Gesammelte Werke von Joseph Roth. Йозеф Рот

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Gesammelte Werke von Joseph Roth - Йозеф Рот


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hatte er zu spielen angefangen, eines schönen Tages, »von einem Geist gesegnet«. Er spielte in der folgenden Zeit »alles, was er hörte«. Er spielte »Menuetts und Walzer«. Er ging zu »allen neuen Operetten«, er spielte am nächsten Tag ihre Schlager – »nach dem Gehör«. Heute konnte er nur noch ein Stück spielen, nämlich: »Weißt du, Mutterl« – ein Lied, das den alten Zipper gar nicht traurig machte und mich zum Weinen rührte. Im Gegenteil: je verzückter, melancholischer und jenseitiger Zippers Gesicht wurde, desto lustiger war seine Seele. Er dehnte die Töne ins Unermeßliche, er zog sie wie Gummi, seine Geige wehklagte, jammerte, heulte, ob es nötig war oder nicht, und wo es ihm gerade gefiel, schaltete er ein Tremolo ein. Es wurde mir kalt im Rücken, Zippers Vater aber verriet seine fröhliche Laune durch die muntere Art, in der er mit dem Fuß den Takt schlug, durch die zufriedenen Pausen, die er einschaltete, wo sie nicht vorgeschrieben waren, und in denen er einen selbstgefälligen Blick um sich warf wie ein Künstler, der irgendein fernes, nur ihm selbst vernehmbares Bravoklatschen hört.

      Auf jeden Fall war es die Musik, die der alte Zipper am meisten von allen Künsten, ja, von allen geistigen Erscheinungen und Formen des Lebens verehrte. Sie ersetzte ihm den Glauben an Gott, den er leugnete. Sie ersetzte ihm vielleicht die Liebe, die er nicht genoß, das Glück, das ihn floh. Kein Wunder, daß er gewünscht hatte, wenigstens aus einem seiner Söhne einen Musiker zu machen. Mit einer gewissen Hoffnung hatte er wahrgenommen, daß Cäsar unwillig und schwer lernte und eine Abneigung vor Büchern bewies, also einen »schlechten Kopf« hatte. Aha, dachte der alte Zipper, das wird ein Musiker! Cäsar Zipper war ein Name, wie geschaffen für einen Künstler. Cäsar ein Virtuose, Arnold ein Gelehrter! Aber es erwies sich, daß Cäsar auch in der Musik keine Fortschritte machte, daß er nach drei Jahren eines kostspieligen Studiums bei den besten Lehrern der Stadt noch immer die Tonleiter kratzte. »Nicht einmal einen Walzer kann er!« klagte der alte Zipper. »Wenn schon kein Künstler aus ihm wird, man kann es ja nicht von jedem verlangen, so soll er wenigstens in Gesellschaft spielen können, wenn man gerade tanzen will. Ein junger Mann muß sich angenehm und beliebt machen können!« Cäsar aber machte sich keineswegs beliebt.

      Eines Tages kehrte der alte Zipper von seinem täglichen Vormittagsspaziergang um eine Stunde früher heim als gewöhnlich. Was war geschehen? Es war einer der heitersten Frühlingstage, Ostern nahte heran, man erwartete den Bruder aus Brasilien, und die ganze Wohnung Zippers befand sich in jener freudigen Erregung, die unvorhergesehene Geldausgaben, eine Wäscherin im Haus und die Erwartung eines Fremden verursachen. Die Sonne schien, und die Spatzen lärmten. Der alte Zipper aber durchmaß mit festen Schritten und den Kopf gesenkt ein Zimmer nach dem anderen. Was war geschehen?

      Er hatte unterwegs den Musikprofessor Cäsars getroffen. Er hatte erfahren, daß sein »elender Sohn« seit Monaten nicht mehr »zur Lektion« erschienen war; daß er wahrscheinlich das Honorar, das man ihm jeden Monat für den Lehrer mitgab, verschwendet hatte. Als Cäsar ahnungslos heimkam, nahm ihm der Vater die Geige ab, erhob sie und zertrümmerte sie auf dem widerstandsfähigen Schädel seines Sohnes, ohne ein Wort zu sagen.

      Die Reste der Geige sammelte der alte Zipper sorgfältig vom Boden auf, umschnürte sie mit einem kräftigen Bindfaden und legte sie in einen Sack.

      »Bis zu meinem Tode!« schwur der alte Zipper, »werde ich diese zerbrochene Geige bewahren.« Sie lag in der feuerfesten Kasse von Eisner und Co. neben der Versicherungspolice und dem Trauungsschein.

      III

       Inhaltsverzeichnis

      Wenn ich heute an den alten Zipper zurückdenke, so wundere ich mich darüber, daß ich damals seine große Trauer nicht bemerkt habe. Ihm selbst kam sie nie zum Bewußtsein. Er hatte etwas von einem traurigen Clown. Aber ich fand ihn lustig, wie Kinder einen Clown immer lustig finden. Der alte Zipper mit seinem dünnen, hellen, teefarbenen Schifferbart, der sein breites, rundes Gesicht einfaßte und gleichsam ein überflüssiger Luxus war, wie ein Rahmen um ein gleichgültiges Bild, der alte Zipper mit seinen braunen, gutmütigen, immer todernsten Augen, der alte Zipper mit seinem ewigen runden steifen Hut, den er aufsetzte, wenn er zum offenen Fenster ging, wenn er sich nur einen Schritt vom Haus entfernte, um eine Zeitung zu kaufen, der alte Zipper mit seinem schwarzen Stock aus »echtem Mahagoni«, dieser alte Zipper verbreitet heute, sooft ich ihn in meine Erinnerung zurückrufe, eine große Schwermut. Er macht mich traurig, jetzt, in diesen Stunden, da ich von ihm erzähle. Er hatte viel Kummer in seinem Leben und wahrscheinlich keinen Schmerz. Aber eben deshalb ist er so traurig, traurig wie ein aufgeräumtes Zimmer, traurig wie eine Sonnenuhr im Schatten, traurig wie ein ausrangierter Waggon auf einem rostigen Gleis.

      Es gab dennoch einen Menschen, dem er, der Sanfte, der Harmlose, großes Leid zufügte, sicherlich ohne es zu wissen. Es gab nämlich noch Frau Zipper.

      Sie paßten nicht zueinander, nein, sie paßten nicht zueinander. Aber, wie es so ist, man dachte niemals daran, daß sie zueinander nicht paßten. Es geht uns gewöhnlich so, wenn wir ältere Ehepaare betrachten. Sie stellen ein Fait accompli dar, es ist nicht mehr an ihrer Gemeinsamkeit zu zweifeln. Sie haben schon Kinder, große Kinder. Nichts mehr ist übriggeblieben von den Widerständen, die sie in der ersten Zeit ihrer Ehe gegeneinander zu Felde geführt haben wie Waffen. Beide haben ihre Schärfen abgewetzt, ihre Munition verbraucht. Sie sind zwei alte Feinde, die aus Mangel an Kampfmitteln einen Waffenstillstand schließen, der aussieht wie ein Bündnis. Und man weiß nichts mehr von ihrer alten Feindschaft.

      Aber in den Augenblicken, die wir fremde Beobachter nicht kennen, gebrauchen sie noch gegeneinander die übriggebliebenen Reste der Waffen, oder sie verwenden andere Geräte, Geräte des Friedens, zum häuslichen Kampf. Sie haben noch aus der Zeit, als ihre Feindschaft jung gewesen, verschiedene Mittel des Hasses, die sich nicht abnützen: ein Lächeln, das gerade dort einsetzt, wenn es den andern schmerzt; ein Wort, das an eine längstvergangene wüste Szene erinnert und das, wieder hervorgeholt, vernarbte Wunden aufreißt; eine Art, einander anzuschauen, die beide erstarren läßt; plötzliche Bewegungen, die ihre umnebelte, eingeschlafene Feindschaft jäh erwecken, wie abgeschossene Raketen eine dunkle Situation im Krieg erhellen und seine ganze Schrecklichkeit.

      So war es mit dem Ehepaar Zipper. Das Angesicht der Frau Zipper wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es lag hinter einem feuchten Schleier. Es war, als lägen ihre Tränen, immer bereit, vergossen zu werden, schon über ihrem Augapfel. Sie trug lange blaue Schürzen, die sie einer Krankenschwester zweiter Klasse ähnlich machten. Auf sanften Pantoffeln ging sie durchs Leben. Niemals sprach sie mit lauter Stimme. Oft seufzte sie und schneuzte sich. Wenn sie ihr Taschentuch vors Gesicht führte, sah man ihre Hände, trockene harte Hände, an denen die Finger unverhältnismäßig stark waren, wie künstlich angesetzt an eine viel zu schwache Hand. Zog sie manchmal, an Festtagen, ihr schwarzes Flitterkleid an, so sah sie noch gelber aus als gewöhnlich, sie hatte etwas Erfrorenes, als hätte man sie aus einem Eiskasten genommen. Steif – nicht vor Stolz, sondern vor Ergebenheit, Ohnmacht, Unglück und Trauer –, steif saß sie in einem Sessel. Ihr schütteres farbloses Haar hatte sie in die weite hohe Stirn hineingekämmt, es war eine Art erzwungener Verschönerung, eine Maßnahme gegen den Willen der Frau Zipper, als hätte man sie frisiert, während sie in einer tiefen Ohnmacht lag, und als hätte sie nicht einen Moment lang in den Spiegel gesehen. Nur der Mund der Frau Zipper, der heute eingefallen war und verbissen aussah, verriet, wenn sie ihn zu einem seltenen Lächeln öffnete, einen längst erstorbenen Reiz, eine verschwundene, schöne, runde Fülle, und im Kinn erschien noch für den Bruchteil einer Sekunde ein sanftes Grübchen – nein! kein Grübchen mehr! – sondern eine Erinnerung an ein Grübchen. Ihr Lächeln, ihr seltenes Lächeln, war wie eine sanfte, verstohlene Totenfeier für ihre Jugend. In ihren blassen feuchten Augen entzündete sich ein schwaches fernes Licht, das schnell wieder erlosch, wie das Blinkfeuer eines sehr weiten Leuchtturmes.

      Niemals lächelte sie in Anwesenheit ihres Mannes. Niemals beteiligte sie sich an seinen kleinen Späßen, niemals ging sie auf ein Gespräch ein, das er manchmal anzuknüpfen versuchte. Auf seine Fragen antwortete sie mit ja oder nein. Wie mußte sie ihn hassen, verachten vielleicht! Er mochte ihren Haß hinter ihrer Stille fühlen, wie man glattes, scharfes Eis unter der Schneedecke


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