Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.stark schlug, als ob es hinausspringen wollte.
Siebentes Kapitel
Der Weg erschien mir endlos. Schließlich aber kamen wir doch ans Ziel, und ich trat bei den alten Leuten mit bangem Herzen ein. Ich wußte nicht, wie ich aus ihrem Haus herauskommen würde; aber ich wußte, daß ich alles, was nur irgend in meinen Kräften stand, tun mußte, um Verzeihung und Versöhnung herbeizuführen.
Es war schon drei Uhr durch. Die alten Leute saßen wie gewöhnlich allein. Nikolai Sergejewitsch war sehr niedergeschlagen und krank; er saß, in halb liegender Stellung ausgestreckt, in seinem bequemen Lehnstuhl, blaß und kraftlos, den Kopf mit einem Tuch umbunden. Anna Andrejewna saß neben ihm, befeuchtete ihm von Zeit zu Zeit die Schläfen mit Essig und sah ihm fortwährend mit einem forschenden, schmerzlichen Blick ins Gesicht, was den Alten anscheinend sehr beunruhigte und sogar ärgerte. Er schwieg hartnäckig, und sie wagte nicht, ihn anzureden. Unser plötzliches Kommen überraschte sie beide. Anna Andrejewna bekam einen ordentlichen Schreck, als sie mich und Nelly erblickte, und sah uns im ersten Augenblick so an, als ob sie sich plötzlich irgendwelcher Schuld bewußt würde.
»Da bringe ich Ihnen meine Nelly«, sagte ich beim Eintritt. »Sie hat es sich überlegt und wünscht jetzt selbst, zu Ihnen zu ziehen. Nehmen Sie sie freundlich auf und haben Sie sie lieb!…« Der Alte sah mich mißtrauisch an, und schon seinem Blick konnte ich entnehmen, daß ihm alles bekannt war, nämlich daß Natascha jetzt bereits allein, einsam und verlassen und vielleicht sogar schon Beleidigungen ausgesetzt sei. Es lag ihm sehr daran, den wahren Grund unseres Kommens zu durchschauen, und er sah mich und Nelly fragend an. Nelly zitterte und drückte meine Hand fest mit der ihrigen, schaute zur Erde und warf nur ab und zu wie ein gefangenes Tier einen ängstlichen Blick um sich. Aber Anna Andrejewna sammelte sich bald und erriet den Zusammenhang: sie eilte lebhaft auf Nelly zu, küßte und liebkoste sie, begann sogar zu weinen, wies ihr mit großer Zärtlichkeit einen Platz neben sich an und ließ Nellys Hand nicht aus der ihrigen. Nelly sah sie neugierig und mit einer gewissen Verwunderung von der Seite an.
Aber nachdem die alte Frau Nelly gestreichelt und neben sich gesetzt hatte, wußte sie nicht, was sie nun weiter tun solle, und sah mich mit naiver Erwartung an. Der Alte machte ein finsteres Gesicht und mochte beinah erraten, zu welchem Zweck ich Nelly hergebracht hatte. Als er sah, daß ich seine unzufriedene Miene und seine gerunzelte Stirn bemerkte, führte er seine Hand an den Kopf und sagte kurz zu mir:
»Ich habe Kopfschmerzen, Wanja.«
Wir saßen immer noch da und schwiegen; ich überlegte, wie ich die Sache nun anfangen sollte. Im Zimmer war es dunkel; die schwarze Gewitterwolke rückte höher herauf, und es war von neuem ein fernes Donnerrollen zu hören.
»Für ein Gewitter ist es noch recht früh in diesem Jahr«, sagte der Alte. »Aber ich erinnere mich, im Jahre siebenunddreißig war in unserer Gegend noch früher ein Gewitter.«
Anna Andrejewna seufzte.
»Soll ich nicht den Samowar aufstellen?« fragte sie schüchtern; aber niemand antwortete ihr, und so wandte sie sich wieder an Nelly. »Wie heißt du denn, liebes Kind?« fragte sie sie.
Nelly nannte mit leiser Stimme ihren Namen und ließ den Kopf noch tiefer herabsinken. Der Alte blickte sie unverwandt an.
»Das heißt Jelena, nicht wahr?« fuhr die alte Frau, lebhafter werdend, fort.
»Ja«, antwortete Nelly.
Und wieder folgte ein minuntenlanges Schweigen.
»Deine Schwester Praskowja Andrejewna hatte auch eine Tochter, die Jelena hieß und Nelly genannt wurde«, sagte Nikolai Sergejewitsch. »Ich erinnere mich.« »Und nun hast du, liebes Kind, gar keine Angehörigen mehr, weder Vater noch Mutter?« fragte Anna Andrejewna wieder.
»Nein«, flüsterte Nelly kurz und ängstlich.
»Ich habe es gehört, ich habe es gehört. Ist denn deine liebe Mutter schon lange tot?«
»Nein, noch nicht lange.«
»Du mein liebes Kind, du arme Waise!« fuhr die Alte fort und blickte sie voll Mitleid an.
Nikolai Sergejewitsch trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch.
»Deine liebe Mutter war eine Ausländerin, nicht wahr? So erzähltest du ja wohl, Iwan Petrowitsch?« setzte die alte Frau ihre schüchternen Fragen fort.
Nelly ließ ihre schwarzen Augen eilig zu mir hinlaufen, wie wenn sie mich um Hilfe anriefe. Sie atmete ungleichmäßig und mühsam.
»Ihre Mutter, Anna Andrejewna«, begann ich, »war die Tochter eines Engländers und einer Russin, so daß sie eher eine Russin genannt werden muß; Nelly aber ist im Ausland geboren.«
»Wie ist denn das gekommen, daß ihre Mutter mit ihrem Mann ins Ausland gefahren ist?«
Nelly wurde auf einmal dunkelrot. Die alte Frau merkte sofort, daß sie mit dieser Frage einen Fehler gemacht hatte, und zuckte unter dem zornigen Blick ihres Mannes zusammen. Er sah sie streng an und wandte sich dann von ihr ab zum Fenster.
»Ihre Mutter ist von einem schlechten, gemeinen Menschen betrogen worden«, sagte er, indem er sich plötzlich wieder zu Anna Andrejewna hinwandte. »Sie fuhr mit ihm von ihrem Vater weg und übergab das Geld ihres Vaters ihrem Liebhaber, der es von ihr durch Betrug herausgelockt hatte; dieser brachte sie ins Ausland, bestahl sie und ließ sie im Stich. Ein guter Mensch nahm sich ihrer an und half ihr bis zu seinem Tod. Als er gestorben war, kehrte sie vor zwei Jahren zu ihrem Vater zurück. So hast du ja wohl erzählt, Wanja?« fragte er kurz.
Nelly stand in größter Aufregung von ihrem Platz auf und wollte zur Tür gehen.
»Komm her, Nelly!« sagte der alte Mann und streckte ihr endlich die Hand entgegen. »Setz dich hierher, setz dich neben mich; hierher; setz dich!«
Er beugte sich zu ihr, küßte sie auf die Stirn und streichelte ihr leise den Kopf. Nelly zitterte am ganzen Leib; aber sie beherrschte sich. Anna Andrejewna sah mit Rührung und freudiger Hoffnung, daß ihr Nikolai Sergejewitsch endlich die Waise liebkoste.
»Ich weiß, Nelly, daß ein schlechter, sittenloser Mensch deine Mutter zugrunde gerichtet hat; aber ich weiß auch, daß sie ihren Vater liebte und achtete«, sagte der alte Mann in starker Erregung und fuhr fort, Nellys Kopf zu streicheln; er hatte es sich nicht versagen können, uns in diesem Augenblick diese Herausforderung entgegenzuschleudern.
Eine leichte Röte überzog seine blassen Wangen; aber er bemühte sich, uns nicht anzusehen.
»Mama liebte den Großvater mehr, als der Großvater sie liebte«, sagte Nelly schüchtern, aber in festem Ton, ebenfalls bemüht, niemanden anzublicken. »Woher weißt du denn das?« fragte der Alte scharf; er konnte sich wie ein Kind nicht beherrschen und schien sich selbst seiner Aufwallung sogleich zu schämen.
»Ich weiß es«, erwiderte Nelly kurz. »Er nahm Mama nicht auf und … trieb sie von sich …«
Ich sah, daß Nikolai Sergejewitsch sich anschickte, etwas zu sagen, zu erwidern, vielleicht zu sagen, daß der Alte seine Tochter verdientermaßen nicht aufgenommen habe; aber er sah uns an und schwieg.
»Wo habt ihr denn dann gewohnt, wenn euch der Großvater nicht aufnahm?« fragte Anna Andrejewna, in der auf einmal der eigensinnige Wunsch erwachte, gerade bei diesem Thema zu verbleiben.
»Als wir angekommen waren, suchten wir den Großvater lange«, antwortete Nelly, »aber wir konnten ihn gar nicht finden. Mama sagte mir damals, daß der Großvater früher sehr reich gewesen sei und eine Fabrik habe anlegen wollen, daß er aber nun sehr arm sei, weil der, mit dem Mama weggefahren sei, ihr das ganze Geld des Großvaters weggenommen und nicht wiedergegeben habe. Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Hm!« sagte der Alte zur Erwiderung.
»Und sie sagte mir noch«, fuhr Nelly fort, die immer lebhafter wurde und in Wirklichkeit Nikolai Sergejewitschs Zweifel widerlegen wollte, sich aber äußerlich an Anna Andrejewna wandte, »sie sagte mir, der Großvater sei auf sie sehr zornig, und sie selbst habe sich gegen ihn sehr schwer vergangen, und sie habe jetzt auf der ganzen Welt niemanden als den Großvater. Und wenn sie mir das sagte, weinte