so furchtbar aus, so alt … Und manchmal wieder, wenn ich zu ihm kam, saß er auf seinem Stuhl in Gedanken versunken und hörte nichts, und Asorka lag neben ihm. Ich wartete und wartete und hustete; aber der Großvater blickte nicht auf. So ging ich denn wieder weg. Zu Hause aber wartete Mama immer schon ungeduldig auf mich; sie lag im Bett, und ich erzählte ihr alles, alles, so daß es darüber Nacht wurde; aber ich redete immer noch vom Großvater, und sie hörte zu: was er heute getan hatte, und was er mir erzählt hatte, was für Geschichten, und was er mir für eine Aufgabe aufgegeben hatte. Und wenn ich von Asorka anfing, daß ich ihn hatte über den Stock springen lassen und daß der Großvater gelacht hatte, dann fing auch sie auf einmal an zu lachen, und sie lachte manchmal lange und freute sich und ließ es mich noch einmal wiederholen und fing dann an zu beten. Ich aber dachte immer: ›Wie geht das zu? Mama hat den Großvater so sehr lieb und er sie gar nicht‹, und als ich wieder zum Großvater kam, erzählte ich ihm absichtlich, wie lieb Mama ihn hätte. Er hörte das an, machte aber ein so zorniges Gesicht; er hörte es an, ohne ein Wort zu sagen; dann fragte ich ihn noch, woher denn das komme, daß Mama ihn so liebhabe und immer nach ihm frage, und er sich niemals nach Mama erkundige. Der Großvater wurde sehr böse und jagte mich vor die Tür; ich wartete ein Weilchen vor der Tür, und da machte er auf einmal die Tür wieder auf und rief mich zurück; aber er war immer noch zornig und schwieg. Als wir aber dann anfingen, das Neue Testament zu lesen, da fragte ich wieder, wie denn das zugehe, daß Jesus Christus gesagt habe: ›Liebet euch untereinander und verzeiht die Beleidigungen!‹ und er Mama nicht verzeihen wolle. Da sprang er auf und schrie, das habe Mama mir eingetrichtert, stieß mich zum zweitenmal hinaus und sagte, ich solle mich jetzt nie wieder erdreisten, zu ihm zu kommen. Ich erwiderte ihm aber, ich würde jetzt schon von selbst nicht mehr zu ihm kommen, und ging von ihm weg… Aber der Großvater zog am folgenden Tag in eine andere Wohnung…«
»Ich habe es ja gesagt, daß der Regen bald vorübergehen werde; da ist er auch schon vorbei, da kommt schon die Sonne… sieh nur, Wanja!« sagte Nikolai Sergejewitsch, sich zum Fenster wendend.
Anna Andrejewna sah ihn höchst erstaunt an, und auf einmal blitzte ein Gefühl der Empörung in den Augen der bisher so friedlichen, schüchternen alten Frau auf. Schweigend faßte sie Nelly bei der Hand und setzte sie auf ihren Schoß.
»Erzähle du deine Geschichte mir, mein Engel, mir!« sagte sie. »Ich werde dir zuhören. Mögen diejenigen, die ein hartes Herz haben…«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende und brach in Tränen aus. Nelly richtete erstaunt und erschrocken ihre Blicke auf mich. Der Alte sah mich an, zuckte ein wenig mit den Achseln, wandte sich aber sogleich wieder ab. »Fahre nur fort, Nelly!« sagte ich.
»Ich ging drei Tage lang nicht zum Großvater«, begann Nelly von neuem; »aber während dieser Zeit verschlimmerte sich Mamas Zustand. Unser Geld war zu Ende, so daß wir keine Medizin kaufen konnten; und auch zu essen hatten wir nichts; denn die Wirtsleute hatten ebenfalls nichts und machten uns Vorwürfe, daß wir auf ihre Kosten lebten. Da stand ich am Morgen des dritten Tages auf und fing an, mich anzukleiden. Mama fragte, wohin ich gehen wolle. Ich sagte: ›Zum Großvater, ihn um Geld bitten‹, und sie freute sich; denn ich hatte ihr erzählt, wie er mich weggejagt hatte, und hatte ihr gesagt, ich wolle nicht mehr zu ihm gehen, obwohl sie geweint und mir zugeredet hatte zu gehen. Ich kam hin und erfuhr, daß der Großvater umgezogen sei, und ging zu dem neuen Haus, um ihn da zu suchen. Als ich zu ihm in die neue Wohnung kam, sprang er auf, stürzte auf mich los und stampfte mit den Füßen, und ich sagte ihm kurz, daß Mama sehr krank sei, daß wir Geld für Medizin brauchten, fünfzig Kopeken, und daß wir nichts zu essen hätten. Der Großvater schrie mich an und stieß mich auf die Treppe hinaus und machte hinter mir die Tür mit dem Haken zu. Aber als er mich hinausstieß, hatte ich ihm gesagt, ich würde mich auf die Treppe setzen und nicht eher fortgehen, als bis er mir Geld gebe. Ich setzte mich auch wirklich auf die Treppe. Nach einer Weile machte er die Tür auf und sah, daß ich noch dasaß, und machte sie wieder zu. Dann verging längere Zeit; da machte er wieder auf, sah wieder nach mir und machte wieder zu. Und so machte er noch viele Male die Tür auf und sah hinaus. Endlich kam er mit Asorka heraus, schloß die Tür zu und ging an mir vorbei aus dem Haus, ohne ein Wort zu sagen. Auch ich sagte kein Wort und blieb so sitzen und saß bis zum Dunkelwerden.«
»Du mein liebes Kind«, rief Anna Andrejewna; »aber es war ja doch kalt auf der Treppe!« »Ich hatte ein Pelzmäntelchen an«, antwortete Nelly. »Was hilft so ein Pelzmäntelchen… du liebes Kind! Was hast du alles aushalten müssen! Nun, und was tat er, dein Großvater?«
Nellys Lippen fingen an zu zucken; aber sie nahm sich mit einer außerordentlichen Anstrengung zusammen. »Er kam, als es schon ganz dunkel war, stieß an mich, als er in seine Wohnung gehen wollte, und rief: »Wer ist da?« Ich antwortete, daß ich es sei. Er hatte gewiß geglaubt, ich sei schon längst weggegangen, und als er nun sah, daß ich immer noch da war, war er sehr erstaunt und blieb lange vor mir stehen. Auf einmal schlug er mit dem Stock auf die Stufen, lief zu seiner Tür, schloß sie auf, brachte mir einen Augenblick darauf eine Anzahl Kupfermünzen, lauter Fünfkopekenstücke, heraus und warf sie mir auf die Treppe. »Da hast du«, schrie er; »nimm es hin; das ist alles, was ich habe; und sage deiner Mutter, daß ich sie verfluche!« Und damit schlug er die Tür zu. Die Kupferstücke aber rollten die Treppe hinunter. Ich begann, sie in der Dunkelheit aufzusammeln; dem Großvater war es offenbar nachträglich zum Bewußtsein gekommen, daß er die Geldstücke so hingestreut hatte und es mir im Dunkeln wohl schwer sein würde, sie alle aufzusammeln; denn er machte seine Tür auf und brachte eine Kerze heraus, und bei deren Schein bekam ich alles bald zusammen. Der Großvater half mir auch selbst suchen und sagte mir, es müßten im ganzen siebzig Kopeken sein; dann ging er wieder weg. Als ich nach Hause gekommen war, gab ich das Geld Mama und erzählte ihr alles, und mit Mama ging es immer schlechter, und auch ich selbst war die ganze Nacht krank und hatte am anderen Tag ebenfalls Fieber. Aber ich hatte nur einen einzigen Gedanken; denn ich war böse auf den Großvater, und als Mama eingeschlafen war, ging ich auf die Straße, auf Großvaters Wohnung zu, und stellte mich, ehe ich ganz hingekommen war auf eine Brücke. Da kam der …«
»Sie meint Archipow«, sagte ich; »das ist der Mensch, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, Nikolai Sergejewitsch, daß er mit einem Kaufmann zusammen bei der Bubnowa war und da durchgeprügelt wurde. Nelly sah ihn damals zum ersten Male … Fahr fort, Nelly!«
»Ich hielt ihn an und bat ihn um Geld, um einen Rubel. Er sah mich an und fragte: ›Einen Rubel?‹ Ich sagte: ›Ja.‹ Da lachte er und sagte zu mir: ›Komm mit mir mit!‹ Ich wußte nicht, ob ich mitgehen solle; auf einmal trat ein alter Herr mit einer goldenen Brille heran; er hatte gehört, wie ich um einen Rubel gebeten hatte, beugte sich zu mir und fragte, wozu ich denn durchaus soviel haben wolle. Ich sagte ihm, Mama sei krank und wir brauchten soviel Geld für Medizin. Er erkundigte sich, wo wir wohnten, schrieb es sich auf und gab mir einen Rubelschein.