Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.in Kupfermünzen; dreißig Kopeken wickelte ich in ein Stückchen Papier und steckte sie für Mama in die Tasche; die anderen siebzig Kopeken aber wickelte ich nicht in das Papier, sondern ich behielt sie absichtlich fest in der Hand und ging zum Großvater. Als ich zu ihm kam, machte ich die Tür auf, trat auf die Schwelle, holte mit dem Arm aus und warf ihm das ganze Geld hin, so daß es auf dem Fußboden umherrollte. »Da, nehmen Sie Ihr Geld wieder!« sagte ich zu ihm. »Mama kann Ihr Geld nicht brauchen, da Sie sie verflucht haben!« Dann schlug ich die Tür zu und lief sogleich davon.«
Ihre Augen funkelten, und sie sah den alten Mann mit naiv herausfordernder Miene an.
»Das war recht«, sagte Anna Andrejewna, ohne Nikolai Sergejewitsch anzusehen, und drückte Nelly fest an sich.
»Das war ihm ganz recht; dein Großvater war ein böser, hartherziger Mensch…«
»Hm!« machte Nikolai Sergejewitsch.
»Nun, und was geschah dann weiter, was geschah dann weiter?« fragte Anna Andrejewna ungeduldig.
»Ich ging seitdem nicht mehr zum Großvater, und er kam nicht mehr zu mir«, antwortete Nelly.
»Aber wie erging es denn nun dir und deiner Mama? Ach, ihr Armen, ihr Armen!«
»Mit Mama wurde es immer schlechter, und sie stand nur noch selten vom Bett auf«, fuhr Nelly fort, und ihre Stimme zitterte und stockte. »Geld hatten wir nicht mehr, und so fing ich denn an, mit der Kapitänswitwe auszugehen. Diese ging in die Häuser und bat um Almosen, und auch auf der Straße hielt sie gutgekleidete Leute mit solchen Bitten an; davon lebte sie. Sie sagte mir, sie sei keine gewöhnliche Bettlerin, sondern habe Papiere, in denen ihr Stand angegeben sei und auch geschrieben stehe, daß sie arm sei. Diese Papiere zeigte sie immer vor, und daraufhin gaben ihr die Leute Geld. Sie sagte mir auch, alle Menschen um Unterstützung zu bitten sei keine Schande. Ich ging mit ihr zusammen, und wir erhielten milde Gaben; davon lebten wir. Mama erfuhr davon; denn die Tischlerleute machten ihr Vorwürfe, daß sie eine Bettlerin sei; die Bubnowa aber kam selbst zu Mama und sagte, sie solle mich doch lieber zu ihr hingeben, statt mich betteln zu lassen. Sie war auch schon früher zu Mama gekommen und hatte ihr Geld gebracht; und als Mama es von ihr nicht angenommen hatte, da hatte die Bubnowa gesagt: »Warum sind Sie so stolz?« und hatte ihr Essen geschickt. Aber als sie jetzt das von mir sagte, erschrak Mama heftig und fing an zu weinen, und die Bubnowa schimpfte auf sie (denn sie war betrunken) und sagte, daß ich sowieso schon eine Bettlerin sei und mit der Kapitänswitwe ginge, und jagte gleich an demselben Abend die Kapitänswitwe aus dem Haus. Als Mama alles erfahren hatte, brach sie in Tränen aus; dann stand sie plötzlich vom Bett auf, zog sich an, nahm mich bei der Hand und ging mit mir zur Tür. Iwan Alexandrowitsch wollte sie zurückhalten; aber sie hörte nicht auf ihn, und wir gingen hinaus. Mama konnte kaum gehen und mußte sich alle Augenblicke auf der Straße hinsetzen, und ich stützte sie immer. Mama sagte fortwährend, sie wolle zum Großvater gehen und ich möchte sie hinführen; aber es war schon längst Nacht geworden. Auf einmal kamen wir in eine große Straße; da fuhren vor einem Haus schöne Equipagen vor, und es stiegen viele Leute aus, und alle Fenster waren hell erleuchtet, und man hörte Musik. Mama blieb stehen, faßte mich an der Schulter und sagte zu mir:
»Nelly, bleib arm; bleib dein ganzes Leben lang arm; geh nicht zu ihnen hin, wer auch immer dich ruft und zu dir kommt. Auch du könntest dort sein und viel Geld haben und ein schönes Kleid tragen; aber ich will das nicht. Das sind böse, hartherzige Menschen; mein Gebot ist dieses: bleibe arm, arbeite und bitte um Almosen; aber wenn jemand kommt, um dich zu holen, dann sage: ›Ich will nicht zu Ihnen !‹ Das hat Mama zu mir gesagt, als sie krank war, und ich will ihr mein ganzes Leben lang gehorchen«, fügte Nelly, vor Aufregung zitternd, das Gesichtchen von Glut Übergossen, hinzu, »und ich werde mein ganzes Leben lang dienen und arbeiten, und auch zu Ihnen bin ich gekommen, um zu dienen und zu arbeiten, und ich will nicht die Stellung einer Tochter einnehmen…« »Nicht doch, nicht doch, mein Herzchen, nicht doch!« rief die alte Frau und umarmte Nelly herzlich. »Deine Mama war ja damals krank, als sie das sagte.«
»Irrsinnig war sie«, bemerkte der Alte in scharfem Ton.
»Mag sie auch irrsinnig gewesen sein«, erwiderte Nelly, sich heftig an ihn wendend. »Mag sie auch irrsinnig gewesen sein; sie hat es mir so befohlen, und so werde ich mein ganzes Leben lang handeln. Und als sie mir das gesagt hatte, fiel sie in Ohnmacht.«
»Herr du mein Gott!« schrie Anna Andrejewna auf. »Krank, und auf der Straße, im Winter! …«
»Man wollte uns nach der Polizei bringen; aber ein Herr nahm sich unser an, fragte mich, wo wir wohnten, gab mir zehn Rubel und sagte, ich solle Mama in seinem Wagen zu uns nach Hause bringen. Nachher ist Mama nicht mehr vom Bett aufgestanden, und nach drei Wochen starb sie …«
»Und ihr Vater? Also hat er ihr nicht verziehen?« rief Anna Andrejewna.
»Nein, er hat ihr nicht verziehen«, erwiderte Nelly, sich mit qualvoller Anstrengung zusammennehmend. »Eine Woche vor ihrem Tod rief mich Mama zu sich und sagte: ›Nelly, geh noch einmal zum Großvater, zum letztenmal, und bitte ihn, er möchte zu mir kommen und mir verzeihen; sage ihm, ich würde in wenigen Tagen sterben und ließe dich allein auf der Welt zurück. Und sage ihm noch, das Sterben werde mir schwer …‹ Ich ging hin und klopfte bei dem Großvater an; er machte auf, und als er mich erblickte, wollte er die Tür sogleich wieder vor mir zumachen; aber ich klammerte mich mit beiden Händen an der Tür fest und rief ihm zu: ›Mama liegt im Sterben; sie läßt Sie rufen; kommen Sie zu ihr!‹ Aber er stieß mich weg und schlug die Tür zu. Ich kehrte zu Mama zurück, legte mich neben sie, umarmte sie und sagte nichts. Mama umarmte mich auch und stellte keine Frage …«
Hier stützte sich Nikolai Sergejewitsch schwerfällig mit der Hand auf den Tisch und stand auf; aber nachdem er einen seltsamen, trüben Blick über uns alle hatte hingleiten lassen, ließ er sich wieder kraftlos in seinen Lehnstuhl zurücksinken. Anna Andrejewna sah ihn nicht mehr an, sondern umarmte Nelly schluchzend … »Und dann am letzten Tag rief mich Mama, bevor sie starb, gegen Abend zu sich, faßte mich bei der Hand und sagte: »Ich werde heute sterben, Nelly«; sie wollte noch etwas sagen, war aber dazu nicht mehr imstande. Ich sah sie an; aber sie schien mich nicht mehr zu sehen; sie hielt nur meine Hand fest in ihren Händen. Ich zog leise meine Hand heraus und lief aus dem Haus, und den ganzen Weg über lief ich, so schnell ich konnte, und lief zum Großvater. Als er mich erblickte, sprang er vom Stuhl auf und sah mich an und erschrak so, daß er ganz blaß wurde und am ganzen Leib zitterte. Ich ergriff ihn bei der Hand und sagte nur ganz kurz: »Sie stirbt gleich.« Da fing er auf einmal an, im Zimmer hin und her zu rennen, ergriff seinen Stock und lief mir nach; er vergaß sogar seinen Hut, und es war doch kalt. Ich nahm den Hut und setzte ihn ihm auf, und wir liefen zusammen aus dem Haus. Ich trieb ihn zur Eile an und sagte, er möchte doch eine Droschke nehmen, weil Mama gleich sterben werde; aber der Großvater hatte im ganzen nur noch sieben Kopeken. Er hielt einige Droschkenkutscher an und handelte mit ihnen; aber sie lachten nur über ihn, und auch über Asorka lachten sie, der mit uns lief, und wir liefen immer weiter und weiter. Der Großvater wurde müde und konnte nur mühsam atmen; aber doch beeilte er sich, soviel er nur konnte, und lief. Auf einmal fiel er hin, und der Hut flog ihm vom Kopf. Ich hob ihn auf, setzte ihn ihm wieder auf den Kopf und führte Großvater an der Hand; erst kurz vor Einbruch der Nacht kamen wir zu uns nach Hause… Aber Mama lag schon tot da. Als der Großvater sie sah, schlug er die Hände zusammen, fing an zu zittern, beugte sich über sie und sagte kein Wort. Da trat ich zu meiner toten Mama heran, faßte den Großvater bei der Hand und rief ihm zu: ›Da, du grausamer, böser Mensch, nun sieh her!… Sieh her!‹ Da schrie der Großvater auf und fiel wie tot auf den Fußboden.«
Nelly sprang auf, machte sich von Anna Andrejewnas Armen frei und stand blaß, erschöpft und in höchster Erregung mitten unter uns. Aber Anna Andrejewna eilte auf sie zu, schlang von neuem die Arme um sie und rief wie in Verzückung:
»Ich, ich werde jetzt deine Mutter sein, Nelly, und du mein Kind! Ja, Nelly, laß uns fortgehen; verlassen wir all diese grausamen, schlechten Menschen! Mögen sie sich aus dem Urteil anderer Menschen nichts machen; aber Gott, Gott wird es ihnen heimzahlen… Komm, Nelly, komm weg von hier, laß uns fortgehen!…«
Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich sie in einem solchen Zustand gesehen, und ich hätte nicht gedacht, daß