Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот
Читать онлайн книгу.habe dienstlich nichts mit ihnen zu tun. Sie sind nicht meine Vorgesetzten. Aber wenn ich mit einem Schriftstück fertig bin, kommt immer einer von den beiden zu meinem Schreibtisch und sagt: ›Sehr schön, Herr Zipper.‹ Sie wagen nicht, mich zu tadeln, aber sie haben eine tückische Methode gefunden: sie demütigen mich durch Lob. Manchmal beginnen sie ein allgemeines Gespräch über die Jugend von heute. Jeder junge Mann glaube, weil er im Krieg gewesen sei, er sei klüger als die Alten. Einmal konnte ich mich nicht enthalten, ihnen zu sagen: ›Ihr habt uns ja selbst in den Krieg geschickt!‹ Und ich dachte dabei an meinen Vater. Erinnerst du dich, wie er eines Tages in der Uniform vor der Einjährigenschule stand? Übrigens, mein Vater: ich kann gar nicht mehr zu Hause essen. Er hat tausend Fragen. Immer will er wissen, ob man mit mir zufrieden ist. Ich muß ihm ganz genau von meiner täglichen Arbeit berichten. Er bildet sich ein, ich verfaßte Steuergesetze. Ich aber, weißt du, was ich mache? Additionen und Divisionen und Multiplikationen mit Dezimalbrüchen.
Es ist nicht zum Aushalten! Ich möchte etwas anderes suchen. Aber wenn ich mit dieser Arbeit fertig bin, möchte ich so schnell wie möglich zu Hause sein. Es geht eine Straßenbahn um sechs Uhr zwölf und die nächste um sechs Uhr zwanzig. Oft kommt es vor, daß mir einer der beiden Alten noch etwas Gleichgültiges ganz langsam sagt – wenn ich unten bin, muß ich acht Minuten auf die Bahn warten. Diese acht Minuten sind länger als der ganze Tag.
Ich will die Straße nicht sehen, solange noch der Tag nicht ganz vorbei ist. Ich gehe nach Hause, ziehe mir das Neueste an, die besten Schuhe, das beste Hemd, dann spiele ich etwas, nur ein paar Melodien, die mir so im Gedächtnis geblieben sind, dann ist endlich der Abend da. Er kommt, während ich spiele, es scheint mir, daß ich ihn herbeirufe. Ich pfeife auf die ganze Erziehung, ich bin meinem Vater nur für das eine dankbar, daß er mir zur Musik verholfen hat.
Am Abend kann ich auf die Straße. Ich schäme mich, solange noch ein Stückchen Tag ist. Denn diesen Tag habe ich mit dem Amt angefangen, er ist verdorben, schmutzig, ich kann nichts mit ihm machen. Außerdem bin ich müde, wie nach einem Rückzug, nach einem Marsch von drei Tagen. Ich habe einen Hunger den ganzen Tag, als lebte ich in frischer Luft. Es ist der Hunger, der die Erschöpfung begleitet. Menschen im hohen Greisenalter, die den ganzen Tag im Bett liegen, haben auch so einen Hunger.
Schließlich könnte man sich abfinden mit jeder Tätigkeit, auch wenn sie sinnlos wäre. Das Militär war auch sinnlos. Aber man sah einen Vorgesetzten, er ersetzte den Sinn. Man wurde bestraft, belohnt, jeden Tag und jede Stunde. Man hatte einen Befehl, er ersetzte das Ziel. Im Amt aber siehst du nicht, wohin der Akt kommt, wozu er gemacht wird, für wen. Manchmal, ich muß es dir gestehen, packt mich irgendein dummer Ehrgeiz. Ich fange an, besonders schöne Buchstaben zu malen und vollendete Zahlen, ich schreibe an einem Akt eine halbe Stunde, ich könnte ihn in fünf Minuten fertig haben. Verstehst du das?«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Ich glaube, der Krieg hat uns verdorben. Gestehen wir, daß wir zu Unrecht zurückgekommen sind. Wir wissen so viel wie die Toten, wir müssen uns aber dumm stellen, weil wir zufällig am Leben geblieben sind. Diese Straße und dieses Amt, die Steuern und die Post und der Tanz und das Theater und die Krankheit, das Elternhaus und alles andere – alles kommt uns so lächerlich vor. Wir können vielleicht nur noch zwei Sachen, die uns beweisen, daß wir lebendig sind. Wir können gehorchen und befehlen. Aber lieber gehorchen als befehlen. Wir haben es als eine Art Gesellschaftsspiel getrieben. Denn da wir dem Tod geweiht waren, waren die militärischen Vorbereitungen für den Tod ja nur ein Spiel. Wir waren ebenso darüber hinaus, wie ernste Männer, die sich in der Eisenbahn die Zeit vertreiben wollen, über die Dominosteine erhaben sind, mit denen sie spielen. Aber es hat uns interessiert, das heißt, es hat uns abgelenkt. Heute denke ich, daß diese Welt, diese militärische Welt, die allerdings nur für Todgeweihte gut ist, eine sauber eingerichtete, bequeme Welt war. Sie ersparte uns das Leben, das Mühe bringt, Sorgen, das aus Plänen, Gedanken, Hoffnungen, Zusammenbrüchen besteht. Beim Militär gab es keine Hoffnung, keinen Plan, keine Gedanken. Um zwei Uhr dreißig mußt du zum Rapport erscheinen. Du weißt ganz genau, wie der Oberst aussieht, was er sagt, was er befiehlt, womit er dich straft. Es steht im Dienstreglement. Hat den Oberst der Schlag getroffen oder die Kugel, so steht dort der Major. Wenn er nicht da ist, der Hauptmann. Wenn niemand da ist, hast du dir selbst alles zu sagen, hast du alles zu tun, was für deinen Fall zutrifft. Wie herrlich ist diese Welt eingerichtet. Es gibt keinen Zweifel, keine Ungewißheit, kein Gewissen, keine Sorge. Gibt es kein Brot, so hungerst du. Fünfundzwanzig Zigaretten hast du im Tag. Um sechs Uhr früh wird marschiert. Um halb fünf Uhr weckt man dich. Um fünf Uhr bekommst du schwarzen Kaffee.«
»Hör auf!« rief Zipper. »Man könnte glauben, du rätst mir, wieder einzurücken. Es ist zu spät. Es gibt keinen Krieg mehr vorläufig.«
»Ich rate dir«, sagte ich, »eine Frau zu nehmen.«
»Soll ich mich verlieben?«
»Vielleicht sogar: dich verlieben. Auf jeden Fall hilft dir eine Frau. Sie hilft dir zu der Täuschung, daß du noch etwas in dieser Welt zu suchen hast. Sie will Kleider und Schuhe, eine Wohnung und Essen und manchmal ein Kind. Wenn du für etwas zu sorgen hast, bildest du dir leichter ein, du hättest auch für etwas zu leben.«
»Ich war ein einziges Mal verliebt«, sagte Arnold. »Wirklich verliebt. Kanntest du Erna Wilder? Sie war meine Nachbarin. Als Kinder trafen wir uns in der Früh, wenn wir zur Schule gingen, und wenn wir heimkamen. Ihre und meine Eltern hatten einmal eine Ferienreise gemacht. Wir waren in einem schlesischen Bad, wir bewohnten die gleiche Villa. Unsere Väter waren Geschäftsfreunde. Wilder ging es nicht glänzend, aber immerhin ging es ihm besser als meinem Vater. In jenem Bad konnten wir nur zwei Wochen bleiben, die Wilders blieben länger. Aber in der Erinnerung kommen mir diese zwei Wochen wie sechs vor – so viel habe ich dort erlebt. Ich war fünfzehn Jahre alt, sie war dreizehn, glaube ich. Den ganzen Tag spielten wir zusammen, da waren wir fast im gleichen Alter. Es gab einen Berg, man nannte ihn ›Gloriette‹. Ein Serpentinenweg führte hinauf. Unterwegs standen Bänke, Liebespärchen saßen dort. Bei Tag sahen wir sie nicht oder sahen an ihnen vorbei. Wir hatten Wichtigeres zu tun. Hirschkäfer zu suchen, Eicheln zu sammeln, Schmetterlinge zu fangen. Wenn es aber dämmerte, verwandelte sich Erna. Gingen wir an einem Liebespaar vorbei, so drängte sie sich einen Augenblick an mich, lief dann weg, wartete, bis ich sie erreicht hatte, und lachte leise. Es war dunkel, ich wußte nicht mehr, wie sie aussah, wenn sie zu lachen anfing. Es schien mir, daß sie sich in eine fremde Frau verwandelt hatte, es war nicht ihre Stimme, sie lachte nicht so, wie sie bei Tag zu lachen pflegte. Dann wollte ich sie fassen, um zu fühlen, daß sie es noch ist, die dort im Finstern lacht. Ich greife geradeaus und fühle ihre Brust, bin erschrocken, ziehe die Hand zurück, da läuft sie davon.
Am nächsten Morgen treffen wir uns im Park, und es ist so, als ob gestern die Nacht gar nicht gewesen wäre. Wir suchen wieder Hirschkäfer.
Einmal sah ich, wie ein älterer Herr auf der Kurpromenade sie anschaut. Dann will sie wieder zurück, obwohl wir auf dem Weg zur Wiese waren. Sie sagt, sie möchte ein Konzertprogramm sehen. Vor dem Pavillon, wo die Musik spielt, steht der Herr, und Erna lacht. Er kneift ein Auge zu, sie wird rot. Ich glaube, daß ich mich in diesem Augenblick verliebt habe. Ich kann nicht mehr so mit Erna spielen. Ich versuchte immer, mit ihr in der Dunkelheit auf die ›Gloriette‹ zu gehen, ich brenne danach, noch einmal ihre Brust zu berühren. Aber es gelingt nie mehr wieder.
Einmal war Fest im Kursalon. Ich stand da und sah, wie sie mit Offizieren tanzte. Am nächsten Tag wurde sie von vielen Herren gegrüßt. Sie war auch schon verändert. Sie hüpfte nicht mehr über die Straße wie gestern noch, sie ging wie eine Dame. Kam sie an einen Bach, in den sie früher oft mit den Schuhen gestiegen war, so blieb sie einen Moment stehen, ehe sie sich entschloß, ihm auszuweichen, die schmalste Stelle zu suchen. Dann mußte ich zuerst hinüber und ihr die Hand reichen. Ich liebte sie, ich hatte schlaflose Nächte. Dann fuhren wir weg. Ich war eifersüchtig, gekränkt, gedemütigt, ich haßte meine Eltern, weil sie kein Geld hatten. Ich träumte mir banale Geschichten zurecht. Ein Waisenhaus brennt, ich rette alle Kinder, mein Name steht in der Zeitung, sie kommt zu mir und bittet mich um Verzeihung und sagt: ›Du kannst meine Brust berühren, wenn du willst.‹
Dann, nach den Ferien, sah ich sie wieder. Wir sprachen aber nicht mehr miteinander, obwohl ich ihr