Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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hatte sie ihn endlich verstanden.

      »Verlassen Sie mich, verlassen Sie mich augenblicklich!« rief sie.

      »Aber, liebe Freundin, Sie vergessen, daß der Graf auch Ihrem Vater nützlich sein kann…«

      »Mein Vater wird nichts von ihm annehmen. Verlassen Sie mich!« rief Natascha noch einmal.

      »O mein Gott, wie hitzig und mißtrauisch Sie sind! Womit habe ich das verdient?« sagte der Fürst und blickte mit einiger Unruhe um sich. »Aber jedenfalls werden Sie mir erlauben«, fuhr er fort, indem er ein ziemlich großes Päckchen aus der Tasche zog, »Ihnen diesen Beweis meiner Teilnahme für Sie hierzulassen, und namentlich auch der Teilnahme des Grafen N., der mich mit seinem Rat dazu angeregt hat. Hier in diesem Päckchen befinden sich zehntausend Rubel. Warten Sie, meine Freundin«, fügte er schnell hinzu, als er sah, daß sich Natascha zornig von ihrem Platz erhob, »hören Sie geduldig zu Ende: Sie wissen, daß Ihr Vater seinen Prozeß gegen mich verloren hat, und diese zehntausend Rubel sind eine Entschädigung, die…«

      »Weg!« rief Natascha; »weg mit diesem Geld! Ich durchschaue Sie vollständig… Sie gemeiner, gemeiner, gemeiner Mensch!«

      Blaß vor Wut erhob sich der Fürst vom Stuhl.

      Wahrscheinlich war er in der Absicht gekommen, das Terrain zu sondieren, die derzeitige Lage kennenzulernen, und hatte wahrscheinlich fest darauf gerechnet, daß diese zehntausend Rubel auf die bettelarme, von allen verlassene Natascha ihre Wirkung nicht verfehlen würden. Gemein und roh, wie er war, hatte er dem wollüstigen alten Grafen N. schon zu wiederholten Malen in derartigen Angelegenheiten Dienste geleistet. Aber er haßte Natascha, und da er merkte, daß die Sache nicht nach Wunsch ging, änderte er sogleich seinen Ton und beeilte sich mit boshafter Freude, sie zu beleidigen, um wenigstens nicht ungerächt wegzugehen.

      »Das ist nicht hübsch von Ihnen, meine Liebe, daß Sie so heftig werden«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig in der ungeduldigen Vorfreude auf die Wirkung seiner Beleidigung;’ »das ist nicht hübsch von Ihnen. Man bietet Ihnen Protektion an, und Sie heben stolz das Näschen in die Höhe. Sie wissen wohl nicht, daß Sie allen Anlaß haben, mir dankbar zu sein; denn als Vater eines von Ihnen verführten und ausgebeuteten jungen Mannes hätte ich schon längst Ihre Überführung ins Arbeitshaus veranlassen können. Aber ich habe es nicht getan… hehehe!«

      Aber in diesem Augenblick hatten der Arzt und ich die Wohnung bereits betreten. Schon in der Küche vernahm ich Stimmen, hielt den Arzt einen Augenblick zurück und hörte den letzten Satz des Fürsten mit an. Darauf erscholl sein widerliches Gelächter und ein verzweifelter Aufschrei Nataschas: »O mein Gott!« Schnell öffnete ich die Tür und stürzte mich auf den Fürsten. Ich spie ihm ins Gesicht und schlug ihn aus voller Kraft auf die Backe. Er wollte sich auf mich werfen; aber als er sah, daß wir unser zwei waren, ergriff er die Flucht, nachdem er vorher noch sein auf dem Tisch liegendes Geldpäckchen an sich gerafft hatte. Ja, das tat er; ich sah es mit eigenen Augen. Ich warf ihm noch das Mangelholz nach, das ich in der Küche auf dem Tisch zu fassen bekam… Als ich wieder ins Zimmer kam, sah ich, daß der Arzt Natascha festhielt, die um sich schlug und sich aus seinen Händen losreißen wollte, wie wenn sie einen Krampfanfall hätte. Lange Zeit vermochten wir sie nicht zu beruhigen; endlich gelang es uns, sie zu Bett zu bringen; sie war irre wie bei einem hitzigen Fieber.

      »Was ist mit ihr, Doktor?« fragte ich, halbtot vor Angst. »Geduld!« antwortete er; »wir müssen uns die Krankheit erst näher ansehen; dann erst können wir uns eine Meinung darüber bilden… aber im allgemeinen läßt sich sagen; daß die Sache recht übel aussieht. Es kann sich sogar ein Nervenfieber daraus entwickeln… Übrigens werden wir unsere Maßnahmen ergreifen…«

      Aber in meinem Kopf war bereits ein anderer Gedanke aufgeblitzt. Ich bat den Arzt, noch zwei oder drei Stunden bei Natascha zu bleiben, und ließ mir von ihm versprechen, daß er sich auch nicht für eine Minute von ihr entfernen werde. Er gab mir sein Wort, und ich lief nach Hause.

      Nelly saß finster und aufgeregt in einer Ecke und sah mich seltsam an. Gewiß bot ich selbst einen seltsamen Anblick.

      Ich faßte sie bei den Händen, setzte mich auf das Sofa, nahm sie auf meinen Schoß und küßte sie herzlich. Sie wurde dunkelrot.

      »Nelly, mein Engel!« sagte ich; »willst du unsere Retterin sein? Willst du uns alle retten?« Sie sah mich erstaunt an. »Nelly, unsere ganze Hoffnung beruht jetzt auf dir! Da ist ein Vater: du hast ihn gesehen und kennst ihn; er hat seine Tochter verflucht und ist gestern hergekommen mit der Bitte, du möchtest anstelle der Tochter zu ihm ziehen. Jetzt ist Natascha (und du hast gesagt, daß du sie liebst) von demjenigen verlassen worden, den sie liebte und um dessentwillen sie von ihrem Vater weggegangen war. Er ist der Sohn jenes Fürsten, der, wie du dich erinnern wirst, eines Abends zu mir kam und zunächst dich allein vorfand; und du liefst von ihm weg und wurdest nachher krank… Du kennst ihn doch? Er ist ein schlechter Mensch!«

      »Ja, ich kenne ihn«, antwortete Nelly, die zusammengezuckt und blaß geworden war.

      »Ja, er ist ein schlechter Mensch. Er haßt Natascha dafür, daß sein Sohn Aljoscha sie heiraten wollte. Heute ist Aljoscha abgereist, und eine Stunde darauf war sein Vater schon bei ihr und beleidigte sie und drohte ihr, sie ins Arbeitshaus bringen zu lassen, und verhöhnte sie. Verstehst du mich, Nelly?«

      Ihre schwarzen Augen funkelten; aber sie schlug sie sofort zu Boden.

      »Ja«, flüsterte sie kaum hörbar.

      »Jetzt ist Natascha allein und krank; ich habe unseren Arzt bei ihr gelassen und bin selbst zu dir gelaufen. Höre, Nelly: wir wollen zu Nataschas Vater gehen; du kannst ihn nicht leiden, du wolltest nicht zu ihm ziehen; aber jetzt wollen wir beide zusammen zu ihm hingehen. Wenn wir eintreten, werde ich sagen, daß du jetzt bereit seist, anstelle der Tochter, anstelle Nataschas, bei ihnen zu leben. Der alte Mann ist jetzt krank, weil er Natascha verflucht hat und weil er von Aljoschas Vater erneut tödlich beleidigt worden ist. Er will jetzt von seiner Tochter überhaupt nichts hören; aber er liebt sie, er liebt sie, Nelly, und möchte sich mit ihr versöhnen; ich weiß das, ich weiß das alles! Es ist so!… Hörst du auch, Nelly?«

      »Ich höre«, antwortete sie, wieder nur flüsternd. Während ich zu ihr sprach, strömten mir die Tränen aus den Augen. Sie sah mich schüchtern an.

      »Glaubst du es auch?« fragte ich. »Ja, ich glaube es.«

      »Nun, dann werde ich mit dir hinfahren. Sie werden dich freundlich aufnehmen und nach allem befragen. Dann werde ich selbst das Gespräch so lenken, daß sie dich nach deinem früheren Leben fragen: nach deiner Mutter und nach deinem Großvater. Erzähle ihnen alles so, wie du es mir erzählt hast, Nelly! Erzähle ihnen alles, alles, ganz schlicht und ohne etwas zu verbergen! Erzähle ihnen, wie der böse Mensch deine Mutter verlassen hat, wie sie im Kellergeschoß bei der Bubnowa dahingesiecht ist; wie ihr, deine Mutter und du, auf den Straßen umhergegangen seid und gebettelt habt; was sie dir auf ihrem Sterbebett gesagt und um was sie dich gebeten hat. Erzähle dabei auch von deinem Großvater! Erzähle, wie er deiner Mutter nicht verzeihen wollte und wie sie dich in ihrer Todesstunde zu ihm schickte, damit er zu ihr käme und ihr verziehe, und wie er es nicht wollte und wie sie starb. Erzähle alles, alles! Und wenn du das alles erzählst, dann wird der alte Mann das im tiefsten Herzen empfinden. Er weiß ja, daß Aljoscha die arme Natascha heute im Stich gelassen hat und daß sie erniedrigt und beschimpft zurückgeblieben ist, einsam, ohne Schutz und Hilfe, den Schmähungen ihres Feindes preisgegeben. Er weiß das alles … Nelly! Rette Natascha! Willst du mit mir hinfahren?«

      »Ja«, antwortete sie; sie atmete schwer und sah mich mit einem seltsamen Blick starr und lange an; es lag in diesem Blick eine Art von Vorwurf, und ich fühlte das in meinem Herzen.

      Aber ich konnte von meinem Gedanken nicht ablassen. Ich glaubte zu fest an seinen Erfolg. Ich nahm Nelly bei der Hand, und wir gingen hinaus. Es war schon bald drei Uhr nachmittags. Eine dunkle Wolke rückte heran. In der ganzen letzten Zeit war das Wetter heiß und stickig gewesen; aber jetzt ließ sich irgendwo in der Ferne der Donner des ersten Frühlingsgewitters vernehmen. Der Wind fuhr durch die staubigen Straßen.

      Wir setzten uns in eine Droschke. Während der ganzen Fahrt schwieg Nelly und sah mich nur von Zeit zu Zeit mit demselben seltsamen, rätselhaften


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