Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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er will.«

      »Nun hast du dich entschlossen?«

      »Nein«, sagte Arnold, »kann ich mich überhaupt jemals entschließen?

      Manchmal scheint es mir, ich könnte ganz gut ein Bauer sein. Dann kommt es mir romantisch und absurd vor. In die Natur gehen? Kann ich mit den Hühnern schlafen gehen und mit ihnen aufstehen? Kann ich einen einzigen Abend das Kaffeehaus entbehren, ein Gespräch mit dir, mit einem andern? Kann ich heiraten, Kinder haben, die das Vieh auf die Weide führen?«

      »Aber in Brasilien müßtest du das alles doch auch!«

      »In Brasilien – ja. Ebenso könnte ich ja in New York auf der Straße Zeitungen verkaufen und hier nicht!«

      »Warum nicht hier?«

      »Weil man mich kennt. Weil das komisch wäre, ich wäre eine lächerliche Figur.«

      Ich versuchte keineswegs, Arnold zu überzeugen. Aber ich verstand nicht, daß er nicht hier Zeitungen verkaufen zu können glaubte. Warum wäre er eine lächerliche Figur geworden? Durch keine Beschäftigung irgendwelcher Art wird man lächerlich, wenn man es nicht schon gewesen ist, wollte ich ihm sagen. Aber ich sagte es ihm nicht. Ich fühlte, daß es überflüssig war. Ich fühlte, daß dieser Mensch wie jeder andere bestimmten Gesetzen gehorchte, wenn er etwas unternahm oder etwas unterließ. In dieser Nacht fühlte ich das Gesetz der Welt. Ich hörte den geschwinden, genauen, unerbittlichen, reibungslosen Gang der Räder, die den Mechanismus des Schicksals ausmachen. Ich dachte, daß der Sohn des alten Zipper einem unbekannten Gebot Untertan war, wie der Alte es gewesen, wie es die Enkel des Alten auch sein würden. Ich stellte mir jenen Abend vor, an dem der Farmer den Zippers jede Hoffnung genommen hatte. Es mußte ein Schweigen entstanden sein, jenem vergleichbar, das dem Bericht des Alten von der Vermietung des Salons gefolgt war. Die Eltern Arnolds mußten überzeugt gewesen sein, daß ihr Leben umsonst war. Der Sohn hätte ihrem Alter Wärme und Licht geben müssen, und er kam zu ihnen eine Suppe essen.

      Am nächsten Tag traf ich den alten Zipper. Er saß in einem Park, eine Zeitung las er mit einer großen Lupe in der Hand, denn die Brille genügte ihm nicht mehr. Wie er so dasaß in seinem schäbigen schwarzen Anzug, der an den Schultern fast so grün war wie das Laub, das ihn umgab, in der Ecke auf der Bank, hätte man ihm ein Almosen geben können, wenn er nicht durch die Zeitung und die Brille eine gewisse Reputation bekommen hätte. Ich setzte mich zu ihm.

      »Nun«, sagte er, »Arnold hat dir sicherlich erzählt, daß mein Bruder nichts von ihm wissen will. Du bist ja sein Jugendfreund, du kennst ihn so gut wie ich, noch besser, möcht ich sagen. Glaubst du, daß er allein nach Brasilien gehen kann? Glaubst du nicht auch, daß er begabt ist – über den Durchschnitt? Wenn dieser Krieg nicht gewesen wäre! Was hätte Arnold nicht alles sein können? Mein Geschäft ging gut« (der alte Zipper hatte vergessen, daß der Krieg weniger an seinen geringen Einnahmen schuld war als er selbst), »ich hätte ihn noch eine Zeitlang ausgehalten. Er soll ein Bauer werden, meint mein Bruder. Mein Arnold – ein Bauer! Warum nicht gleich ein Tischler, wie mein Vater? Ich dachte, es ginge aufwärts mit meiner Familie, nicht abwärts.«

      Und Zipper redete eine halbe Stunde lang ähnliche Sätze. Schließlich erzählte er mir »im Vertrauen« – und er nahm meine Hand und beschwor mich zu schweigen –, daß er selbst für Arnold eine Stelle suche. Alte Verbindungen »grabe er aus«. Arnold aber sollte nicht wissen, daß sein Vater »vorarbeite«. Arnold sollte eines Tages eine »schöne Karriere« vor sich haben.

      Da ging er hin, der alte Zipper. Die Zeitungen ragten ihm aus der Rocktasche, Sonnenkringel spielten auf seinem Rücken, er ging nicht nur gebückt, er wackelte auch vor Schwäche, es war, als zögen ihn schwere Gewichte rechts und links. Er kannte und begrüßte den Gärtner des Parks – eine vornehme Persönlichkeit, eine von jenen Persönlichkeiten, von denen Zipper immer geglaubt hatte, es wäre gut, sich mit ihnen zu vertragen. Ja, er blieb sogar stehen, der Gärtner, der den Rasen umgegraben hatte, kam, auf die Schaufel gestützt, vor das Eisengitter, das die Beete von der Allee abschloß. Zipper sprach mit dem Gärtner. Wahrscheinlich freute sich der Alte, er wußte, daß ich ihn noch sehe, er konnte mir zeigen, daß er ein bekannter Mann war. Ihm allein, von allen Spaziergängern im Park, konnte es gelingen, den Rasen zu betreten. Wahrscheinlich erfüllte diese Macht den alten Zipper mit Stolz, auch jetzt noch, da er für Arnold eine Stelle suchte.

      Er kannte den Hofrat Kronauer vom Finanzministerium. (Wer kannte ihn nicht? Jedem hatte Kronauer schon irgendeinmal geholfen.) Er war einer der ältesten Kunden Zippers. Was ging den Hofrat Kronauer die Revolution an? Einen zweiten Kenner der Gesetze, der Verordnungen, der Einkommen-und Gewerbesteuer, der Abzüge und der Zuschläge gab es nicht. Er blieb im Amt, er wurzelte geradezu drin wie ein alter großer Baum in einem Park. Er spendete Güte, Hilfe, Protektionen. Der alte Zipper war nicht umsonst bei ihm gewesen. Arnold bekam eine Anstellung.

      »In einer Zeit, in der Beamte, die schon zehn Jahre gedient haben, auf die Straße gesetzt werden, bekommt Arnold einen Posten«, sagte der alte Zipper. »Auch eine Republik kann ohne wirkliche Tätigkeit nicht regiert werden. Der beste Beweis dafür ist Arnolds Fall.«

      »Das ist sehr gemütlich!« sagte der Farmer. Am nächsten Tag reiste er ab.

      Man sprach selten von ihm im Hause Zipper. Er hatte sich blamiert. Er hatte Arnold abgelehnt! Ein Genie wie Arnold nicht nach Brasilien mitzunehmen – dazu gehörte schon die enorme Ungebildetheit dieses Farmers.

      »Im Grunde«, sagte der alte Zipper einmal von seinem Bruder, »hat er niemals Zeit gehabt, etwas zu lernen, noch auch nur nachzudenken.« Und man ging über den Farmer zur Tagesordnung über.

      Die Tagesordnung bestand darin, daß man Arnold lobte. Zipper schien ganz vergessen zu haben, daß er selbst es gewesen war, der Arnold eine Stellung verschafft hatte. Man tat so in der Familie, als hätte der Sohn einen großartigen Ruf erhalten, die Finanzen des Landes zu ordnen.

      Einen Monat später trat Arnold in das Amt ein.

      Er war ein kleiner Beamter mit einem geringen Gehalt. Der Vater aber sah in ihm schon einen Finanzminister. Arnold hatte nichts von dem Optimismus seines Vaters.

      »Wie soll ein Mensch, der im Krieg war, vorher nicht Beamter gewesen ist, jetzt acht Stunden täglich an einem Schreibtisch sitzen?« fragte er. »Ich sitze in einem Zimmer im vierten Stock, mit noch zwei Männern; beide sind so alt wie mein Vater. Du ahnst nicht, wie sie mich hassen! An einem der letzten Tage bin ich mit meinem neuen, hellgrauen Anzug ins Büro gekommen. Der eine, Herr Kranich, ist sofort in alle Büros gelaufen und hat erzählt, daß hier ein junger Mann mit einem hellen Anzug in den Dienst gekommen ist. Sooft ich hinausging, standen im Korridor einige Beamte, tuschelten miteinander und sahen mich an. Andere machten wie zufällig die Türen ihrer Kontore auf, schauten hinaus und machten wieder zu. Endlich ließ mich der Kronauer rufen und sagte mir, ich möchte mit Rücksicht auf die schlechte Lage der Beamten, die Familienväter seien, nicht neue Anzüge im Amt tragen. Er selbst trage auch seine alten. Außerdem möchte ich doch die vorgeschriebene Uniform anziehen.

      Du kannst dir kaum vorstellen, wie mir vor dieser Uniform graut. Schon wieder eine! Soeben habe ich sie abgelegt! Ich habe versucht, meinen Tisch etwas näher an das Fenster zu rücken. Man sieht zwar nichts, es geht in einen Hof, hat Gitter vor den Scheiben, auf der anderen Seite sind auch Büros, der Hof ist langweilig sauber, es ist streng verboten, Papierschnitzel, Asche, Zigaretten hinunterzuwerfen. Aber der Tisch des andern Beamten, der in der Nähe des zweiten Fensters sitzt, muß in gerader Linie mit meinem stehen. Ich war fünf Minuten draußen. Als ich zurückkam, stand mein Schreibtisch wieder dort, wo er vorher gestanden war. Die beiden Alten haben ihn zurückgeschoben.

      Sie haben Seife, Nagelbürste und Handtücher im Schrank. Sie waschen sich die Hände, bevor sie weggehen. Ich kann mir dort nicht die Hände waschen. Ich bin froh, wenn ich fort bin, ich gehe mit schmutzigen Händen nach Hause. Infolgedessen kann ich das Amt früher verlassen als die beiden. Ich sage ›Guten Abend!‹ – sie antworten nicht. Ich gehe weg. Von der Stiege ruft einer: ›Herr Zipper!‹ – Was ist los? – Ich soll den Schlüssel morgen früh nicht beim Portier, sondern auf Zimmer 25 im zweiten Stock abholen, wenn ich zufällig früher kommen sollte. Der Dienst beginnt um neun Uhr. Ich komme


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