Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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schwarzgelbe Kreuz, das silberne und ein Edelweiß am Hut. Einer der Wohltätigkeitsvereine, denen er angehörte, veranstaltete eine Sammlung alter Kleider und warmer Wollsachen für unsere Krieger zu Weihnachten. Zipper selbst begleitete den Wagen, einen großen Trainwagen. Vor jedem Haus hielt er, ging mit einer Glocke in den Flur und nahm die Geschenke entgegen. Er fuhr eine Woche lang herum, die ganze sogenannte Warme-Woll-Woche. Jeden Abend kam er spät nach Hause. Sein Papier-Kommissionsgeschäft begann langsam einzuschlafen. Nur von einem patriotischen Verein, der unter dem Protektorat der Gräfin Windischgrätz stand, bekam er jeden Monat einen Auftrag, Drucksorten zu beschaffen. Auch im militärgeographischen Institut war man auf Zipper aufmerksam geworden. Eine Zeitlang schien es, als würde er bei der Papierlieferung für das Werk »Unsere Helden im Winter« etwas verdienen. Da kam ein anderer und machte das Geschäft.

      Nein! Zipper verdiente immer weniger. Im Jahre 1915 gab er endlich zu, daß der Salon vermietet würde – und zwar nur an eine Militärperson. Es war der superarbitrierte Oberleutnant Mauthner vom Kriegsministerium. Dieser Offizier, in Zivil Antiquitätenhändler, kümmerte sich überhaupt nicht um den Krieg. Er leitete im Kriegsministerium das Büro, das die Eintrittskarten für die Besucher ausstellte. Am Abend zog der Oberleutnant seine Zivilkleider an und ging ins Kaffeehaus, wo er Geschäftsfreunde traf. Mit der Zeit stellte es sich heraus, daß Zippers Salon dem Oberleutnant nur als Absteigquartier diente. Der Herr Mauthner wohnte mit Frau und Kindern in sechs Zimmern außerhalb der Stadt. In Zippers Salon quartierte er das Fräulein Minna vom Rathauscafé ein. Er zahlte aber gut und war schließlich ein Oberleutnant.

      Endlich kamen Arnold und ich zum Militär. Einen Monat später war auch Cäsar in Uniform. Arnold konnte, sollte und mußte Offizier werden. Also kümmerte sich der alte Zipper um seinen Sohn Cäsar überhaupt nicht. Cäsar wohnte in der Kaserne, kam nur einmal nach Haus, einen Tag, bevor seine Marschkompanie ins Feld ging. Er betrank sich, lag achtzehn Stunden auf dem Sofa und schrie aus dem Schlaf. »Ein schöner Held, ihr Sohn!« sagte der alte Zipper. Am Abend holte uns der alte Zipper von der Einjährigenschule ab. Er trank ein Glas Bier mit unserm Feldwebel. Eines Tages, es war ein nebliger Novemberabend, das Licht der kriegsmäßig reduzierten Laternen sah aus wie in Watte verpackt, standen wir fünf Minuten vor der Schule und warteten auf den alten Zipper. Er kam nicht. Plötzlich tauchte vor uns ein Feldwebel auf, ein kleiner Feldwebel. Wir salutierten. Da lachte der Feldwebel. Es war der alte Zipper. Er hatte sich freiwillig gemeldet.

      Oh, wie schön sah er aus! Er trug eine Extrauniform, seine Goldborten glänzten, sein teefarbener Schifferbart war verschwunden, nur sein kleiner, grauer Schnurrbart, auch er stark reduziert, war übriggeblieben. In der prallen Uniform sah man deutlich, daß der alte Zipper einen Bauch hatte und daß er sich in den Hüften wiegte, wenn er ging, und daß er mit den Füßen stark nach auswärts trat.

      Er ließ uns ein paarmal auf der Straße salutieren. Wir gingen mit ihm in ein Wirtshaus, und er erzählte alte Geschichten von seinem Regiment. Jetzt war er im Landsturm, und weil er etwas Tschechisch verstand, kam er nach einigen Tagen in die russische Zensurabteilung. Er sollte die Briefe an russische Kriegsgefangene prüfen. Er konnte sie aber nicht lesen. Er fing an, Russisch zu lernen. Indessen häuften sich auf seinem Tisch die Briefe. Er verteilte sie unter seinen Untergebenen und lernte fleißig Russisch.

      Er ließ sich photographieren: am Schreibtisch, die Briefe, die er nicht lesen konnte, in zwanzig sortierten Päckchen vor sich; mit Mütze, Überschwung und Säbel; mit Arnold, dem Einjährigen; mit Arnold und mir; mit Arnold zu Hause; mit Arnold auf der Straße. Alle Bilder hingen im Salon.

      Dann gingen wir ins Feld, er begleitete uns zur Bahn. Er begann zu winken, bevor der Zug abging. Der Zug stand nämlich noch nicht auf dem richtigen Geleise. Man verschob ihn oft. Immer, wenn ich dachte, jetzt wäre der alte Zipper schon zu Hause, erschien er wieder. Weil er ein Feldwebel war, konnte er bis in die fernsten Güterbahnhöfe vordringen, während alle andern den ersten Bahnsteig schon verlassen mußten. So froh wie damals, als wir in den Tod gingen, hatte ich den alten Zipper noch nie gesehen. Als unser Zug schon endgültig abrollte; erschien er noch einmal, lief neben dem Waggon her, ein Zeitungsblatt in der Hand, und rief uns nach:

      »Sieg bei Lublin!«

      Wir sahen uns an, Arnold und ich, und begannen, eine Wurst zu essen.

      Zwei Monate später verlor Cäsar sein linkes Bein.

      Der alte Zipper teilte diese Begebenheit Arnold mit: »Er bekommt eine tadellose Prothese!« schrieb der alte Zipper. Und die Mutter schrieb nur eine einzige Zeile dazu. Man sah, wie ihre Hand gezittert hatte. Ich erinnere mich deutlich an ihre Schrift. Die Buchstaben lagen wie Bündel dünner Drähte über-und nebeneinander. »Bleibe ganz und gesund!« schrieb die Frau Zipper.

      Arnold aber bekam einen Steckschuß und Urlaub und die Leutnantscharge. Was gab es Schöneres für den alten Zipper. Er ließ sich photographieren als Feldwebel, der Sohn als Leutnant daneben. Arnold schickte mir die Photographie. Da stand der alte Zipper, hielt seine Hand auf der Schulter des Leutnants und blickte starr geradeaus. Immerhin war er älter geworden. Seine Wangen hingen schlaff an den Gesichtsknochen, und auf der Hand, die des Sohnes Schulter hielt, sah man Krampfadern. Arnold schrieb, es ginge jetzt nicht mehr so schlecht. Die Mutter beziehe Geld für alle drei eingerückten Männer. Cäsar würde jetzt versorgt werden, weil er ja ein Bein verloren habe.

      Ein wenig später bekam ich Urlaub. Da sah ich, wie die Frau Zipper um Mitternacht mit einem Schemel und einem halbgestrickten Strumpf, mit Brille und Topf und Markttasche vor den Laden ging, um am Morgen Fleisch und Milch zu holen. Immer noch sprach Zipper zu seiner Frau in der dritten Person. Dennoch stand er um drei Uhr morgens auf, um seine Frau abzulösen. Cäsar hätte als Invalider, ohne zu warten, alle Nahrungsmittel bekommen können. Aber er kam nur einmal in der Woche aus dem Spital nach Hause, am Samstagnachmittag, humpelte zur Lade in der Kommode, wo die Mutter ihre Geldbörse verbarg, leerte sie und begab sich ins Wirtshaus.

      Er war finster geworden, seine kurze Stirn schien noch kürzer zu sein, sie bestand nur noch aus einem kleinen Stückchen tausendfach zerknitterter Haut. Immer hing ein trauriges, dumpfes Lächeln in seinen Mundwinkeln, es war wie das Abzeichen eines selbstgefälligen Stumpfsinns, wie der Anfang eines Fluches und wie der Beginn einer Verwandlung aus dem Menschen zum Tier.

      Er bekam eine Prothese, die nicht paßte, er warf sie weg. Er zerbrach eine Krücke nach der andern. Wenn die Mutter ihn im Spital besuchte, versteckte er sich im Klosett. Man schickte ihn ins Irrenhaus. Er bekam einen Wutanfall, wurde in die Tobsuchtszelle gesperrt, weinte, wurde sanft, sprach nichts mehr. Er begann Zeitungspapier zu essen. Die Irrenhäuser füllten sich, man konnte ihn nicht mehr behalten, man schlug den Zippers vor, ihn nach Hause zu nehmen.

      Jetzt schien er endgültig verblödet zu sein. Er saß in einem samtenen, roten Stuhl, den man aus dem Salon geholt hatte, und aß die Kriegsberichte, die der alte Zipper gelesen hatte.

      Einmal aber erwischte er eine Zeitung, die der Vater erst am Nachmittag lesen sollte. Der alte Zipper versuchte, seinem Sohn das Blatt wegzunehmen. Da verlor Cäsar seine Sanftmut. Er sprang auf, fiel nieder, erhob sich, verwüstete mit seinem Stock alle Möbel, das Geschirr, die Spiegel. Man holte Sanitäter, Cäsar verfiel in Delirium und starb einige Tage später.

      In der einen Stunde, in der Cäsar wütend und die Frau Zipper in Ohnmacht gefallen war, färbten sich die Haare Zippers weiß. Er begrub seinen Sohn und war plötzlich ein alter Mann. Er sprach zu seiner Frau wieder, er sagte ihr wieder du. Die Briefe, die er Arnold ins Feld schickte, klangen wie zerbrochene Glocken. Seine Schrift war immer noch flott, seine Buchstaben waren immer noch rund und groß, seine Unterschrift lag immer noch eingewickelt in ihrem alten Ornament, das einer großen Schleife ähnlich sah oder einem Schmetterling. Die Wendungen, mit denen er seine Briefe einleitete und schloß, waren immer noch die alten. Jeder Brief begann mit der Anrede: »Mein innig geliebter Sohn!« – jeder schloß mit den Worten: »Ohne sonstige Wichtigkeiten Dein Dich liebender Vater.« Aber in den Briefen war die Rede von der Bitterkeit der Zeit. Sie strömten einen trostlosen, unerbittlichen Nebel aus. Er stieg aus ihnen auf wie aus herbstlichen Feldern. Die Briefe rochen schlimmer als der Tod. Sie waren wie das Leben der Lebendigen im Krieg.

      Man hatte dem alten Zipper ein Verdienstkreuz gegeben. Er bat um die Erlaubnis, außerhalb


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